Europa vor der Wahl

Verlorene Jahre oder anhaltende Stabilität?

| 07. März 2024
IMAGO / ZUMA Wire

Die EU-Staaten driften wirtschaftlich immer weiter auseinander. Die europäische Wirtschafts- und Umweltpolitik steht in der neuen Legislaturperiode vor entsprechend großen Aufgaben.

Vier Krisenjahre hat die Europäische Union hinter sich – vorwiegend verursacht durch die wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie und des Ukrainekriegs. Zwar liegt sowohl in der EU als auch in der Eurozone die Wirtschaftsleistung bereits seit 2022 wieder über dem Vorkrisenstand von 2019. Doch ist das nur ein Teil der Wahrheit. Es täuscht über die immensen Verluste der Jahre 2020 und 2021 hinweg: 2020 brach das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU um fast 6 Prozent ein, bei einigen großen Ländern wie etwa Spanien um 11 Prozent, in Italien um 9 Prozent. Diese Verluste wurden nur gerade so wettgemacht.

Zieht man das Vorkrisenjahr 2019 heran und vergleicht damit das durchschnittliche Eurozonen- Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Jahre 2020 bis 2023 ergibt sich ein etwas deutlicheres Bild:

Berechnungen mit Eurostat-Daten ergeben, dass das jahresdurchschnittliche reale Eurozonen-BIP aus dem Vierjahreszeitraum 2020 bis 2023  mit 10,711 Milliarden Euro ziemlich genau dem BIP von 2019 (10,719 Milliarden Euro) entspricht. Verglichen mit diesem Vorkrisenniveau stagnierte die Produktion in den Krisenjahren. Die Eurozone, das ökonomischen Zentrum der EU, verharrte im Nullwachstum.

Nun kann man diese Zahlen unterschiedlich interpretieren. Angefangen von: „verlorene Jahre“ bis hin zu „ziemlich stabil“. Tatsächlich hätte man angesichts der Pandemie und der politischen Zäsur durch einen Krieg in Europa Schlimmeres befürchten können.

Doch die Lage der EU allein nach Wachstumsraten zu beurteilen, wäre verfehlt. Trotzdem müssen sie hier referiert werden, da sie im gegenwärtigen ökonomischen System zentrale Auswirkungen haben.

Was die Statistiken über den Zusammenhalt der Union verraten

Die Gesamtzahlen müssen außerdem differenziert werden: Die Entwicklungen innerhalb Europas verlaufen nicht gleichmäßig: Während etwa die Wirtschaftsleistung in Spanien um die zitierten 11 Prozent einbrach, betrug der Rückgang in Deutschland nur 3,8 Prozent, in Polen nur 2,0 Prozent. Die Krisenbetroffenheit war offensichtlich sehr unterschiedlich.

Eine gängige Größe für Ländervergleiche ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Anhand dieser Daten ergibt sich im Zeitablauf folgendes Bild: Vor allem in Spanien und signifikant auch in Frankreich ist das BIP pro Kopf in Relation zum Durchschnitt der Eurozone gesunken. Betrug etwa das spanische BIP pro Kopf 2019 noch 74 Prozent vom EWU- Durchschnitt, liegt es 2022 bei nur noch 71 Prozent. Frankreich fiel von 101 Prozent auf 97 Prozent, auch Italien verlor leicht.

Länder, die sich – immer in Relation zum Durchschnitt – deutlich verbessert haben, sind die Niederlande und Belgien. 2023 wird diese ungleiche Entwicklung etwas abgebremst. Spanien und Griechenland verzeichneten ein überdurchschnittliches Wachstum, Deutschland fällt zurück.

Quelle: Eigene Berechnung nach eurostat (Für 2023 sind noch keine gesicherten Daten verfügbar.)

Trotzdem setzte sich damit zumindest bis 2023 eine Tendenz fort, die seit Einführung des Euro zu beobachten ist: Die Länder der EWU wachsen nicht zusammen, sondern driften auseinander. Es wäre zu dramatisch, von Verlierer- und Gewinnerländern zu sprechen, da es sich hier nicht um absolute, sondern um relative Größen handelt – aber es gibt seit langem eine auseinanderfallende Entwicklung. Auch die gegenwärtige Wachstumsschwäche Deutschlands ändert daran vorerst wenig.

Dieses Bild mildert sich etwas ab, wenn die großen Nicht-Euro-Länder Polen und Rumänien einbezogen werden. Beide hatten in den vergangenen Jahren ein überdurchschnittliches Wachstum und 2020 nur moderate Einbrüche. Allerdings betragen die Durchschnittseinkommen dort immer noch weniger als die Hälfte des Eurozonendurchschnitts und beide Länder leiden unter einer massiven Arbeitskräfte-Abwanderung.

Die Divergenz der großen Euroländer wird zusätzlich durch die Regionalentwicklung in der EWU verstärkt. Viele Regionen wurden in den letzten Jahrzehnten regelrecht abgehängt, wurden zu Abwanderungs- und Schrumpfregionen. Diese Gebiete fielen also noch stärker zurück als die Staaten, zu denen sie gehören.

Die Unterschiede zwischen reichen und armen Regionen in der Europäischen Währungsunion sind demzufolge größer, als es die Zahlen zu den Nationalökonomien vermuten lassen: In den 30 reichsten Regionen lag das BIP pro Kopf 2017 um das 3,1-fache über dem Pro-Kopf-Einkommen der 30 ärmsten Regionen, die in der Regel in Griechenland, Spanien und Süditalien liegen. Diese Zahlen stammen zwar noch aus dem Jahr 2017, neuere vergleichbare sind derzeit nicht verfügbar. 

Entscheidend für die ungleiche Entwicklung ist aber, dass sich der Abstand zwischen Arm und Reich seit der Einführung des Euro ausgeweitet hat. Daran hat sich auch in den vergangenen Jahren wenig geändert. Aktuelle Stichproben zeigen zwar, dass einige Metropolregionen, wie etwa Rom, ein wenig verloren haben, insgesamt deutet aber einiges daraufhin, dass – was in Krisenjahren naheliegend ist – schwächere Regionen nicht aufgeholt haben und einige von ihnen noch weiter abgerutscht sind.

So hat sich etwa der Abstand zwischen der reichsten Euroregion Hamburg[i] und der ärmsten, Voreio Aigaio (Nordgriechenland) ausgeweitet. Lag das Hamburger BIP pro Kopf 2017 beim 5,7-fachen von Voreio Aigaio, so beträgt es derzeit das 6,2-fache!

Angesichts der Dauerkrise wäre eine deutliche Zuspitzung sozialer Probleme, vor allem wachsende Arbeitslosigkeit, zu erwarten gewesen. Erstaunlicherweise nahm die Arbeitslosigkeit nicht zu, sondern ab. In der Eurozone von 8 Prozent 2019 auf 6,6 Prozent 2023, in der gesamten EU von 7,2 Prozent auf 6 Prozent. Dazu beigetragen haben auch die Programme für Kurzarbeit, die in vielen Ländern mit Unterstützung aus Brüssel umgesetzt wurden und Arbeitsplätze sicherten.

Erneut zeigt sich hier die Divergenz der EU-Länder: Während Deutschland und die Niederlande nach Definition von Eurostat weniger als 4 Prozent Arbeitslosigkeit aufweisen, besteht vor allem in Spanien und Griechenland, aber auch in Italien und Frankreich eine vergleichbar hohe bis sehr hohe Beschäftigungslosigkeit.

Quelle: WKO

Trotz dieser Arbeitsmarktdaten nahm die Zahl der armen oder von Armut bedrohten Personen bedingt durch Einkommensverluste in einigen Staaten zu – auch in Deutschland. Insgesamt gab es in der EU allerdings keinen signifikanten Anstieg der Armut. Das aber ist keineswegs ein Erfolg. Der Anteil der Armen oder von Armut Gefährdeten liegt derzeit bei rund 22 Prozent der europäischen Bevölkerung, das sind 95 Millionen Menschen. Besonders hoch ist die Armutsquote in Italien, Spanien aber auch in den baltischen Staaten.

Die notwendige Reduzierung dieser skandalös hohen Armut blieb in den Krisenjahren erwartungsgemäß aus. Dass sie nicht stark stieg, dürfte an den Hilfsprogrammen liegen, die in den EU-Staaten zur Abfederung der Coronakrise und steigender Energiepreise umgesetzt wurden. Rechnet man diese zusätzlichen Sozial- und Transferleistungen aus den Einkommen heraus, wäre die Armut gestiegen.

Als ein wesentlicher Grund für die ungleiche Entwicklung in der Eurozone werden oft die Leistungsbilanzungleichgewichte genannt. Einerseits hatten Deutschland und die Niederlande zwischen 2010 und 2019 hohe Überschüsse von mehr als 7 Prozent des BIP. Auf der anderen Seite standen die Defizitländer Griechenland, Portugal und in etwas geringerem Ausmaß Frankreich. Spanien und Italien konnte Ihre Defizite aus dem ersten Eurojahrzehnt abbauen und leichte Bilanzüberschüsse erwirtschaften.

Auch ab 2019, das heißt durch die Krisenjahre hindurch, konnten Deutschland (außer in 2022) und die Niederlande ihre Positivsalden beibehalten. Die Niederlande konnten sie sogar ausbauen.  Dagegen rutschen Frankreich und erneut Griechenland in umfangreiche Defizite.

Spanien hielt sich bei einer leicht positiven Bilanz, Italien fiel 2022 nach einigen Überschussjahren wieder in ein Defizit, allerdings weit weniger dramatisch als Frankreich. 

Betrachtet man nicht nur die Leistungsbilanzen insgesamt, sondern auch die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen innerhalb der EU, zeigt sich ein gravierendes Problem, das sich vor allem zwischen den zentralen EU-Staaten Deutschland und Frankreich manifestiert: Der deutsche Überschuss im bilateralen Handel betrug 2023 rund 48 Milliarden Euro und damit fast 2 Prozent des französischen BIP. Dazu kommt noch ein geringfügiges Plus bei den Dienstleistungen. Die deutschen Überschüsse spielen also eine unmittelbare Rolle bei den französischen Wirtschaftsproblemen.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden die Energiebeschaffung und die Energiepreise insbesondere in geopolitischer Hinsicht zu einer Schlüsselfrage für Europa: Vor allem für Länder, die stark von russischem Gas abhängig waren, wie etwa osteuropäische Staaten aber auch Deutschland, Italien und Österreich, waren die sanktionsbedingten Ausfälle eine deutliche Wachstumsbremse und ein Preistreiber mit sozialem Sprengstoff. Die EU reagiert auf dem Ausfall russischer Gaslieferungen mit einem Programm namens REPowerEU, mit dem einerseits der Ausbau der Erneuerbaren Energien beschleunigt, andererseits die Flüssiggasinfrastruktur ausgebaut werden soll. Ökologisch gesehen stehen diese beiden Ziele im Konflikt zueinander.  

Krisenpolitik, Kohäsionspolitik und Next Generation

In der Konsequenz ergeben sich aus den zuvor genannten Problemen große Aufgaben für die europäische Wirtschafts- und Umweltpolitik in der neuen Legislaturperiode:

  • Aus dem Auseinanderdriften von Eurostaaten- und Regionen folgt die Notwendigkeit einer stärkeren Konvergenz- und Regionalpolitik, letztlich einer regionalen europäischen Investitionslenkung fernab von Standortkonkurrenz und Exportorientierung.
  • Die Erfahrung mit der Pandemie zeigt, dass weitere Instrumente für ein aktives Krisenmanagement geschaffen werden müssen.
  • Programme für den sozialen Ausgleich, für Armutsbekämpfung und für Investitionen erfordern zusätzliche Finanzierungsmöglichkeiten der EU. Vor allem müssen die Fiskalrestriktionen der Mitgliedsstaaten beseitigt werden. Genauso wie in Deutschland die Schuldenbremse abgeschafft werden muss, muss in der EU der Fiskalpakt verschwinden.
  • Aus den Problemen mit Lieferketten und Energie resultiert die Notwendigkeit einer ökologischen Industriepolitik. Nicht Wachstum nach altem Muster, sondern die Förderung der Energiewende und von Investitionen in nachhaltiges Wirtschaften und in Kreislaufwirtschaft müssten im Mittelpunkt stehen.

Nun sind solche Forderungen keineswegs utopisch. Einige Ansätze dafür sind in der EU-Politik durchaus vorhanden:

Die EU ist sich der Problematik des Auseinanderdriftens durchaus bewusst. Sie betreibt seit langem (allerdings mit mäßigem Erfolg) „Kohäsionspolitik“, um dem entgegenzuwirken. Im laufenden EU-Haushalt ist mit 373 Milliarden Euro rund ein Drittel des gesamten Etats für Maßnahmen reserviert, die den ökonomischen und sozialen Zusammenhalt stärken sollen.

Mit dem Mega-Programm „Next Generation“ versucht die EU sowohl das Wachstum der europäischen Wirtschaft zu fördern als auch Impulse für den ökologischen Umbau zu setzen und zu guter Letzt der ungleichen Entwicklung entgegenzutreten. Das Budget von 806 Milliarden Euro finanziert sie erstmalig mit umfangreichen Kreditaufnahmen. 

Der Umwelt- und Energiekrise will die EU mit einem „Green Deal“ begegnen. Dieser steht in engem Zusammenhang mit dem EU-Programm „Next Generation“ und versucht unter anderem, die Abhängigkeit von fossilen Energien zu reduzieren.

Was alle diese Programme wert sind, soll in Teil 3 dieser Serie ein wenig genauer eingeschätzt werden. Deutlich ist, dass es in der EU-Politik Ansätze gibt, die unterstützenswert sind. Allerdings stehen die neuen Konzepte und vor allem die ökologischen Ziele unter Beschuss. Derzeit versuchen Konservative und Neoliberale ein Rollback in der Union einzuleiten.

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[i] Hamburg wird hier als reichste Region geführt, da statistisch noch vor Hamburg liegende Regionen in Irland, sowie Luxemburg aufgrund ihrer Funktion als Steueroasen nicht vergleichbar sind.