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Die Suche nach dem Gemeinwohl

| 10. Dezember 2021
istock.com/Roman Stavila

Liebe +Leserinnen und +Leser,

wir alle wollen doch eigentlich nur das Beste, oder? Wir sehnen uns nach Frieden, Freiheit und Wohlstand, hoffen auf das Glück und die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder und auf eine gesunde Mutter Erde. Kein Zweifel, wie sich gerade zeigt, haben wir das Gemeinwohl im Blick.

Spucken wir in die Hände und packen es an! Kommen wir auf der Leiter des Fortschritts dem großen Ziel Sprosse um Sprosse näher. Wie, jetzt wird es kompliziert? Wir sind uns uneinig, wie wir diese Ziele erreichen können und was Glück und Freiheit ganz konkret bedeuten?

Die Schwierigkeit liegt schon im Kern des Wortes – Gemeinwohl, was so viel bedeutet wie das Wohl[ergehen] eines jeden Einzelnen innerhalb einer Gemeinschaft. Klingt auf dem ersten Blick simpel, ist es aber nicht. Darunter könnte sich auch ein schwer aufzulösender Widerspruch verbergen. Man kann bereits ahnen, dass damit ein hehrer, ja vielleicht unmöglich zu erreichender Anspruch verbunden ist.

Wer definiert überhaupt das Gemeinwohl, wenn jeder Einzelne unter seinem Wohl vielleicht etwas anderes versteht? Oder steht das Gemeinwohl vielleicht nicht sogar über den Interessen des Einzelnen? Und wo beginnt das Gemeinwohl und wo endet es? Bezog sich der Begriff des Gemeinwohls bei Aristoteles notwendig auf die Polis, wurde es in der Stoa schließlich auf die ganze Menschheit ausgedehnt.

Nicht ohne Grund herrscht ein ewiger Dissens im Hinblick auf die Frage, ob man ein „Gemeinwohl a priori“ finden könne, so wie die richtige Lösung einer einfachen Mathematikaufgabe. Die Sache wird noch kniffliger, weil die nähere inhaltliche Bestimmung von der zugrunde gelegten Konzeption der politischen Gerechtigkeit abhängt.

Tatsächlich hat der Begriff des Gemeinwohls im liberalen Demokratiebegriff eine andere Bedeutung hat als im republikanischen. Der Republikanismus versteht Gemeinwohl als Gegenbegriff zu bloßen Einzel- oder Gruppeninteressen innerhalb einer Gemeinschaft. Ein Gemeinwohl-Auftrag in diesem Sinne findet sich auch in Artikel 14 des deutschen Grundgesetzes wieder: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich der Allgemeinheit dienen“.

Der Liberalismus hingegen glaubt das Gemeinwohl am besten zu erreichen, in dem jeder Einzelne egoistisch seine eigenen Interessen und Ziele verfolgt. Eine „unsichtbare Hand“ sorgt dann dafür, dass die zahllosen kleinen Egoismen in einem größeren Ganzen harmonisch und produktiv zueinander finden. Das Gemeinwohl ist also als Resultat autonom wirkender pluraler Kräfte gedacht; eine Orientierung auf das Gemeinwohl als solches ist nicht erforderlich.

Hier deutet sich bereits an, dass die Frage nach dem Gemeinwohl nicht nur eine philosophische oder gesellschaftliche Dimension hat, sondern auch eine politökonomische – nämlich, ob es nicht einen gewissen Widersprich gibt zwischen Kapitalismus und Gemeinwohl. Alle, die im obigen Sinne nur das Beste wollen, werden einräumen müssen, dass uns der Kapitalismus bei all seiner Dynamik, in welcher jeder Einzelne nur sein individuelles Glück im Auge hat, auch eine Handvoll Probleme eingebrockt hat: extreme Ungleichheit und Umweltzerstörung zum Beispiel.

Wer aber ist dafür zuständig zu verhindern, dass es zwischen kapitalistischer Dynamik und Gemeinwohl zur totalen Kollision kommt? Paul Steinhardt erinnert sich an Hermann Heller. Für den Staatsrechtler konnte das nur der „machttragende, zwangsgewaltübende Staat“ sein. Mit anderen Worten: Der Staat muss für die Einhegung der Verwerfungen der kapitalistischen Produktionsweise eine zentrale Rolle einnehmen.

Verfechter eines liberalen Gemeinwohlbegriffs wähnen sich schon beim Gedanken daran mit einem Bein im „Autoritarismus“. So gibt es für Steinhardt zwar eine Vielzahl von politischen Maßnahmen, mit denen sowohl die negativen sozialen als auch ökologischen Folgewirkungen des Kapitalismus eingehegt werden könnten, dass aber solche Reformen aufgrund der hegemonialen Stellung des Wirtschafts- und Kulturliberalismus in Deutschland auf absehbare Zeit keine Chance zur Realisierung haben, steht auf einem anderen Blatt.

Für Günter Grzega, dem Botschafter der Gemeinwohl-Ökonomie, ist ob solcher Befunde der Weg das Ziel. Die Gemeinwohl-Ökonomie, ein Wirtschaftsmodell basierend auf den Ideen des österreichischen Philologen und Publizisten Christian Felber, versteht sich als Wegbereiterin für gesellschaftliche Veränderungen in Richtung eines kooperativen Miteinanders im Rahmen ethischen Wirtschaftens. Und Grzega ist optimistisch, die Gemeinwohl-Ökonomie sei auf dem Vormarsch: seit dem Start von 15 Unternehmen im Jahr 2011, umfasst die GWÖ aktuell weltweit etwa 800 nach Gemeinwohlkriterien bilanzierende Unternehmen.

Konträr zu dieser Zuversicht steht der Titel eines Buches, dass 2020 erschienen ist: Michael J. Sandels „Vom Ende des Gemeinwohls“. Der sich beschleunigende gesellschaftlichen Wandel im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung kenne aus Sicht der Ökonomen keine Verantwortlichkeiten für seine Verwerfungen, vielmehr sei alles unausweichlich. Sandel beklagt, dass durch diese Sicht die „herrschenden Eliten“ aus ihrer Verantwortung entlassen werden, obwohl doch sie die Bedingungen geschaffen haben, welche die Würde der Arbeit zersetzen „und viele mit dem Gefühl zurückgelassen haben, nicht geachtet zu werden und machtlos zu sein.“ Darin sieht der Moralphilosoph einen wesentlichen Treiber für die rechtspopulistische Revolte in den USA, aber auch in anderen Ländern des Globus.

Die Suche nach dem Gemeinwohl, sie dauert an – und sie wird wohl nie zu Ende gehen. In gewisser Weise ist der Weg tatsächlich das Ziel.