Welt in der Polykrise

Tooze und Metzinger: Intellektuelle Redlichkeit in einer Welt der losen Enden

| 28. Januar 2025
Mika Baumeister / Unsplash

Adam Tooze sieht die Welt seit 2008 in einer „Polykrise“. Seine „Kritik des Kapitalozentrismus“ gilt einem „doppelten blinden Fleck“: intellektuell und gegenüber der Realität.

In einer Welt, die sich in einem Schockzustand der „Polykrise“ befindet, schreibt Adam Tooze, sei die „Rückkehr zu den klassischen Grundlagen“ – bei einigen zu Marx, bei anderen zu Keynes, zur MMT oder dem Green New Deal – verständlich und notwendig, aber unzureichend:

„Wenn wir die Kritik auf klassischen Gesellschaftstheorien gründen, die vor allem in der Zeit von 1900 bis 1950 geprägt wurden, laufen wir Gefahr, die Dramatik der Gegenwart zu unterschätzen.“

Drei Dimensionen charakterisieren nach Tooze deren Ausmaß und Tempo: Erstens das Ausmaß und die Ressourcen des modernen Wirtschaftswachstums und der Technologie, die Milliarden von Menschen betrifft. Heute leben 8 Milliarden gegenüber 2 Milliarden vor 100 Jahren bzw. eine Milliarde zu Beginn der Industrialisierung. Diese Dimension von Wirtschaftswachstum und Technologie verleihe einer kleinen Gruppe von Eliten enorme Macht. Die zweite Dimension sei „das neue multipolare Wettrüsten“, die dritte die „vielschichtige und eskalierende Umweltkrise“.

„Die ökologische Krise muss jetzt der Schrittmacher und das Paradigma allen kritischen Denkens sein“, sagt Tooze. Die Entwicklung der CO2-Emissionen der gesamten modernen Wirtschaftsgeschichte hebe unmissverständlich die völlige Neuheit und Radikalität der Gegenwart hervor.

Datenquelle: Global Carbon Budget (2024). OurWorldinData (co2-and-greenhouse-gas-emissions I CC BY)

Zurück zur klassischen Kritischen Theorie, die größtenteils bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts formuliert wurde. Wie man mit bloßem Auge sehen kann (siehe die linke Hälfte der obigen Grafik), hatten sie wenig oder gar keine Berührungspunkte mit dem gegenwärtigen Dilemma. Tooze formuliert es so:  

„Man könnte sagen, dass im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Muster des fossilen Kapitalismus und dessen Strukturen etabliert und festgelegt wurden. Aber Quantitäten sind wichtig. Und erst die große globale Beschleunigung seit dem Zweiten Weltkrieg hat Quantität in Qualität verwandelt.“

Eine Einbahnstraße ins Ungewisse

Tooze zitiert den schottischen Politologen Mark Blyth, der vom „Klimazusammenbruch“ als riesigen „nichtlinearen Ergebnisgenerator mit bösen Krümmungen“ spricht. In anderen Worten: Es gäbe keinen Mittelwert, keinen Durchschnitt, keine Rückkehr zur Normalität. Es ist eine Einbahnstraße ins Ungewisse.

Das wirft eine fundamentale Frage auf: Kann sich die kritische Gesellschaftstheorie mit einer solchen Realität auseinandersetzen, wenn diese keinen Mittelwert, keinen Durchschnitt, keine Rückkehr zur Normalität kennt? Welche Theorie kann bestehen auf dem Weg ins Ungewisse? Denn die Hypothese, die der theoretischen Strecke von den 1920er, 1930er oder 1940er Jahren bis in die Gegenwart zugrunde liegt, schreibt Tooze, „ist die der strukturellen Kontinuität.“ Doch das unterschätze „den radikalen Bruch, der durch die große Beschleunigung seit 1945 gekennzeichnet ist.“

„Die Große Transformation, die Polanyi diagnostizierte, ist für uns auch heute noch von Bedeutung. Gramscis Idee des Interregnums erhellt immer noch unsere Realität. (…) Wie verträgt sich diese Art von intellektueller Immobilität mit dem vielgestaltigen und spektakulären Wandel, der unsere Gegenwart bestimmt?“

Mit Verweis auf die poststrukturalistische Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick kritisiert er den totalisierenden Effekt, den die Subsumtion der gegenwärtigen misslichen Weltlage unter eine konsistente geschlossene Theorie generiere. Totalisierende Konzepte, wie das „Kapitalozän“ sind für Tooze nicht die Lösung, sondern Teil des Problems, weil „sie dazu neigen, das Ausmaß der Katastrophe zu unterschätzen.“

Das Konzept der Polykrise dürfe also nicht als geschlossenes Konzept verstanden werden, dass die unüberblickbar vielen und verschiedenen Krisen als Folgen einer zentralen Ursache beschreibt, etwa des Kapitalverhältnisses, der imperialen Lebensweise oder der Finanzialisierung. Vielmehr bräuchte es „irritierende Ideen, die nicht-essenzialisierende Gedanken provozieren.“

Die Eskalation der Umweltkrise, das Aufkommen multipolarer Großmachtrivalitäten, die Eskalation regionaler Konflikte in Verbindung mit dem nuklearen Wettrüsten und die außergewöhnliche Beschleunigung des oligarchischen Reichtums wie bei Musk hätten eine neuartige Situation geschaffen. Eine Welt, die „aus den Fugen gerät“, schreibt Tooze, könnte genau die Art von Konzeptualisierung sein, die wir benötigen, um den gegenwärtigen Moment zu beschreiben: Es gibt keinen Durchschnitt, keine Norm, keine Rückkehr zur Normalität. Es ist eine Einbahnstraße ins Ungewisse.

Das Chaos ist nicht nur mangelnde Erkenntnis – es ist objektiv

Für Tooze ist diese unübersichtliche, chaotische Konstellation nicht nur durch mangelnde Erkenntnis, unzulängliche Theorie, fehlende Daten, schwache Empirie oder intellektuelle Schwäche bedingt. Die Unübersichtlichkeit sei objektiv, da die Welt selbst im Chaos ist – getrieben von verschiedenen, unzusammenhängenden, sich überschneidenden, durchkreuzenden, verstärkenden oder abschwächenden Prozessen: Wirtschaftliche Innovationen, die sich kombinieren oder auslöschen, Wachstum und Schrumpfung, Aufstieg und Niedergang. Machtkämpfe mit Siegen und Niederlagen. Heimtücke und Heroismus. Überwindung von Armut und neue Verelendung.

Ganzheitliche Erklärungen und Theorien versuchen, dieses Chaos divergierender Prozesse als eine irgendwie synchronisierte Welt zu verstehen – im Guten wie im Bösen. Ja, selbstverständlich können wir nicht auf intellektuelle Erklärungen verzichten, die Zusammenhänge und Abhängigkeiten ergründen und modellieren. Innovationen, Wirtschaftswachstum und ökologische Krisen hängen zusammen. Genauso wie Kreditvergabe und Finanzmärkte, Zins und wirtschaftliche Dynamik, Lohnentwicklung und Deflation bzw. Inflation. Würden wir nur noch das Chaos und die losen Enden sehen, alles hängt nicht mit allem zusammen, könnte man nur noch dreimal „Om“ sagen.

Trotzdem hat Tooze recht, wenn er befürchtet, das ganzheitliche Krisenerklärungen oft genau das verdecken, was das Besondere und Neue seit der langen Finanzkrise 2008 und der anschließenden Depression oder vielleicht schon neu ist seit den 1990er Jahren. Die letzte stabile Wirtschafts- und Weltordnung der 1950er bis 1960er Jahre war nur scheinbar eine stabile Wachstums-, Wohlstands- und Sicherheitsordnung. Die staatssozialistischen Wirtschaftssysteme befanden sich seit den 1970er Jahren in einem unvermeidlichen Niedergang. Auch der Westen geriet in eine Krise. Er versuchte sie zu umgehen, indem der die realwirtschaftliche Entwicklung zunehmend durch Finanzspekulationen ergänzte und sie schließlich der Dominanz der Finanzmärkte unterordnete.

Der Weg in die ökologische Krise begann indes schon in den 1970er Jahren. Die auf der atomaren Abschreckung beruhende Friedens- und Sicherheitsordnung barg immer die Gefahr einer Selbstzerstörung der Welt durch technische oder menschliche Fehler oder durch politische Kräfte mit tödlichen Macht- und Hegemonieansprüchen. Aber die Situation nach 1990 oder auch nach 2008 ist neu: es gibt nicht mehr die neutralisierenden Metastrukturen des Kalten Kriegs und der Kapitalherrschaft, die das Chaos kontrollieren und kanalisieren. An allen möglichen Stellen brechen die Mauern und Bande.

Was tun in der Polykrise?

Dies wissend wird weiter daran gearbeitet werden, Zusammenhänge zu ergründen, Ursachen in Teilbereichen der Polykrise zu verstehen, Strategien für die Lösung einzelner Probleme zu entwickeln und umzusetzen. Eine Erkenntnis dabei ist, dass immer sehr viel mehr möglich wäre als tatsächlich versucht und realisiert wird. Oft wird sogar das Gegenteil bewirkt: die scheinbaren Lösungen verschärfen Krise und Chaos. Genau diese Beziehung zwischen Krise und die Krise verschärfender Reaktion ist vielleicht das gravierende Problem, der Grund, warum die Welt aus den Fugen gerät.

Das Chaos der offenen Enden ist nicht nur der objektiven Umbruchskonstellation im Wirtschaftssystem, der Umweltkrise und einer Krise des politischen Systems geschuldet, sondern wird gerade dadurch getriggert, dass es zwar eine Vielzahl sozialer und politischer Bewegungen gibt, die unterschiedliche Probleme und Anliegen mehr oder weniger vehement artikulieren, darunter rechte, und konservative, nationalistische und neoliberale, ebenso wie linke, emanzipatorische und lebensweltliche Bewegungen. Aber es gibt keine Verallgemeinerung, keine Kompromisse und keinen Konsens über mögliche nächste Schritte. Die Divergenzen der überwiegend gegeneinander agierenden sozialen Bewegungen vergrößern das Chaos und blockieren bislang möglichen Schneisen der Reorganisation; es entsteht kein historischer Block, keine hegemoniale Bewegung (im Sinne Gramscis). Trumps Wahlsieg hat es noch schlimmer gemacht. Oder vielleicht einfacher.

Was folgt aus all dem Hindernissen? Man kann nichts tun in der Polykrise? Handeln macht es eher noch schlimmer? Aber Nichthandeln ist keine Option. Wir können nicht anders als an den noch unzureichenden Lösungen weiter zu basteln, auch wenn die Resultate ungewiss bleiben. In diesem Sinne fordert der deutsche Philosoph Thomas Metzinger[1] „eine etwas radikalere Form von Ehrlichkeit“:

„Realistisch betrachtet sind unsere Handlungsoptionen mittlerweile nur noch auf Schadensbegrenzung und ein möglichst intelligentes Krisenmanagement beschränkt. (…) Um überhaupt eine Chance zu haben, noch möglichst viel zu retten, müssen wir uns sowohl von ideologischen Formen eines Zweckpessimismus als auch von den vielen verlogenen Varianten eines reinen Zweckoptimismus befreien. Es ist der Realismus, der auf eine neue Ebene gehoben werden muss.“

Soweit Metzinger. Eine Welt, die aus den Fugen gerät. Es gibt keinen Durchschnitt, keine Norm, keine Rückkehr zur Normalität. Eine Einbahnstraße ins Ungewisse.

Der Artikel bezieht sich auf Adam Tooze: Polycrisis & the critique of capitalocentrism. Alle Zitate, sofern kein anderer Autor angegeben ist, stammen aus diesem Text und sind von Rainer Land ins Deutsche übersetzt.

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[1]          Thomas Metzinger (2023); Bewusstseinskultur. Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise. Berlin, München, Piper Verlag GmbH