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Woker Kapitalismus

| 17. September 2022

Liebe Leserinnen und Leser,

freuen Sie sich: Der Kapitalismus ist progressiv geworden – zum verbündeten einer Community, die sich als Verfechterin von Nachhaltigkeit, Gendergerechtigkeit und Diversität sieht.

Doch ist das ein Wunder? Wandlungsfähig war dieser schon immer, setzte sich an die Spitze noch jeder Bewegung für gesellschaftlichen Fortschritt – oder was man auch immer dafür halten mag. Der neue Geist des Kapitalismus ist „woke“ und er hat weite Teile der zuvor antikapitalistischen Linken zu Kooperationspartnern gemacht. Die Antifa ist längst Establishment, und jeder Kapitalist kann auch Antikapitalist. It's the rhetoric, stupid!

Geprägt wurde der Ausdruck „Woke Capitalism“ im Jahr 2018 von Ross Douthat, einem Kolumnisten der New York Times. Der woke Kapitalismus zeichne sich dadurch aus, so Douthat, dass er anstelle teurerer wirtschaftlicher Zugeständnisse wie höhere Löhnen und bessere Sozialleistungen den Arbeitnehmern nun billige rhetorische Phrasen bietet.

Das schöne ist, Phrasen kosten nichts. Woke ist rein performativ. Woke Handlungen bewirken weder mehr echte Gleichheit, noch ändern sie etwas an den Lebensrealitäten der Benachteiligten. Aus diesem Grund kann auch die liberale politische Elite gut in ihm leben. Zumal sich das woke Unternehmertum auch zu einem nützlichen Verbündeten in einem Kulturkampf macht, der in Gestalt der Identitätspolitik respektive Geschlechterpluralismus, Transgender-Rechte oder laxe Einwanderungsstandards tobt.

Der Lohn der Politik sind der Verzicht auf höhere Steuern, stärkere Regulierungen oder Kartellgesetze. Für die liberalen Eliten und die großen Unternehmen ergibt sich eine gesellschaftspolitische Win-Win-Situation. Das Versprechen des woke capitalism ersetzt die Aufgabe des Staates, wirtschafts- und sozialpolitisch für Gerechtigkeit zu sorgen. Und die traditionellen Konservativen, wie etwa Boris Johnson in Großbritannien, heben den kulturpolitischen Fehdehandschuh nicht auf.

Seit Douthats Abrechnung hat der Begriff Karriere gemacht. Vor allem in der Wirtschaft selbst. Denn es gibt kaum ein gesellschaftspolitisches Anliegen, zu dem sich Unternehmen heutzutage nicht äußern – vorzugsweise via Werbeclip.

Doch wie konnte eine Ideologie, die ursprünglich nur von radikalen Randgruppen vertreten wurde, sich so schnell innerhalb der politischen und wirtschaftlichen Eliten ausbreiten?

Ein wichtiger Treiber von Woke sei die tiefe Verwirrung oder Verunsicherung über die eigenen Werte sowie die Angst vieler Institutionen vor dem Verlust der moralischen Autorität, so die These von dem amerikanischen Soziologen Daniel Bell in seinem bereits 1976 erschienenen Buch über die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus.

Tatsächlich geht die Kritik am westlichen Lebensstil, dem Kapitalismus oder an seinen Institutionen bis in die Zeit des frühen 20. Jahrhunderts zurück. Für Sebastian Müller sind sie nicht zuletzt die Spätfolge einer zunehmenden Ausdifferenzierung und Anominisierung sozialer und gesellschaftlicher Strukturen. Das Beispiel der Fußballer, die vor einem Länderspiel niederknien zeigt, wie sehr der neue „woke“ Antirassismus zu einer Art Läuterungsritual geworden ist.

Doch darf man den Kulturkampf als einen Nebenkriegsschauplatz abtun, ganz nach dem linkem Credo, dass doch der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit das Wesentliche ist? Weil das Gro der Menschen andere Sorgen hat als Cancel Culture oder Streitigkeiten über Trans-Rechte?

Im Gegenteil, Frank Furedi sieht in der Kultur einen zentralen Aspekt im Leben der Menschen, wie das Brexit-Votum und die Auseinandersetzungen um die Covid-Beschränkungen in den USA und im Vereinigten Königreich deutlich gezeigt hätten. Die Klassenzugehörigkeit präge die Haltung der Menschen zu so unterschiedlichen Themen wie Geschlechterpolitik und Einwanderung. Selbst Themen, die sich üblicherweise als streng politisch oder ökonomisch kategorisieren lassen, würden nicht selten durch die kulturelle Haltung der Menschen reflektiert.

Woke also ist mehr als reine Heuchelei oder eine abstruse Debatte. Sie ist eine moderne Form der „teile und herrsche Strategie“. Es ist der Kotau des Rechtsstaates und des allgemeinen Gleichheitssatzes vor einer elitären Bewegung, die – wie der Untertitel des Buchs „How Woke Won“ von Joanna Williams sagt – nichts weniger als die Demokratie, Toleranz und Vernunft bedroht.