Debatte

Die Migration und der Wohlfahrtsstaat

| 21. Januar 2022

Mit einer liberalen Migrationspolitik scheint man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können: Humanitären Pflichten nachkommen und gleichzeitig unseren durch den demografischen Wandel gefährdeten Wohlstand sichern. Warum es leider so einfach nicht ist.

In Deutschland haben 21,2 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund und leben 11,4 Menschen mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft. Deutschland kann daher mit Fug und Recht als Einwanderungsland bezeichnet werden. Daran wollen auch alle im Bundestag vertretene Parteien – mit Ausnahme der AfD natürlich – nichts ändern: Sie sprechen sich, wie ihren Wahlprogrammen zu entnehmen ist, alle für eine mehr oder weniger liberale Migrationspolitik aus.

Die Ampel hat sich in ihrem Koalitionsvertrag einer besonders migrationsfreundlichen Politik verschrieben. Sie will „ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht schaffen“, „um neue Potenziale für den Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Deutschland zu erschließen“. Ganz in Übereinstimmung damit hat Innenministerin Nancy Faeser angekündigt, eine „Koalition der aufnahmebereiten Mitgliedstaaten“ schmieden zu wollen.

Da in den europäischen Nachbarländern wenig Bereitschaft besteht, zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen, dürfte diese Koalition äußerst überschaubar bleiben. Das Wissen darum, scheint Faeser dazu bewegt zu haben, trotzig zu twittern, „bereit zu sein, voranzugehen“. Wie ernst man es in der Fortschrittskoalition damit meint, zeigt sich darin, dass von den insgesamt 40.0000 Afghanen, die sich die EU aufzunehmen bereit erklärt hat, 25.000 nach Deutschland „verteilt“ worden sind.

Im auffälligen Kontrast zu dieser Willkommenskultur-Politik  gaben in einer repräsentativen Umfrage 67 % der Befragten zu Protokoll, dass das Niveau der Zuwanderung in den vergangenen zehn Jahren „zu hoch“ gewesen sei. 48 % der Befragten sprachen sich zur Abwehr illegaler Einwanderung sogar für den Bau von Mauern und Zäunen an den EU-Außengrenzen aus. Der Schluss scheint also berechtigt, dass eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland eine restriktivere Migrationspolitik befürwortet.

Liest man die folgenden Zeilen Donald Trumps, ist man allerdings schnell geneigt, migrationskritischen Haltungen mit der Mehrheit der ökonomischen, politischen und medialen Eliten in Deutschland den Vorwurf der „Fremdenfeindlichkeit“ oder gar des „Rassismus“ entgegenzuhalten:

„Mexiko schickt seine Leute, aber nicht ihre besten [...]. Sie schicken Leute, die viele Probleme haben und diese Probleme zu uns bringen. Sie bringen Drogen mit. Sie bringen Kriminalität mit. Sie sind Vergewaltiger.“

Faesers Ankündigung eines „Aktionsplans gegen Rechtsextremismus“ scheinen vor dem Hintergrund solch verabscheuenswerter Sprüche, die auch von Vertretern der AfD zu hören sind, ein lobenswertes politisches Projekt zu sein. Freilich wird und soll der „Kampf gegen Rechts“ nicht nur die sozialen Kosten für die Diffamierung ethnischer Minderheiten, sondern jedwede Kritik an einer liberalen Migrationspolitik zum Schweigen bringen.

Dass diese Politik explizit dem Willen der Mehrheit der Bürger widerspricht und damit demokratisch nicht legitimiert ist, nimmt man in Kauf, weil man es mit Jürgen Habermas hält: wir dürfen „uns nicht in der Wagenburg des Wohlstandschauvinismus gegen den Andrang von Immigrationswilligen und Asylsuchenden verschanzen.“

Nahezu unisono wird zudem behauptet, dass die demografische Struktur Deutschlands zur Lösung des Rentenproblems und des Fachkräftemangels unabdingbar einer liberalen Einwanderungspolitik bedürfe. Im Vorwort einer Studie der Friedrich-Ebert Stiftung (FES) mit dem programmatischen Titel „Ohne Sie geht nichts mehr“ werden wir über die negativen Folgen einer restriktiveren Einwanderungspolitik wie folgt aufgeklärt:

„Ein Blick in die aktuelle Berichterstattung zur wirtschaftlichen Situation Großbritanniens, das mit den Brexit- Folgen kämpft, zeigt uns, was passiert, wenn Migrant_innen auf einmal kaum mehr auf dem Arbeitsmarkt präsent sind. Auch für Deutschland, das belegen die hier ausgewerteten Zahlen, würde das ein Erlahmen, wenn nicht gar einen Stillstand in wichtigen Bereichen des Arbeitsmarkts und damit der Wirtschaft bedeuten. Insofern ist es nicht übertrieben, zu sagen: Ohne sie – nämlich die Migrant_innen und zunehmend auch Geflüchtete – geht es nicht mehr.“

Zwischen einer liberalen Migrationspolitik und dem Wohlfahrtsstaat wird also eine positive Korrelation behauptet. Abgelehnt wird damit explizit die These Hermann Hellers, der einen engen Zusammenhang zwischen einer gewissen ethnischen Homogenität und dem Wohlfahrtsstaat sah, der auch Jürgen Habermas wie folgt widerspricht:

„Bereits Nationalstaaten stützen sich auf die höchst artifizielle Gestalt einer Solidarität unter Fremden, die durch den rechtlich konstruierten Staatsbürgerstatus erzeugt wird.  Auch in ethnisch und sprachlich homogenen Gesellschaften ist das Nationalbewusstsein nichts Naturwüchsiges, sondern ein administrativ gefördertes Produkt von Geschichtsschreibung, Presse, allgemeiner Wehrpflicht usw. An dem Nationalbewusstsein heterogener Einwanderungsgesellschaften zeigt sich exemplarisch, dass jede Population die Rolle einer ‚Staatsnation‘ übernehmen kann […].“

Diese drei Narrative, die ich als das (1) Verfassungspatriotismus-Narrativ, (2) Rentenproblem-Narrativ und (3) das Fachkräftemangel-Narrativ bezeichnen möchte, sollen im Folgenden kritisch unter die Lupe genommen werden.

Was also ist dran an den folgenden Thesen, die diesen Narrativen zugrunde liegen?

Das Verfassungspatriotismus-Narrativ

Mit Habermas stimme ich überein, dass der Wohlfahrtsstaat ein normativ erstrebenswertes Ziel ist und notwendig eines gewissen Zusammengehörigkeitsgefühls zwischen den Mitgliedern eines solchen politisch organisierten Gemeinwesens bedarf. Konsens besteht auch darüber, dass ein Nationalbewusstsein die Unterscheidung zwischen einem „Wir“ und einem „Sie“ zur Voraussetzung hat. Nicht ernsthaft zu bezweifeln ist auch, dass ein solches „Wir-Bewusstsein“ ein zumindest teilweise „administrativ gefördertes Produkt“ darstellt.  

Habermas ist nun aber auch der Meinung, dass es zur Herausbildung politisch organisierter „Wir-Gruppen“ ausreichend ist, wenn sich ihre Mitglieder mit den in den Verfassungen von liberal-demokratischen Gesellschaften beschriebenen universellen Werten und Prinzipien identifizieren. Ein ethnisch motivierter Patriotismus sei also, anders als Hermann Heller behauptet, keine Voraussetzung für ein sozial und demokratisch organisiertes Gemeinwesen.  

Der Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenforde hat diese Überzeugung, die man als „Verfassungspatriotismus“ bezeichnet, bereits 1967 wie folgt infrage gestellt:

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“

Diese vom Staat nicht zu garantierende Voraussetzungen hat Heller mit dem Begriff der „ethnischen Homogenität“ bedacht. Sie ist für ihn Resultat eines Prozesses einer Gruppe von Menschen, die „durch Jahrhunderte oder Jahrtausende in steter Aufeinanderbezogenheit, in dauernder Wechselwirkung eine gemeinsame Geschichte erlebt, gemeinsame Kulturgestaltungen hervorbringt, welche die nächste Generation in sich aufnimmt, von neuem formt und wieder auf sich zurückwirken läßt“.

Die Geschichte des Einwanderungslands USA scheint Heller Recht zu geben und damit Habermas‘ These, dass „jede Population die Rolle einer ‚Staatsnation‘ übernehmen kann“, eindeutig zu widersprechen. Zwar zeichnete sich die Bevölkerung der USA von Anbeginn durch eine multiethnische Zusammensetzung aus. So waren zum Zeitpunkt der amerikanischen Unabhängigkeit 1776 20 % der Bevölkerung Afroamerikaner und amerikanische Indianer. Diese waren aber noch nicht einmal auf dem Papier Teil der amerikanischen Staatsnation. Die USA waren ein Apartheidsregime.

Die Staatsnation war nach über 150 Jahren, in denen die Kolonisierung Amerikas begonnen hatte, ethnisch äußerst homogen. 80 % waren WASPs – White Anglo-Saxon Protestants – und die restlichen 20 % gehörten überwiegend einem ähnlichen Phänotypus an und waren fast ausschließlich Protestanten. Das änderte sich erst durch eine große Einwanderungswelle zwischen 1840 und 1850 von insbesondere katholischen Iren, die ihrer existentiellen Notlage in Irland entfliehen wollten.

Die Masseneinwanderung von Menschen mit einer Religion, die nach Meinung der Alteingesessenen nicht zu den USA gehörte, lösten schreckliche Gewalttaten gegen die Iren aus. Eine extremistische ethnonationalistische Partei konnte große Wahlerfolge erzielen und ihr Kandidat wäre vermutlich 1856 Präsident geworden, hätten ihre Mitglieder im Norden sich nicht mit denen im Süden über ihre Haltung zur Sklaverei entzweit.

Der Widerstand gegen die Immigration ging allerdings keineswegs von generell reaktionären gesellschaftlichen Kräften aus. Ganz im Gegenteil wurde eine restriktive Einwanderungspolitik von „Progressiven“ gefordert, die sich für bessere Arbeitsbedingungen der Arbeiterschaft, das Frauenwahlrecht und soziale Reformen einsetzten.

Die historischen Erfahrungen aus den USA belegen also, wie problematisch eine heterogene Gesellschaft für das Zusammengehörigkeitsgefühl und damit einer am Ideal der „Brüderlichkeit“ orientierten Politik ist. Daran ändert sich auch nichts, wenn man mit gutem Recht auf die Diskrimination von ethnischen Minderheiten und das ihr zugrundeliegende „falsche“ Bewusstsein hinweist. Die historischen Erfahrungen eines Einwanderungslandes belegen schlicht und einfach, dass Habermas Wunsch und Wirklichkeit verwechselt.   

Was aus den historischen Erfahrungen der USA allerdings nicht folgt, ist einer ethnonationalen politischen Agenda das Wort reden zu müssen. Eine solche Politik kann in Ländern mit Bevölkerungen, die in großem Umfang Menschen mit Migrationshintergrund umfassen, niemals realisiert werden. Schon die Propagierung einer „Politik der Rückführung von ethnischen Minderheiten“, wie sie etwa von Björn Höcke von der AfD betrieben wird, kann nur zu bürgerkriegsähnlichen humanitären Desastern führen.

Die Lösung kann aber auch nicht darin bestehen, die „multikulturelle Gesellschaft“ als Ideal zu beschwören. Das führt, wie wiederum ein Blick über den großen Teich belegt, ganz offensichtlich zu einer extremen Spaltung der Gesellschaft. Vor allem dann, wenn man die ethnische Identifikation von Minderheiten befördert, dagegen die von Autochthonen pauschal mit dem Vorwurf des Rassismus überzieht.

Es handelt sich bei der vom „Multikulturalismus“ angeleiteten Politik um einen „Utopismus […] mit einer gefährlichen Schlagseite“, die von Julian Nida-Rümelin wie folgt richtig beschrieben wird:

„zunächst losgelöst von dem, was wir in unserer Lebenspraxis für akzeptabel halten, zu bestimmen, was eine ideale, harmonische, wohlgeordnete Gesellschaft beziehungsweise einen solchen Staat ausmacht, um dann die Mittel zu bestimmen, die über Erziehung, Gängelung, Sanktionierung, Umerziehung etc. den Einzelnen in die Lage versetzt dieses Ideal in seiner konkreten Lebensform zu realisieren.“ (S. 81 – 82)

Mit Blick auf die historischen Erfahrungen eines solchen Politikstils lassen die Ankündigungen der Fortschrittskoalition, „Vielfalt“ mit allen nur erdenklichen Mitteln befördern zu wollen - wie etwa einer Migranten-Quote im öffentlichen Dienst - nichts Gutes erwarten. Vor allem wird man so die Probleme multiethnischer Gesellschaften nicht zu lösen imstande sein.  

Eine Lösungsstrategie ergibt sich, wenn man sich der Ethnogenese zuwendet. Der Tatsache also, dass einerseits Ethnien verschwinden und andererseits neue Ethnien entstehen. In den USA zum Beispiel ist aus den verschiedenen, aus allen Teilen Europas eingewanderten Ethnien eine neue „Euro-American-Ethnicity“ entstanden. Solche neuen Ethnien entstehen aber nicht durch Proklamation, sondern über sehr lange Zeiträume durch die Assimilation von Minderheiten in eine dominante Leitkultur und die Verschmelzung von ethnischen Gruppen durch intraethnische Heiraten.

Das sind unangenehme Wahrheiten für die „Progressiven“. Mit ihrer sicherlich gut gemeinten Politik, der „Vielfalt“ auf die Sprünge helfen zu wollen, werden bereits bestehende Parallelgesellschaften verfestigt, der Widerstand der Autochthonen gegen „Überfremdung“ zunehmen und damit interethnische Konflikte befeuert. Diese These findet wiederum mit Blick auf die USA Bestätigung. Dort hat die Ignoranz der politischen Eliten gegenüber Migrationsproblemen sogar zur Wahl eines Soziopathen wie Donald Trump zum Präsidenten geführt.

Der Multikulturalismus unter Mitgliedern und Wählern der Demokraten stellt sich nun sogar als ein Hindernis der Realisierung der „solidarischen“ Wirtschaftspolitik Bidens heraus, wie Saagar Enjeti in einem MAKROSKOP-Beitrag am Beispiel der Krankenversicherung wie folgt illustriert hat:

„Bernie Sanders’ ‚Medicare for All‘ […] wurde […] als eine Möglichkeit verkauft, rassistische Ungleichheiten zu beseitigen, illegalen Einwanderern eine universelle Krankenversicherung anzubieten, universellen Zugang zu Abtreibung zu gewähren und Übergangsoperationen für Transgender-Personen zu finanzieren. Genau dieses Framing aber wird von großen Mehrheiten der Wähler abgelehnt. Nichtsdestotrotz hätte ein reduzierter Vorschlag, der diese umstrittenen Themenbereiche ausklammert und sich einfach auf die populärere Sache der Ausweitung der Gesundheitsversorgung konzentriert, bei der progressiven Linken keinen Bestand gehabt.“

Eine liberale Migrationspolitik mag daher zwar möglicherweise das Renten- und Fachkräfteproblem beheben. Es scheint sich aber um eine Strategie zu handeln, die in der Realität zu mehr Problemen führt, als sie zu lösen in der Lage ist. Vor allem scheint sie nicht erfolgssprechend, denn dass in liberaldemokratischen Gesellschaften längerfristig eine Politik verfolgt werden kann, die die Mehrheit der Bevölkerung ablehnt, ist beliebig unwahrscheinlich.

Bestätigt wird diese These mit Blick auf eine Reihe von europäischen Ländern:

  • Selbst die EU-Sanktionen im Zusammenhang mit dem Regierungseintritt der migrationskritischen FPÖ in Österreich im Jahr 2000 konnten nicht verhindern, dass die FPÖ seither immer wieder in Regierungsverantwortung war und in Österreich seither durchweg eine relativ restriktive Einwanderungspolitik verfolgt wurde.
  • In ehemals migrationsfreundlichen Ländern wie Schweden und Dänemark sind inzwischen ebenfalls migrationskritische Parteien in Regierungsverantwortung, die sogar nicht davor zurückschrecken, migrationsfreundliche internationale Abkommen zu ignorieren.
  • In Großbritannien konnte eine Flut von „Studien“, die den ökonomischen Super-Gau beschworen, nicht verhindern, dass migrationskritische Haltungen maßgeblich zu dem Jahrhundertereignis eines Austritts aus der EU führten und das liberale Migrationsregime selbst gegenüber EU-Bürgern beendet wurde.

Das Rentenproblem-Narrativ

Vor allem aber ist die Behauptung, dass ohne Migration ein wirtschaftliches Desaster so sicher wie das Amen in der Kirche sei, empirisch leicht zu widerlegen. Länder mit einer äußerst restriktiven Einwanderungspolitik, wie etwa Japan oder Südkorea, sind ein Beleg dafür, dass es auch in Staaten mit einer alternden Bevölkerung Alternativen zur Einwanderung gibt, ohne dass es zum wirtschaftlichen Absturz kommt.

Beide Länder wiesen zum Beispiel 2020 ein ähnlich hohes Bruttoinlandprodukt pro Kopf auf Basis von Kaufkraftparitäten aus wie Großbritannien und Frankreich. In Japan und Südkorea aber sind lediglich 1,5 bzw. 3,4 % der Bevölkerung im Ausland geboren, während sich die entsprechenden Zahlen in Großbritannien und Frankreich auf ca. 14 % beliefen.

Freilich ist dennoch nicht zu bestreiten, dass mit der Zuwanderung Probleme unseres Systems der Altersversorgung gelöst werden können. These (2) kann man also nicht einfach mit Hinweis auf andere Länder als unzutreffend abtun. Nun fällt sofort auf, dass die Vertreter von These (2) allein auf den Altenquotienten abstellen. Auf dieser Basis haben wir dann nicht nur in der Zukunft, sondern seit Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts ein demografisches Problem, denn seither steigt der Altenquotient kontinuierlich an.

Nicht zu bestreiten ist allerdings auch, dass unter den gegenwärtig gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen das Rentenniveau sinken muss, will man gleichzeitig höhere Beitragssätze vermeiden. Es gibt aber keinen Grund, warum man das gegenwärtige System der Alterssicherung nicht reformieren sollte. Eine solche Reform bestünde zum Beispiel darin, die Beitragsbemessungsgrenzen zu erhöhen und endlich die immer wieder von „linken“ Parteien propagierte Bürgerversicherung einzuführen. 

Doch obwohl zwei dieser „linken“ Parteien Teil der selbst ernannten Fortschrittskoalition sind, finden sich im Koalitionsvertrag noch nicht einmal Spurenelemente solcher Reformvorhaben. Stattdessen propagieren sie mit der „Vielfalt“ und der damit einhergehenden „wirtschaftlichen Stärke“ eine Lösung des „Rentenproblems“ über eine noch stärkere Zuwanderung.

Möglicherweise fehlt es hier an der Kenntnis von Studien, die zeigen, dass die Zuwanderung Effekte hat, die ein Rentenproblem geradezu verursachen. Bekanntlich sind zum Beispiel die individuellen Rentenansprüche eine Funktion der während einer Beschäftigung erhaltenen Löhne. Bevor man also die Zuwanderung als Lösung propagiert, muss man die Frage untersuchen, wie sich die Migration auf die Lohneinkommen der späteren Rentner auswirkt.

Die Arbeitgeberseite wird zwar nicht müde, mit Bezug auf eine Vielzahl von Studien die positiven gesamtwirtschaftlichen Effekte der Migration zu behaupten. Freilich steckt das Ergebnis dieser empirischen Studien meist schon in den Annahmen, der ihnen zugrunde liegenden Ökonomik. Dort gilt apriorisch, dass je flexibler die Produktionsfaktoren sind, der zu verteilende Kuchen immer größer wird und dadurch die Migration selbstredend positive Wohlfahrtseffekte „für alle“ zeitigt.

Allerdings gibt es auch eine Vielzahl von Studien, die nachweisen, dass es mit der Migration zu einer „Erosion von Tarifverträgen und Gewerkschaften“ kommt. So schreibt Anke Hassel in den Blättern:

„In Deutschland schaue man sich die Mitgliederentwicklung der IG BAU nach der Verabschiedung der Entsenderichtlinie im Jahr 1996 an. Die Bauwirtschaft ist der wesentliche Einsatzbereich für die Arbeitnehmerentsendung in Deutschland. Wer sich dafür nicht interessiert oder den Gewerkschaften selbst die Schuld dafür gibt, macht es sich zu einfach.“

Da Löhne aber nicht lediglich eine Funktion von Angebot und Nachfrage sind, sondern wesentlich durch die Machtverteilung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite bestimmt werden, kann es kaum überraschen, dass sie gerade in Branchen, in denen Migranten überwiegend Arbeit finden, seit der Öffnung der innereuropäischen Grenzen unter Druck geraten sind.

Wer eine liberale Migrationspolitik mit These (2) zu begründen versucht, blendet aber auch aus, dass mit ihr der Anteil des versorgungsbedürftigen Teils der Bevölkerung möglicherweise erhöht wird. Aus der Tatsache, dass die Einwanderung von Jüngeren den Altenquotienten verringert, wird vorschnell geschlossen, dass sich dieser Teil der Bevölkerung automatisch verringert. Dieser Schluss aber ist nicht gerechtfertigt. Es ist zum Beispiel nicht auszuschließen, dass Einwanderer keine Arbeit finden. In diesem Fall führt die Einwanderung zu einem Anstieg des Anteils der Versorgungsbedürftigen.  

Aber auch wenn ein Einwanderer Arbeit findet, kann der Gesamtquotient trotzdem steigen statt fallen. Zum Beispiel dann, wenn der Einwanderer eine Familie mitbringt. Der Beitrag des Einwanderers zur Versorgung des nicht-arbeitenden Teils der „alten“ Bevölkerung mag dann sogar negativ werden. Denn auch dessen Kinder müssen – zum Beispiel mit Bildung – versorgt werden und diese Versorgungskosten können höher sein als sein Beitrag zur Versorgung von "alten" Rentnern.

Ob und wie genau man die Einwanderung so steuern kann, dass der Versorgungsbeitrag der Zuwanderer in der Summe positiv ist, dürfte nicht ganz einfach zu beantworten sein. Sicher aber ist, eine jedwede politische Steuerung von Migrationsbewegungen ist im Vergleich zum gegenwärtigen liberalen deutschen Migrationsregime restriktiver.

Das kann man aus Gründen ablehnen, die mit dem behaupteten Demografie-Problem nichts zu tun haben. Etwa kann man vor dem Hintergrund einer meritokratischen Ethik im Namen der Gerechtigkeit verlangen, dass allein der im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung bestimmte Leistungsbeitrag, aber niemals die Staatsangehörigkeit über Einkommen entscheiden darf.   

Doch die Kosten der Zuwanderung darf man nicht unterschlagen. So zum Beispiel werden von der Massenmigration in aller Regel einkommensschwächere Personengruppen negativ betroffen: Durch Lohndruck, einen Abbau des Sozialstaats, zunehmende Konkurrenz um günstigen Wohnraum oder Schulen mit einem hohen Migrationsanteil.

Man kann sich an dieser Stelle leicht alle möglichen politischen Maßnahmen vorstellen, welche die negative Folgen der Zuwanderung verhindern könnten. Wenn aber allein schon die Einführung einer Bürgerversicherung in naher Zukunft unwahrscheinlich ist, dann sollte man nicht allzu viele Hoffnungen hegen, dass die entsprechende Politik eine Chance auf Realisierung haben könnte.

Das Fachkräftemangel-Narrativ

Das FES schreibt in ihrer Zusammenfassung der oben genannten Studie, dass „auf Basis aktueller Zahlen der Bundesagentur für Arbeit ersichtlich wird, dass – gerade mit Blick auf einzelne Berufe und Regionen – ein Funktionieren der Arbeitsmärkte ohne diese Fachkräfte nicht mehr möglich wäre“.

„Bei den Berufskraftfahrer_innen beispielsweise machen Migrant_innen im Jahr 2020 deutschlandweit einen Anteil von mehr als 23 Prozent aus. In der Gastronomie sogar 31 Prozent. Noch deutlicher wird der Beitrag von Fachkräften mit Migrationsgeschichte regional betrachtet: So sind in Baden-Württemberg 34,7 Prozent der Berufskraftfahrer_innen Migrant_innen, in der Fleischverarbeitung in Niedersachsen sind es sogar 60 Prozent.“

Diese Tatsachen sind aber keineswegs Beleg für These (3) und eignen sich noch weniger dazu, eine liberale Migrationspolitik als wünschenswert auszuweisen. Gerade wenn man die Wirtschaftssektoren betrachtet, in denen Migranten einen hohen Anteil der Fachkräfte stellen, kommt vielmehr der Verdacht auf, dass der beklagte Fachkräftemangel auf die schlechte Bezahlung und die miserablen Arbeitsbedingungen in den genannten Branchen zurückzuführen ist.

Statt hier den Hebel anzusetzen, kann man natürlich weiterhin entsprechende ausländische Fachkräfte anheuern, die sich im Vergleich zum Verbleib in ihren Heimatländern sich trotzdem materiell besserstellen. Diese gerade in Deutschland weit verbreitete Praxis hat aber eine Reihe von geradezu perversen Effekten.

So werden etwa Kranken- und Altenpfleger aus Osteuropa abgeworben, die dann dort fehlen. Oder aber diese Praxis führt dazu, wie etwa in Kerala, einem Bundesstaat Indiens, dass Pflegefachkräfte geradezu für den „Export“ ausgebildet werden. Von einem „Triple Win“, wie die Bundesagentur für Arbeit in diesem Zusammenhang behauptet, könne aber, so führt Lys Kulamadyil aus, nicht die Rede sein:

„Mehr als ein halbes Jahrhundert internationaler Anwerbung hat keinen Druck vom heimischen Arbeitsmarkt genommen, sondern einen Markt geschaffen - und zwar für die Krankenpflegeschulen. Diese bilden jedes Jahr Zehntausende von Krankenschwestern aus, die in ihrem Heimatland keine berufliche Perspektive haben.“

Es gilt also bei einer Beurteilung einer liberalen Migrationspolitik nicht nur die Wirkungen in den Ein- sondern auch in den Auswanderungsländern im Auge zu behalten. Die Erfahrungen in der Fleischindustrie in der EU zeigen zudem, dass auch den Effekten auf Drittländer ausreichend Beachtung geschenkt werden muss und die Zuwanderung die Ursachen eines Fachkräftemangels nicht beseitigt.

Der sehr hohe Anteil von Fachkräften in den Schlachtbetrieben Niedersachsens, der von der FES als Segen einer liberalen Migrationspolitik verkauft wird, verdankt sich der Tatsache, dass in der EU ein Migrationsregime institutionalisiert wurde, das sich liberaler kaum denken lässt. Es hört auf den Namen der „Arbeitnehmerfreizügigkeit“.

Unter diesem Begriff werden Rechte von EU-Bürgern subsumiert, die sich aus dem Verbot gemäß Artikel 45 Absatz 2 AEUV ergeben, EU-Arbeitnehmer aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit zu diskriminieren. Jedem EU-Bürger wird damit das Recht eingeräumt, „ihren Arbeitsplatz innerhalb der EU frei zu wählen. Sie benötigen keine Arbeitserlaubnis und haben in jedem anderen Mitgliedstaat den gleichen Zugang zu Beschäftigung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats“.

Nun steht außer Frage, dass die Wanderarbeiter aus Südosteuropa die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Fleischindustrie befördert haben. In diesem Sinne kann man den Beitrag der „Migrant_innen“ zur deutschen Wertschöpfung sicherlich loben. Man sollte aber nicht vergessen zu erwähnen, dass die mit der Zuwanderung ermöglichte Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands Schlachter in der Bretagne den Arbeitsplatz gekostet hat.

Das ultraliberale Migrationsregime innerhalb der EU wirft die Frage auf, ob die Zuwanderung nicht den beklagten Fachkräftemangel geradezu zementiert. Mit der sehr hohen Anzahl von Coronainfektionen von Angestellten in Schlachtereien sind die skandalösen Arbeitsbedingungen, die prekäre Wohnsituation und die miserable Bezahlung von Wanderarbeitern aus Südosteuropa in den Blick einer breiteren Öffentlichkeit geraten. So gesehen, ist der durch den Brexit verursachte Fachkräftemangel zu begrüßen, denn er wird Arbeitgeber dazu motivieren, Arbeitsbedingungen zu verbessern und Löhne zu erhöhen.

Was den Fachkräftebedarf von Schlachtereien betrifft, stellt sich zudem besonders dringlich die Frage, ob jeder "Bedarf" auch befriedigt werden sollte. Denn mit einem Exportanteil von 50 % ist die Fleischindustrie Teil eines Problemkomplexes, den Andreas Nölke als „Exportismus“ bezeichnet hat. Deutschlands extreme Exportabhängigkeit erklärt sich, wie wir auf Makroskop oft dargelegt haben, ganz wesentlich durch eine Politik des Lohndumpings, die zu einer erheblichen Lohnspreizung und einem Export an Arbeitslosigkeit geführt hat, wie oben am Beispiel der Fleischindustrie der Bretagne illustriert.

Fazit

Das Demografie-Narrativ kann eine liberale Migrationspolitik nicht rechtfertigen. Vielmehr verhindert es eine sachgerechte Ursachenanalyse von Problemen der Alterssicherung und von Arbeitsmärken und den ihnen zugrundeliegenden Wirtschaftsstrukturen. Es behindert damit aber auch eine Politik, die sich tatsächlich am Gemeinwohl sowohl im In- als auch im Ausland orientiert.

Handfeste ökonomische Interessen und ein gesinnungsethisch motivierter Individualismus und Kosmopolitismus werden aber in Deutschland für absehbare Zeit einer liberalen Migrationspolitik weiterhin Tür und Tor öffnen. Es ist daher nicht schwer vorherzusagen, dass der „Kulturkampf“ an Intensität gewinnen und der Wohlfahrtsstaat weiter erodieren wird.