Kulturkrieg

Wir ignorieren den Kulturkampf auf eigene Gefahr

| 17. September 2022
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Ohne den Sieg im Kulturkampf gegen den Wokism wird die Gesellschaft den Bedürfnissen der einfachen Menschen nicht gerecht werden.

In den Medien wird immer wieder behauptet, der Kulturkampf lenke von den großen Themen unserer Zeit ab, wie etwa der Lebenshaltungskostenkrise. Das  Argument: die normalen Menschen interessierten sich nicht für die Cancel Culture oder für Streitigkeiten über Trans-Rechte. Viele unterstellen, dass die einzigen, die sich für die Kulturkriege interessieren, die Torys seien, die lediglich versuchten, von dem wirtschaftlichen Chaos abzulenken, das sie verursacht haben.

In einem kürzlich erschienenen Essay von Henry Mance in der Financial Times heißt es, die Kämpfe um die Identitätspolitik fühlten sich "aufgesetzt an, verglichen mit dem Druck der Lebenshaltungskosten". Mance behauptet auch, dass "wirtschaftliche Identitäten wieder in den Vordergrund gerückt sind".

Die Geschichte lehrt jedoch, dass die Menschen ihre Notlage nicht ausschließlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sehen und darauf reagieren. Deshalb fragen sich viele Linke nach jeder Wahlniederlage: "Warum wählt die Arbeiterklasse gegen ihre wirtschaftlichen Interessen? Was sie wirklich fragen, aber ist: Warum wählen die Menschen das "Falsche"?

Was Klassen trennt, lässt sich nicht auf Wirtschaft reduzieren

Diese Art von Äußerungen verkennen die Beziehung zwischen Kultur und Klasse fundamental. Kulturelle Konflikte spiegeln oft unterschiedliche Klassengefühle wider. Menschen aus der Arbeiterklasse engagieren sich immer in kulturellen Fragen. Aus diesem Grund haben sie in den letzten Jahren populistische Anliegen unterstützt. Kultur ist kein Nebenschauplatz, der von den großen, wichtigen wirtschaftlichen Auseinandersetzungen getrennt ist. Im Gegenteil, die Kultur ist ein zentraler Aspekt im Leben der Menschen.

Kürzlich twitterte ich meine Unterstützung für Kemi Badenoch als potenzielle Premierministerin mit der Begründung, dass sie bereit sei, den Kulturkampf zu führen. Jemand antwortete sarkastisch, dass "die Obdachlosen und die Menschen in den Lebensmittelbanken von nichts anderem reden". Damit wollte er sagen, dass arme Menschen gänzlich andere Sorgen haben als die Kulturkriege.

Doch was die Klassen trennt, lässt sich nicht allein auf die Wirtschaft reduzieren. Das haben das Brexit-Votum und die Auseinandersetzungen um die Covid-Beschränkungen in den USA und im Vereinigten Königreich deutlich gezeigt. Die Meinungsverschiedenheiten über die EU, das Tragen von Masken und Impfvorschriften spiegelten häufig soziale und Klassenunterschiede wider. Die Klassenzugehörigkeit prägt auch die Haltung der Menschen zu so unterschiedlichen Themen wie Geschlechterpolitik und Einwanderung.

Kultur bestimmt das Bewusstsein

Dafür gibt es einen guten Grund. Die Art und Weise, wie Menschen die Welt sehen, was sie schätzen und was sie vom Leben erwarten, wird durch die Kultur vermittelt. Selbst Themen, die sich üblicherweise als streng politisch oder ökonomisch kategorisieren lassen, werden nicht selten durch die kulturelle Haltung der Menschen reflektiert.

Natürlich werden die menschliche Subjektivität und das Bewusstsein in hohem Maße von den materiellen Umständen und der sozialen Zugehörigkeit beeinflusst. Aber die materiellen Umstände und die soziale Herkunft werden ihrerseits oft durch das von der Kultur bereitgestellte Sinngeflecht verstanden. Die Menschen interpretieren die harten Realitäten des Lebens im Sinne einer kulturellen und moralischen Vorstellung davon, was richtig und falsch ist.

Dies zeigt sich auch im aktuellen Konflikt um die Geschlechteridentität. Eine ältere Generation mit einer anderen kulturellen Einstellung wird oft über die Vorstellung lachen, dass "Frauen" einen Penis haben können. Aber eine jüngere Generation, die die Welt durch eine woke kulturelle Sichtweise sieht, vertritt die kontroverse Ansicht, dass "Frauen" tatsächlich männliche Körper haben können.

Die Kultur liefert nicht nur die Linse, durch die die Menschen die politische und soziale Realität interpretieren - sie beeinflusst auch, wie wir über uns selbst denken. Sie beeinflusst unsere Subjektivität und Fähigkeit zu handeln. Und das ist eines der Hauptprobleme der heutigen "Woke Culture" - sie desorientiert die Menschen und nimmt ihnen die Handlungsmacht.

Hauptziel der "Woke Culture" ist das historische Erbe des Westens

Denn das Hauptziel der heutigen "Woke Culture"-Krieger ist das historische Erbe der westlichen Gesellschaft. Sie versuchen, die Werte und Verhaltensweisen, die mit diesem Erbe verbunden sind, zu diskreditieren. Ziel und Wirkung dieses Kreuzzuges gegen die Vergangenheit ist es, die Menschen von ihren Traditionen, Gemeinschaften und sogar von ihren Familien zu lösen. In dem Maße jedoch, in dem sich eine Gesellschaft von ihrer Vergangenheit löst, verlieren ihre einzelnen Mitglieder das Gefühl für ihren Platz in der Welt. Sie werden moralisch und kulturell desorientiert.

Diese Orientierungslosigkeit und Verwirrung beeinträchtigt die Fähigkeit der Menschen, mit den großen Fragen der Zeit umzugehen, zum Beispiel mit der Lebenshaltungskostenkrise. Eine durchsetzungsfähige und zielgerichtete Reaktion auf die Krise würde eine selbstbewusste Öffentlichkeit erfordern, die weiß, wo sie steht und was sie will. Aber die heutigen Kreuzzüge des Wokism machen das unmöglich. Die Menschen sind sich nicht mehr sicher, wo sie stehen und was sie wollen. Der Kulturkampf gegen die Vergangenheit beraubt die Menschen der kulturellen Ressourcen, die sie brauchen, um in der Gegenwart moralische Klarheit zu erlangen.

Deshalb müssen wir die Kulturkriege ernst nehmen. Die Fähigkeit der Menschen, moralische Klarheit zu erlangen, geht zunehmend verloren. Und infolgedessen wird ihre Kraft, für ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen zu kämpfen, stetig schwächer. Ignorieren wir die Kulturkriege, so ist das unser eigenes Verhängnis.