Genial daneben

Misswirtschaft durch Privatisierung

| 06. März 2024
IMAGO / Funke Foto Services (bearbeitet)

Die Wirtschaftspresse fordert im Einklang mit FDP und CDU die Privatisierung von Sozialleistungen. Sie wollen „Misswirtschaft“ im Sozialstaat eindämmen, fördern aber Ressourcenverschwendung.

Wieder einmal wird der Sozialstaat zum Sündenbock für alles gemacht, was gerade wirtschaftlich und fiskalisch schiefläuft. Christian Lindner hat bei Maybrit Illner gefordert, weitere Hilfen für die Ukraine mit Einschränkungen der Sozialleistungen zu finanzieren. Mit anderen Worten: Arbeitslose, Wohngeldempfänger, Sozialrentner und Pflegebedürftige sollen die Waffenlieferungen bezahlen. Damit hat Lindner den Demagogen von der AfD eine Steilvorlage geliefert.

Das Handelsblatt stößt ins selbe Horn und fordert, den Sozialstaat und seine „Misswirtschaft“ nicht weiter zu schonen und „richtig zu reformieren“: „Die wachsende Kriegsgefahr, die schlechte Ausstattung der Armee und die Sparzwänge an allen Ecken und Enden des Staates, der Wirtschaft und Gesellschaft entziehen den wachsenden Sozialausgaben die Legitimation.“

Die CDU tritt in ihrem Entwurf eines Grundsatzprogramms für mehr „Eigenvorsorge“ in der Krankenversicherung und eine „verpflichtende kapitalgedeckte Alterssicherung“ ein. Das werden Versicherungs- und Finanzwirtschaft schärfstens begrüßen, denn davon profitieren nur sie und sonst niemand.

Gruselmärchen

Handelsblatt und FAZ beziehen sich bei ihrem jüngsten Angriff auf den Sozialstaat auf ein vom Verband junger Unternehmer bezahltes Gutachten der Ökonomen Stefan Fetzer und Christian Hagist, die den Sozialstaat an einem „Kipppunkt“ sehen. Ohne einen grundlegenden Umbau der Sozialversicherung zur privaten Risikovorsorge würden die Sozialabgaben bis 2050 von heute 40 auf mindestens 50 Prozent der Bruttolöhne steigen.

Für die von ihnen prognostizierte „Abgabenbombe“ (Bild) machen sie zwei Entwicklungen verantwortlich. Zum einen sorge die Alterung der Gesellschaft für über den Lohnzuwächsen liegende Ausgabensteigerungen der Rentenversicherung. Den gleichen Effekt habe der medizinische Fortschritt für die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

Fetzer und Hagist käuen das von ihrem akademischer Ziehvater Bernd Raffelhüschen seit über zwanzig Jahren erzählte Gruselmärchen wieder, die junge Generation werde durch eine vom Sozialstaat gepamperte Gerontokratie ausgebeutet. Mit Hilfe von „Generationenbilanzen“ will er den Eindruck erwecken, die junge Generation müsse für einen vom Sozialversicherungssystem produzierten riesigen Schuldenberg aufkommen.

Das ist kompletter Unsinn. Rentenversicherungen beruhen grundsätzlich darauf, mit den Beiträgen Ansprüche zu erwerben, die erst in der Zukunft eingelöst und erwirtschaftet werden. Das gilt für die umlagefinanzierte Rentenversicherung ebenso wie für kapitalgedeckte Alterssicherungen. Der Unterschied liegt im Gewährleistungsträger. Das sind beim Umlagesystem die heimische Volkswirtschaft und die Politik, bei der Kapitaldeckung die Versicherungsunternehmen und der internationale Kapitalmarkt.

Raffelhüschens Modell der Generationenbilanz ist auch methodisch unseriös. Es beschränkt sich auf die Saldierung der zukünftigen Belastungen der Jüngeren durch die Renten sowie Krankheits- und Pflegekosten ihrer Eltern und Großeltern. Damit werden andere intergenerative Transfers ignoriert:

  • Die von der älteren Generation finanzierten Erziehungs- und Bildungsausgaben für ihren Nachwuchs werden nicht in Rechnung gestellt.
  • Auch die von ihr aufgebaute Infrastruktur der Volkswirtschaft und produzierten Effekte des technischen Fortschritts müssten berücksichtigt werden. Das ist allerdings mangels geeigneter Daten kaum möglich.
  • Sogar die statistisch erfassbaren intergenerativen Vermögenstransfers in Form von Schenkungen und Erbschaften ignoriert Raffelhüschen. Sie betreffen nur die bessergestellten Schichten und zeigen, dass das eigentliche Problem nicht die intergenerative, sondern die intragenerative Verteilung ist.

Sozialstaat und ökonomische Entwicklung

Richtig ist, dass die Rentenbezugszeiten dank steigender Lebenserwartung gewachsen sind. Auch sind die Ausgaben für die medizinische Versorgung und die Pflege für ältere Menschen naturgemäß höher als für jüngere. Aber das führt nicht zu einer Überforderung der Volkswirtschaft und der Sozialleistungssysteme.

Im Jahr 1900 kamen 12,4 Personen im erwerbsfähigen Alter auf eine Person im Alter von über 64 Jahren. 50 Jahre später lag diese Quote bei 6,9, heute liegt sie bei 3,6. Der Anteil des Sozialbudgets am Bruttoinlandsprodukt stieg zwischen 1950 und 1975 von 17,1 Prozent auf 26,2 Prozent und beträgt heute (2022) 30,5 Prozent.

Dieses Wachstum der Sozialausgaben ist mit einer steigenden Produktivität der Wirtschaft und einem wachsenden Lebensstandard einhergegangen. Das muss für alle Ökonomen, Journalisten und Politiker, die unsere Sozialversicherung als nicht mehr finanzierbar und als Gefahr für den Wohlstand darstellen, ein Rätsel sein.

Auch ihre ständig wiederholte Behauptung, unser Sozialbudget sei im internationalen Vergleich zu teuer und gefährde die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, hat keine empirische Substanz. Der Anteil der Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt liegt in Deutschland auf dem Niveau vergleichbarer Volkswirtschaften. Das hat kürzlich die Hans-Böckler-Stiftung in einem Vergleich der OECD-Staaten gezeigt. 

Misswirtschaft durch Privatisierung

Die Story vom nicht mehr bezahlbaren Sozialstaat wird seit über 40 Jahren von Leuten erzählt, die mit ergebnisorientierten Berechnungen und steilen Thesen in die Öffentlichkeit drängen. Sie behaupten unverdrossen und faktenfrei, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer würden beide von einer Privatisierung der von der Sozialversicherung abgesicherten Lebensrisiken profitieren. Es wird so getan, als würden diese Kosten nicht mehr existieren, wenn sie nicht mehr als Sozialabgaben auf dem Lohnzettel auftauchen. Das ist eine Irreführung.

Denn nicht der Sozialstaat bedeutet systematische „Misswirtschaft“ (Handelsblatt), sondern die Übertragung seiner Aufgaben auf die private Versicherungswirtschaft.

Hier drei Beispiele, die ich an anderer Stelle ausführlicher behandele:

  • Die Private Krankenversicherung (PKV) gibt für die gleichen Leistungen dreißig Prozent mehr aus als die GKV. Zwar werden stationäre Behandlungen von ihnen mit den gleichen Fallpauschalen vergütet. Auch die Apothekenpreise unterscheiden sich nicht, sieht man von den Rabattverträgen der GKV ab. In der ambulanten Versorgung hingegen zahlt die PKV für die gleichen Leistungen mehr als doppelt so hohe Honorare wie die GKV.
  • Mit der Umstellung der sozialen Rentenversicherung auf kapitalgedeckte Fonds wird die Alterssicherung nicht mehr von demokratisch gefällten politischen Entscheidungen reguliert. Sie wird abhängig von den Launen der globalen Kapitalmärkte, einem kaum kontrollierbaren System der organisierten Verantwortungslosigkeit.
  • Das Umlagesystem hat deutlich niedrigere Overhead-Kosten. Die PKV hat pro versicherte Person doppelt so hohe Verwaltungsausgaben wie die GKV. Die Deutsche Rentenversicherung gibt 1,5 Prozent der ausgezahlten Rentensumme für ihre Verwaltung aus. In den Niederlanden, wo etwa die Hälfte der Renten von kapitalgedeckten Fonds finanziert werden, kassieren Finanzgiganten wie Blackrock und Vanguard jährlich acht bis neun Milliarden Euro als Provisionen, bei einer ausgezahlten Rentensumme von etwa dreißig Milliarden Euro.

Lebenslüge

Die Kürzungen der vom Sozialstaat abgesicherten Lebensrisiken sind keine Einsparungen, sondern verlagern die Ausgaben auf die Privathaushalte und bringen höhere Lebenshaltungskosten. Die werden bei den Tarifverhandlungen geltend gemacht. Das von der Wirtschaftspresse und Arbeitgeberverbänden gepflegte Mantra, mit einer durch Privatisierung erzielten Kürzung der Sozialabgaben würden die Lohnkosten sinken und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen gestärkt, ist eine Lebenslüge. Sie gleicht dem Glauben von Kleinkindern, man würde sie nicht mehr sehen, wenn sie sich die Hände vors Gesicht halten.