Mallingers Abschied
Wissenschaftlich fundiert veranschaulicht Sven Hartbergers neuer Roman die Entfremdung der Arbeit. Ein Therapeut als Erzähler dokumentiert die psychischen Leiden seiner Klienten in einem Produktionsapparat, der auf pure Gewinnmaximierung ausgerichtet ist.
Wie lassen sich „Arbeitszeit und Gemeinwohl“ miteinander vereinbaren? Wären in einer Welt steigender Produktivität – auch angesichts des Vormarschs der KI – nicht umfassende Arbeitszeitverkürzungen möglich? Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen wird angesichts einer sich rasch wandelnden Arbeitswelt mit neuen Formen der Ausbeutung und sozialer Kontrolle dringender. Der Österreicher Sven Hartberger beweist, dass das auch gelingen kann, wenn man Belletristik und Fachliteratur verbindet, also einen Roman mit wirtschaftswissenschaftlichen Quellen füttert.
Mit „Mallingers Abschied oder Vom Sinn und vom Unsinn der Arbeit“ gelingt es Hartberger, in der Erzählung über den Tod des Ökonomen Dr. Mallinger die Modelle der konkurrierenden Ökonomielehren aus Keynesianismus, Neoklassik und Neoliberalismus perfekt einzubinden. Man wird konfrontiert mit der manipulativen Verwendung von Zitaten bedeutender Ökonomen, etwa die Metapher von der „unsichtbaren Hand“ durch den Begründer der National-Ökonomie Adam Smith. Smith verwendete die Metapher seinerzeit für mikroökonomische Gegebenheiten. Heute dient sie als fast schon religiös verbrämte Begründung eines von staatlichen Eingriffen bzw. staatlicher Steuerung freien, sich selbst regulierenden Marktes auf makroökonomischer Ebene.
Arbeitszeitverkürzung – (k)eine Utopie?
Das belletristische Plädoyer für eine umfängliche Arbeitszeitverkürzung zeigt sich in den Hinweisen des Psychotherapeuten auf die wirtschaftswissenschaftlichen Begründungen seines Freundes Mallinger. Wer weiß noch, dass der große Ökonom John Maynard Keynes vor fast hundert Jahren bereits die Aussicht auf eine Arbeitszeitverkürzung auf 15 Wochenstunden voraussah? Seine Prognose beruhte auf Produktivitätssteigerungen, die durch den rasanten technischen Fortschritt des modernen Kapitalismus ermöglicht wurden. Keynes‘ Norm-Arbeitszeit von 15 Stunden bezog er auf das Jahr 2030. In einem gemeinwohlorientierten Wirtschaftssystem hätte diese Prognose längst Realität sein können.
Die Tragik des Neoliberalismus
Warum sind wir von dieser Zukunft, die mehr Lebens- und Freizeit für die Lohnabhängigen verspricht, weiter entfernt als noch vor einem halben Jahrhundert? Die Tragik der Geschichte beginnt nach Mallinger mit einer kleinen Gruppe von Ökonomen – mit der von Friedrich August von Hayek 1947 gegründeten Mont Pèlerin Society und ihrer mehr oder weniger verschleierten Ideologie einer finanziellen und gesellschaftspolitischen Herrschaft der Wenigen. Sie setzte sich in den letzten vier Jahrzehnten erfolgreich durch. Einerseits wuchs dank steigender Arbeitsproduktivität der von vielen geschaffene „Kuchen“, zugleich wurde die Verteilung seiner Stücke zunehmend ungleicher. Das „Räsonnement des Doktor Mallinger“: Neue Erfindungen werden buchstäblich für alles eingesetzt, nur nicht dafür, Menschen von der Arbeit zu entlasten.
Ohne eine Überwindung dieses Systems wird es weder umfassende Verkürzungen der Wochenarbeitsstunden noch eine gedeihliche Zukunft für die Gesellschaft geben, so das Fazit Mallingers. Es ist ein Wirtschaftsmodell, das nicht nur Bullshit-Jobs mit allen psychischen Folgen für die dort Arbeitenden generiert, sondern auch ökologisch in eine Sackgasse führt. Der Dramaturg und Kulturmanager Hartberger, der Mitbegründer und bis 1999 Intendant des Wiener Operntheaters war, schafft es, diese negativen Auswirkungen der Profit-Maximierung und rein materiellen Bewertung von Erfolg autobiografisch authentisch zu verarbeiten. Daraus entsteht eine Welt des kulturellen Niedergangs im System der neoliberalen Ideologie.
Recht auf Eigentum versus Recht auf Leben
Hartberger scheut sich nicht, das Recht auf Eigentum zu relativieren. So, wie es derzeit ausgestaltet ist, gerate es immer wieder mit dem Recht auf Leben in Konflikt. Dass das dominierende Eigentumsrecht revidiert und auch eine Begrenzung des Eigentums diskutiert werden muss, auch diese Botschaft transportiert der Roman.
Währe das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) eine Lösung für eine gerechtere Gesellschaft? Wenn Hartberger seine Protagonisten über eine andere Wirtschaftsordnung jenseits des Neoliberalismus reden lässt, dürfen sie laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung rund 88 Prozent der Bevölkerung in Deutschland auf ihrer Seite wissen. Anders sieht es beim BGE aus – im Buch findet die Idee anklang, in der Realität liegt die Zustimmung gerade mal im einstelligen Bereich. Aus gutem Grund: Es mag ein frommer Wunsch des Autors sein, der – eines der Ausnahmen im Buch – wirtschaftswissenschaftlich nicht fundiert ist.
Weniger Arbeit, mehr Sinn
Eine mögliche Lösung sieht der Ich-Erzähler im derzeit umfassend diskutierten Wirtschaftsmodell „Gemeinwohl-Ökonomie“. Ein Modell, das für ein sinnvoll gestaltetes Arbeitsvolumen plädiert. Im Epilog des Buchs kommen auch verschiedene Konzepte und Modelle von Wissenschaftlern wie Kate Raworth, Silke Helfrich, Thomas Piketty und Amartya Sen zur Sprache. Diese zur Schau gestellte Offenheit für einen Diskurs um die besten Lösungswege vermisst man in der Öffentlichkeit nicht selten, für das demokratisch verfasste Modell der Gemeinwohl-Ökonomie aber ist sie essenziell.
Fazit: Für passionierte Fachliteratur-Leser mag die Einbindung wirtschaftswissenschaftlicher Aussagen in einem Roman gewöhnungsbedürftig sein. Ein Gewinn sind die fachlichen Ausführungen dennoch, da ökonomische Zusammenhänge in Erzählform umfassend erklärt werden. Dienlich für ein tieferes Eintauchen in die wirtschaftswissenschaftlichen Theorien, die im Buch angeschnitten werden, sind auch die Literaturhinweise auf den ersten beiden Seiten des Epilogs. All das macht das Buch absolut lesenswert.
Sven Hartberger: Mallingers Abschied oder Vom Sinn und vom Unsinn der Arbeit, 144 Seiten, gebunden. Verlag Sonderzahl, Oktober 2023
ISBN 978-3-85449-645-8
Diese Rezension erschien ursprünglich bei PRESSENZA und steht unter einer Creative Commons Lizenz 4.0