Spotlight

Markt und Gerechtigkeit

| 11. Februar 2022
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Liebe Leserinnen und Leser,

unsere soziale Marktwirtschaft garantiert „Wohlstand für Alle“ – zumindest dann, wenn man diese Wirtschaftsordnung frei walten lässt und nicht durch Markteingriffe verzerrt. Denn der Markt sorgt aus sich heraus, allein durch seine Effizienz, für „Gerechtigkeit“. Man könnte auch sagen: „Eigentlich ist alles in Ordnung.“

Wenn Sie anderer Meinung sein sollten, stehen sie alleine gegen eine Riege aus großen Ökonomen, Politikern und Medienintellektuellen. Darin, dass der Markt gerecht ist, waren und sind sich alle einig – von Ludwig Erhard, dem „Vater der sozialen Marktwirtschaft“, über die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) bis hin zu Ludwig von Mises, für den ohnehin klar war: „Die Marktwirtschaft kennt keine politischen Grenzen. Ihr Feld ist die Welt.“

Damit unsere Marktwirtschaft für diese Welt fit bleibt, will die INSM sie „stetig den aktuellen Herausforderungen und Veränderungen“ anpassen. Stichworte: „Globalisierung, demografischer Wandel“. Wie das geht? Mit mehr Markt und weniger Staat!

Vielleicht reiben Sie sich gerade verwundert die Augen: War das wirklich die Botschaft der sozialen Marktwirtschaft?

Tatsächlich ist die „soziale Marktwirtschaft“ ein großes Missverständnis und steht ursprünglich für etwas ganz anderes, als viele heute glauben: Nach Erhard und seiner geistigen Erben trägt sie nicht etwa ihren Namen, weil der Staat in und über Ihr mit seinen Institutionen und Markteingriffen für soziale Gerechtigkeit sorgen solle. Nein, der freie Markt ist aus sich selbst heraus sozial. Erhard selbst: „Ich meine, daß der Markt an sich sozial ist, nicht daß er sozial gemacht werden muß.“

Das Attribut „Sozial“ steht allerdings nicht für Verteilungsgerechtigkeit, sondern allenfalls für „Chancengerechtigkeit“, anders gesagt: „Gerechtigkeit der Chancen, nicht der Ergebnisse!“ Oder wie es die INSM formuliert: „Chancen für alle“ statt „Wohlstand für alle“. Wer außen vor bleibt, ist selbst schuld, denn jeder ist eigenverantwortlich. In diesem Geiste steht auch der berühmte Slogan, der im Regierungsprogramm der CDU/CSU 2017 stand und schon zuvor gerne bemüht wurde (Westerwelle, Stoiber, Merkel): „Sozial ist, was Arbeit schafft“ – erinnern Sie sich? Es war die Rechtfertigung für die Deregulierung der Arbeitsmärkte.

Warum ist für dieses Verständnis der „Marktgerechtigkeit“ die soziale Gerechtigkeit im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit derart irrelevant, ja sogar schädlich? 1971 schiebt John Rawls, der in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden wäre, mit der Erstveröffentlichung seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ eine politphilosophische Rechtfertigung nach: bis heute prägt die sogenannte Separationsthese, wonach Gerechtigkeitserwägungen keine Rolle in der Regulierung von Märkten spielen sollten, die philosophischen, politischen und ökonomischen Debatten.

In diesem Spotlight konfrontieren wir den erhardschen Marktbegriff – oder allgemeiner gesprochen: den Glauben an effiziente Märkte – mit der Realität und zeigen, warum stark vereinfachte Modelle ökonomischer Zusammenhänge für die Beschreibung realer Gesellschaften keinen Mehrwehrt bieten.

Denn dass ständige Markteingriffe unvermeidbar sind, zeigt eine bundesrepublikanische Trivialität: der (einst) breit ausgebaute Wohlfahrtsstaat. Er entwickelte sich aus den Lehren der Geschichte – und weil die reine Lehre der sozialen Marktwirtschaft nie dogmatisch umgesetzt werden konnte. Den instanzlosen Markt gibt es nicht, die Marktwirtschaft hat eben doch ihre politischen Grenzen.

Davon legt nicht zuletzt das Grundgesetz Zeugnis ab: Die Charakterisierung der Bundesrepublik als „sozialer Bundesstaat“ (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) mit einer Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 Satz 3 GG). Sie steht dafür, so der vor wenigen Jahren verstorbene Politologe Hans-Hermann Hartwich, „dass die Freiheit des einzelnen in der Gesellschaft erst durch die sozialgestaltenden Interventionen in Wirtschaft und Gesellschaft effektiv werden kann.“

Wenn Sie also glauben, dass Gerechtigkeit eine Frage der politischen Gestaltung ist, stehen sie mit Ihrer Meinung vielleicht doch nicht so allein.