Die Linke: Pflege als Jobmotor?
400.000 Fachkräfte fehlen dem deutschen Arbeitsmarkt – Tendenz steigend. Die Auswirkungen sind in Krankenhäusern, Pflegeheimen und ambulanten Diensten längst spürbar: überlastetes Personal, überfüllte Stationen, verlängerte Wartezeiten und eine stetig sinkende Versorgungsqualität.
Pflege ist nicht nur ein humanitärer Sektor – sie ist auch ein zentraler Teil der Volkswirtschaft. Die Gesundheits- und Pflegebranche beschäftigt in Deutschland über sechs Millionen Menschen und trägt erheblich zur Wertschöpfung bei: Mit einer Bruttowertschöpfung von rund 435 Milliarden Euro macht sie mehr als elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Eine Förderung dieses Bereichs ist daher nicht nur gesellschaftlich notwendig, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll. Statt Pflege als reinen Kostenfaktor zu betrachten, könnte eine gezielte staatliche Investition die Branche langfristig stabilisieren und gleichzeitig Beschäftigung sowie Produktivität steigern.
Mit der Bundestagswahl 2025 rückt das Thema wieder mehr in den Mittelpunkt. Die Partei Die Linke schlägt in ihrem Wahlprogramm eine Reform des Gesundheitswesens vor: Stärkere staatliche Kontrolle, Steigerung der Tarifbindung sowie eine Mindestlohnerhöhung auf mindestens 15 Euro in 2025 und spätestens 2026 auf 16 Euro. Letzteres käme auch nicht-tarifgebundenen Arbeitnehmern im Gesundheitswesen zugute.
Warum Pflegekräfte den Beruf verlassen
Die Pflegekrise in Deutschland ist das Ergebnis einer Vielzahl struktureller Probleme, die weit über die bloße Bezahlung hinausgehen. Zwar sind niedrige Löhne ein wichtiger Faktor, doch sie allein erklären nicht, warum so viele Fachkräfte den Beruf verlassen oder sich gar nicht erst für ihn entscheiden.
Auch die extreme Arbeitsbelastung, welche viele Pflegekräfte an ihre Grenzen bringt, ist ein wesentliche Ursache für die Pflegekrise. Die Personalschlüssel sind nicht selten so knapp bemessen, dass Überstunden zur Regel werden und viele Beschäftigte spontan an ihrem freien Tag einspringen müssen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Diese permanente Überforderung führt nicht nur zu steigenden Burnout-Raten, sondern macht den Beruf auch für den Auszubildende immer unattraktiver.
Viele Pflegekräfte verlieren über die Jahre die Motivation und wechseln in besser planbare Tätigkeiten, etwa in die Verwaltung oder Pharmaindustrie. Der Mangel an attraktiv gestalteten Arbeitsmodellen verstärkt den Personalnotstand zusätzlich. Eine Studie der Arbeitnehmerkammer Bremen zeigt, dass viele Pflegekräfte aufgrund der hohen Arbeitsbelastung ihre Arbeitszeit reduzieren oder den Beruf ganz verlassen.
Flexible Arbeitszeitmodelle und eine bedarfsorientierte Personalbemessung könnten dazu beitragen, diese Fachkräfte zurückzugewinnen. Folgende Grafik zeigt die zehn wichtigsten Forderungen von Pflegekräften an Arbeitsbedingungen, um wieder in ihren ehemaligen Beruf einzusteigen:
Ein weiteres großes Problem sind fehlende Karriereperspektiven. In vielen anderen Berufsgruppen gibt es klar definierte Aufstiegsmodelle, mit denen sich Fachkräfte über Weiterbildungen und Spezialisierungen schrittweise nach oben arbeiten können.
In der Pflege hingegen bleiben viele Beschäftigte über Jahrzehnte auf demselben Gehalts- und Qualifikationsniveau. Zwar existieren spezialisierte Fortbildungen, doch diese sind oft mit finanziellen Einbußen verbunden oder bieten kaum einen nennenswerten Gehaltszuwachs.
In der Folge entsteht eine Abwärtsspirale: Diejenigen, die ehrgeizig sind und Aufstiegsmöglichkeiten suchen, verlassen die Pflege – während der verbleibende Kern immer stärker belastet wird. Laut einer Studie von PwC können sich lediglich 30 Prozent der befragten Ärzte und Pflegekräfte vorstellen, ihren Beruf bis zur Rente auszuüben. Diese fehlenden Perspektiven tragen maßgeblich dazu bei, dass viele Fachkräfte den Pflegeberuf verlassen.
Privatisierung vs. staatliche Steuerung
Das deutsche Gesundheitswesen setzt zunehmend auf private Anbieter. In den letzten Jahrzehnten wurden immer mehr Pflegeeinrichtungen privatisiert. Während diese Einrichtungen auf Effizienz getrimmt werden, bleibt die Personalstruktur auf der Strecke. Krankenhäuser und Pflegeheime müssen zunehmend Profite erwirtschaften – und das geht oft auf Kosten der Beschäftigten. Die Folge: Hohe Arbeitsbelastung, weniger Zeit für Patienten und steigender wirtschaftlicher Druck auf das Personal.
Die Linke setzt sie an diesem Punkt an, indem sie eine stärkere staatliche „Kontrolle“ über das Gesundheitswesen fordert. Konkret schlägt die Partei in ihrem Wahlprogramm vor, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen schrittweise zu rekommunalisieren, um den Profitdruck zu verringern und eine nachhaltigere, nicht renditegetriebene Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Zusätzlich setzt sie auf eine Reform der Gemeindefinanzierung, damit Kommunen ausreichend Mittel haben, um die soziale Infrastruktur langfristig sicherzustellen.
Dänemark als Modell?
Allerdings wäre eine vollständige Rekommunalisierung politisch und finanziell herausfordernd. Dänemark zeigt hingegen, dass auch eine gezielte öffentliche Steuerung die Qualität und Attraktivität des Pflegeberufs nachhaltig verbessern kann. Entscheidend wäre jedoch, dass Reformen mit ausreichender Finanzierung einhergehen – und genau hier bleibt das Wahlprogramm der Linken vage.
Dänemarks staatlich gesteuerte Gesundheitsversorgung verhindert viele strukturelle Probleme, die Deutschland derzeit plagen. Das dänische System ist stark zentralisiert und wird von fünf Regionen verwaltet: Pflegeeinrichtungen, häusliche Pflege und soziale Gesundheitsdienste fallen in die Zuständigkeit der 98 Gemeinden. Krankenhäuser sind öffentlich finanziert und werden direkt von den Regionen betrieben. Die Finanzierung erfolgt durch eine nationale Gesundheitssteuer, die über das Einkommen erhoben wird.
Ein entscheidender Vorteil des dänischen Modells ist die bessere Personalbemessung. Dort gibt es eine zentral geregelte Anzahl von Pflegekräften pro Patienten, was Überstunden und Überlastung reduziert. Im deutschen Gesundheitssystem hingegen ist der wirtschaftliche Druck höher, da viele Pflegeeinrichtungen privat und mit Renditeerwartungen geführt werden. Die Folge: Pflegekräfte in Deutschland sind oft für mehrere Patienten gleichzeitig verantwortlich, während Dänemark seine Personalausstattung realistischer an den Bedarf anpasst.
Auch in der Digitalisierung ist Dänemark Deutschland weit voraus. Eine landesweit vernetzte elektronische Patientenakte ermöglicht eine effizientere Versorgung und reduziert Bürokratie. Während Pflegekräfte in Deutschland bis zu 40 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Dokumentation verbringen, entlastet Dänemark sein Personal durch digitalisierte Abläufe.
Ein stärker reguliertes, nicht profitorientiertes Gesundheitswesen kann eine bedarfsgerechtere Arbeitsumgebung für Pflegekräfte schaffen. Dänemark zeigt, dass eine gezielte öffentliche Steuerung und Investitionen in Personal und Digitalisierung zu einer besseren Personalausstattung führen. Zudem ergeben sich trotz der intensiveren Betreuung langfristig auch positive Effekte bei der Behandlungsdauer – ohne dass die Pflegekräfte an der Belastungsgrenze arbeiten müssen.
Um langfristig eine stabile und leistungsfähige Pflegebranche zu gewährleisten, reicht es nicht aus, nur an einzelnen Stellschrauben zu drehen. Höhere Löhne allein können das Problem nicht vollständig lösen, wenn die strukturellen Defizite im System bestehen bleiben, die insbesondere in der profitorientierten Ausrichtung der Krankenhäuser liegen. Die uneinheitliche Finanzierung erschwert zudem eine gezieltere Steuerung. Ein entscheidender Faktor ist die Frage, wie Deutschland mit dem akuten Personalmangel umgeht – und hier spielt Fachkräftezuwanderung eine zentrale Rolle.
Die Grenzen der bisherigen Anwerbepolitik
Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) macht deutlich, dass Deutschland ohne internationale Fachkräfte den Pflegebetrieb nicht aufrechterhalten könnte. Denn die derzeitige Strategie stößt an ihre Grenzen: Langwierige Anerkennungsverfahren und schlechte Arbeitsbedingungen führen dazu, dass viele Fachkräfte das Land wieder verlassen, bevor sie sich langfristig in den Beruf integrieren können.
Zudem unterstreicht das IAB die Ausgestaltung der Migration als einen zentralen Faktor für eine erfolgreiche Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten und Migranten. Migration soll nicht nur individuelle Perspektiven verbessern, sondern auch einen erheblichen Beitrag zur Stabilität des deutschen Arbeitsmarktes leisten. Gerade in Branchen mit akutem Fachkräftemangel, wie der Pflege, ist Deutschland auf internationale Arbeitskräfte angewiesen.
Allerdings verhindern bürokratische Hürden, langsame Anerkennungsverfahren und unattraktive Arbeitsbedingungen eine nachhaltige Integration. Ohne gezielte Reformen – insbesondere eine schnellere Anerkennung ausländischer Abschlüsse, bessere Sprachförderung und attraktivere Arbeitsbedingungen – wird Deutschland im globalen Wettbewerb um Fachkräfte weiter zurückfallen.
Gleichwohl kann der Arbeitskräftemangel in der Pflege nicht allein durch verstärkte Zuwanderung beseitigt werden. Eine langfristige Strategie muss auch inländischen Fachkräften eine höhere Attraktivität des Berufs bieten, um bestehende Pflegekräfte zu halten und neue zu gewinnen. Das stelle ich in einem Artikel mit Kollegen im IAB-Forum heraus.
Brain Drain als globale Herausforderung
Die Abwerbung von Fachkräften aus wirtschaftlich schwächeren Ländern hat aber auch eine Kehrseite – sie verstärkt den sogenannten Braindrain: Deutschland profitiert von bereits ausgebildeten Fachkräften, ohne selbst in deren Ausbildung investiert zu haben, während die Gesundheitssysteme in den Herkunftsstaaten destabilisiert werden.
Wie eine ausgewogene Fachkräfteanwerbung gehen kann, zeigt das Triple-Win-Programm der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ). Es zeigt, dass Migration nachhaltig und fair gestaltet werden kann, wenn sie strategisch geplant und auf gegenseitigen Nutzen ausgelegt ist.
Das bedeutet, dass für die Fachkräfteanwerbung gezielt Länder mit einem Überschuss an Pflegekräften ausgewählt werden. Gleichzeitig erhalten die migrierten Fachkräfte eine strukturierte sprachliche, fachliche und soziale Vorbereitung, die ihre langfristige Integration in Deutschland erleichtert. Damit dient das Programm als Vorbild für eine verantwortungsvolle Arbeitsmigration, die sowohl Deutschland als auch den Herkunftsländern Vorteile bringt. Ein solches Modell könnte helfen, Fachkräftebedarfe zu decken, ohne bestehende Ungleichheiten weiter zu verschärfen.
Die Lösung wäre eine kombinierte Strategie
Anstatt ausschließlich auf Zuwanderung zu setzen, müsste Deutschland eine kombinierte Strategie verfolgen. Zum einen ist es wichtig, bürokratische Prozesse für Fachkräfte aus dem Ausland drastisch zu verkürzen, damit sie nicht jahrelang als Hilfskräfte arbeiten müssen. Wer zuwandert, muss langfristige Perspektiven und gute Bedingungen vorfinden – sonst bleibt Deutschland nur eine Durchgangsstation.
Mit anderen Worten: Pflege ist nicht nur ein Kostenfaktor, sondern auch Jobmotor und Investition in die Zukunft. Mit besseren Arbeitsbedingungen könnten viele Fachkräfte zurückgewonnen werden. Ein regulierter Gesundheitssektor kann wirtschaftlich stabiler, gerechter und effizienter sein als die jetzige, teils profitorientierte Struktur.
Die Reformvorschläge der Linken gehen in die richtige Richtung, da sie auf eine stärkere staatliche Steuerung des Gesundheitssektors, bessere Löhne und sichere Arbeitsbedingungen setzen. Allerdings wird ihr Reformprogramm aufgrund der Frage der Finanzierung (eine Reform der Gemeindefinanzierung ist weit weg) und der fehlenden politischen Mehrheitsfähigkeit eine reine Absichtserklärung bleiben.
Dieser Artikel ist Teil einer Serie: Studentinnen und Studenten haben im Auftrag der MAKROSKOP-Redaktion die Wahlprogramme der Parteien kritisch analysiert.