Die Russland-Sanktionen als Teil der Weltgeschichte
Sanktionen gegen große und diversifizierte Volkswirtschaften sind letztendlich zum Scheitern verurteilt. Das zeigt der historische Rückblick von Hannes Hofbauer.
Fast täglich finden sich zu den Russland-Sanktionen in der westlichen Presse neue Meldungen. Zu lesen ist, welche neue Sanktionen verabschiedet oder geplant werden, seltener, welche Auswirkungen sie auf Russland haben und noch seltener, welche Rückkopplungseffekte auf die eigene Wirtschaft es gibt. Ein geschichtlicher Hintergrund, der die tatsächlich beispiellosen westlichen Sanktionen, die seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine 2022 verhängt wurden, in die Geschichte der russisch-westlichen Beziehungen und die Sanktionspolitik des Westens gegenüber dem Rest der Welt einordnet, fehlt meistens ebenso.
Diese Lücke wird durch das kürzlich erschienene Buch des Wiener Historikers und Journalisten Hannes Hofbauer Im Wirtschaftskrieg: Die Sanktionspolitik des Westens und ihre Folgen. Das Beispiel Russland hervorragend gefüllt.
Sanktionen: Standard-Repertoire der Großmächte
Hofbauer zeigt, dass in der Geschichte das Instrument der Wirtschaftssanktionen schon immer zum Standard-Repertoire der mächtigen Staaten gehörte. Etwa das Handelsschiffsembargo von Athen gegen Megara im antiken Griechenland, der Boykott des flämischen Brügge durch die Hanse im Spätmittelalter, das britische Importverbot von Textilien aus Indien im 19. Jahrhundert, das Wirtschaftsembargo der Alliierten gegen ihre Gegner im Ersten Weltkrieg und später gegen die kommunistischen Staaten Ungarn und Russland.
Ein besonderes Augenmerk legt der Autor auf die 1806 von Napoleon verhängte totale Wirtschaftsblockade Großbritanniens, des damaligen Hauptrivalen Frankreichs, inklusive aller seiner Kolonien. Bis zu den gegenwärtigen Russland-Sanktionen war dies laut dem Autor das umfangreichste Sanktionspaket der Weltgeschichte, das auch Sekundärsanktionen gegen alle in britischen Häfen anlegenden Schiffe umfasste und von fast allen Ländern Europas mitgetragen wurde. Letztlich scheiterte die napoleonische Kontinentalsperre an der Weigerung Russlands, diese aufrechtzuerhalten. Dies provozierte den militärischen Angriff Napoleons auf das Zarenreich, der sich letztendlich als suizidal erweisen sollte.
In der jüngsten Geschichte waren es wenig überraschend vor allem die USA, die immer wieder gerne zu Sanktionen zurückgriffen, um außenpolitische Ziele (insbesondere den politischen Regimewechsel in den betroffenen Ländern) zu erreichen. In Hofbauers Buch werden 28 Staaten gezählt, die alleine seit 1989 von den USA mit Sanktionen belegt wurden: der Irak, Haiti, Libyen, Jugoslawien, Kambodscha, Republika Srpska, Myanmar, Sierra Leone, Angola, Afghanistan, Liberia, Simbabwe, Nordkorea, der Iran, Weißrussland, der Sudan, Somalia, Eritrea, Syrien, Mali, Guinea-Bissau, Belize, Guinea, Russland, Burundi, Jemen, DR Kongo und Venezuela. Dazu gehört auch Kuba, das seit 1960 unter dem längsten Sanktionsregime der Geschichte steht.
Bei den meisten dieser Staaten handelt es sich um wirtschaftlich schwache Länder, in denen die Sanktionen zum Teil verheerende Folgen zeitigten. Der Autor gibt unter anderem das Beispiel von Bangladesch, das ins Visier der USA geriet, nachdem es Jutelieferungen an das unter der US-Blockade stehende Kuba getätigt hatte. Das daraufhin verhängte Nahrungsmittelhilfeembargo gegen Bangladesch hatte zwischen 1974 und 1975 schätzungsweise 1 Million Todesopfer zur Folge.
Gleichzeitig demonstriert der Autor, dass solchen Sanktionen jegliche völkerrechtliche Basis fehlte (was im Übrigen auch für die Russland-Sanktionen zutrifft). Lediglich die UNO-Sanktionen, die beispielsweise gegen Südafrika 1977 als Reaktion auf das Apartheid-Regime verhängt wurden, sind völkerrechtlich legitim. Was die nationalen Sanktionen im rechtlichen Rahmen der WTO betrifft, sind sie einzig „zur Wahrung wesentlicher Sicherheitsinteressen“ zulässig. Wie der Autor anmerkt, sei jedoch die nationale Sicherheit weder von der EU noch von den USA durch den (zweifelsohne völkerrechtswidrigen) russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine direkt gefährdet. Ganz anders sieht das im Fall der Ukraine aus.
Das größte Sanktionsexperiment seit Napoleon
Ein Großteil des Buchs widmet sich dem „großen Wirtschaftskrieg“ des Westens gegen Russland. Der Autor zeigt, dass dessen Wurzeln bis ins Jahr 2009 zurückreichen, als der erste Gipfel der sogenannten „östlichen Partnerschaft“ stattfand. Ziel des Gipfels war es, die sechs ehemaligen Sowjetrepubliken stärker an die EU zu binden und den russischen Einfluss dort zu schwächen. Seit 2014, dem Regierungsumsturz in der Ukraine und der Annexion der Krim durch Russland, wurde das Sanktionsregime gegen Russland sukzessive verschärft und erreichte seinen Höhepunkt nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022.
Für die Ausweitung der Russland-Sanktionen führt Hofbauer im Wesentlichen drei Hauptmotivationen an: eine politische (eigene Vorherrschaft zu sichern), eine ideologische (links-liberale-grüne Werte des Westens gegenüber dem rechtskonservativen Russland zu verteidigen) und eine wirtschaftliche (die russische Konkurrenz wegzuhalten).
Dabei ist aus meiner Sicht nur die erste Motivation ausschlaggebend. Die existierenden ideologischen Unterschiede zwischen dem Westen und Russland werden meiner Meinung nach vor allem betont, um den Sanktionen eine „moralische“ Legitimation in den Augen der eigenen Bevölkerung zu verleihen. Sie erklären jedoch nicht, warum viele andere Länder des globalen Südens, die ebenfalls weit – oder noch weiter als Russland – von den westlichen „Werten“ entfernt sind (wie etwa manche Staaten des Persischen Golfs), NICHT sanktioniert sind, Russland aber schon.
Die wirtschaftliche Motivation der Sanktionen erklärt für den Autor auch, warum viele russische Oligarchen auf den Sanktionslisten des Westens landeten. Doch auch an der Bedeutung der wirtschaftlichen Motivation sind starke Zweifel angebracht. Denn wenn sie tatsächlich eine Rolle gespielt hätte, wären viele Sanktionen gar nicht eingeführt worden. Die Europäische Kommission gab schließlich zu, dass allein die seit 2022 beschlossenen Ausfuhrbeschränkungen und die Drosselung der Energieimporte bis Anfang 2024 Gesamteinbußen von mehr als 130 Milliarden Euro für die Europäische Union zur Folge hatten. Die Wirtschaft der EU ist seit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs und der Einführung von Russland-Sanktionen weitgehend stagniert. Und die deutsche Wirtschaft, die früher enge wirtschaftliche Verflechtungen mit Russland aufwies, steckt bereits seit zwei Jahren in einer Rezession (auch wenn die Sanktionen nicht der einzige Grund dafür sind).
Das russische BIP hingegen wuchs in den letzten beiden Jahren – trotz der umfangreichsten Sanktionen der Weltgeschichte – kräftig um insgesamt 8 Prozent. Darin unterscheidet sich der Fall Russland – die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, die massiv durch die größte Volkswirtschaft China unterstützt wird – radikal von allen anderen bislang sanktionierten Ländern. Wenn eine große und relativ diversifizierte Volkswirtschaft mit Sanktionen belegt wird, fliegt der Sanktionsbumerang zurück und trifft primär die sanktionierenden Länder. Dies ist zugleich eine der Hauptthesen des Buches von Hofbauer.
Russland-Sanktionen versus COCOM
Sucht man nach einem historischen Vergleich mit den heutigen Russland-Sanktionen, ist vor allem COCOM (Coordinating Committee on Multilateral Export Controls) interessant, das zwischen 1947 und 1994 in Kraft war. Das COCOM wurde von den USA und mehreren westeuropäischen Ländern geschaffen, um die Wirtschaft der Sowjetunion und der ehemaligen Ostblockländer zu schädigen und so einer Ausbreitung kommunistischer Ideen auf Westeuropa vorzubeugen.
Der Vergleich ist auch insofern interessant, als die russische Wirtschaft sich inzwischen gravierend verändert hat. Die Sowjetunion existiert nicht mehr, die kommunistische Ideologie ist nur noch auf ganz wenige kleine Länder beschränkt und Russland seit über 30 Jahren eine Marktwirtschaft. Paradoxerweise ist das russische Wirtschaftssystem in vielerlei Hinsicht kapitalistischer als in den westeuropäischen Ländern: der Sozialstaat ist weniger ausgebaut, die Rolle der Gewerkschaften vernachlässigbar gering und die Konzentration des Reichtums in den Händen von Superreichen die höchste von allen großen Ländern der Welt. Das gesamte Vermögen der russischen Dollar-Milliardäre beträgt 27 Prozent des BIP, verglichen mit etwa 18 Prozent in Frankreich, 14 Prozent in Deutschland und 7 Prozent in Großbritannien. Trotz all dem sind derzeit mehr als 24.000 verschiedener Sanktionen gegen die russische Regierung, Unternehmen, ganze Wirtschaftssektoren und einzelne Personen in Kraft.
Geschichtliche Parallelen zwischen dem COCOM und den heutigen Russland-Sanktionen finden sich an vielen Stellen. Auch das COCOM verbot vor allem die Exporte westlicher Technologien, darunter „metallverarbeitende Maschinen, chemische Ausrüstung, Erdölausrüstung, Elektro- und Kraftwerksprodukte, allgemeine Industrieausrüstung, Waffen und Munition, Metalle, Mineralien, Chemikalien, Erdölprodukte, Kautschuk und Gummiprodukte“. Zwar hat sich inzwischen die Produktpalette infolge des technologischen Fortschritts und des wirtschaftlichen Strukturwandels stark verändert. Doch die derzeitigen Exportverbote von zahlreichen High-Tech- und Dual-Use-Gütern nach Russland sind von der Idee her durchaus mit dem COCOM-Sanktionsregime vergleichbar.
Wo es einen Unterschied zwischen damals und jetzt gibt, ist die Anzahl der sanktionierenden Länder. Das COCOM schaffte es, etwa 50 Länder zur restriktiven Außenhandelspolitik gegenüber der UdSSR und den Ostblockländern zu verpflichten (obwohl es auch schon damals Sanktionsumgehung über neutrale Länder gab, darunter etwa Österreich). Bei den heutigen Russland-Sanktionen ist die Anzahl und vor allem das Gewicht der neutralen Länder, die an der Sanktionsumgehung massiv beteiligt sind, wesentlich höher. Die Länder des globalen Südens, allen voran China und Indien, aber auch das NATO-Mitglied Türkei haben sich den westlichen Sanktionen nicht angeschlossen und profitieren von ihnen sowohl diplomatisch als auch wirtschaftlich: über den Zugang zu billiger russischer Energie, als Drehscheiben für die Re-Exporte westlicher Güter nach Russland und dank der neu entstandenen Absatznischen für eigene Produkte auf dem russischen Markt.
Der andere wesentliche Unterschied zwischen damals und jetzt besteht in den Verhältnissen innerhalb der sanktionierenden Blocks. Vom COCOM waren viele Länder Westeuropas ursprünglich aus wirtschaftlichen Gründen wenig begeistert. Ihre Bereitschaft, mitzumachen, wurde vor allem durch die Teilnahme am European Recovery Programme (ERP, besser als „Marshall-Plan“ bekannt) erkauft, obwohl im Falle der neutralen Länder Schweden und der Schweiz amerikanische Sanktionsdrohungen notwendig waren, um sie an Bord zu holen. Als der US-amerikanische Druck im Laufe der Zeit allmählich nachließ, intensivierten die westeuropäischen Länder zunehmend ihre Kontakte mit dem Osten, was in den sowjetischen Erdgaslieferungen nach Westdeutschland ab 1973 kulminierte.
Deutlich anders ist die Lage heute. Zwar spielen auch im Fall der heutigen Russland-Sanktionen wirtschaftliche Überlegungen eine gewisse Rolle, vor allem bei der Versorgung Europas mit russischem Erdgas, die nie formell sanktioniert wurde. Grundsätzlich sind jedoch Brüssel und viele europäische Hauptstädte – anders als bei COCOM – durchaus willige Partner der USA.
Dieser Unterschied in der europäischen Haltung zwischen damals und jetzt lässt sich aus meiner Sicht durch die inzwischen fortgeschrittene Zentralisierung der Entscheidungen auf der EU-Ebene sowie die EU-Erweiterungen der letzten Jahrzehnte erklären. Nun fallen auch die Stimmen osteuropäischer Länder im innereuropäischen Diskurs ins Gewicht, die (vor allem Polen und Baltikum) aus historischen Gründen besonders russlandkritisch sind. Doch was diese Tage und Wochen geschieht, erscheint paradox und widerspricht jeglicher wirtschaftlichen Logik.
Die USA, die vom Ukraine-Krieg und den Russland-Sanktionen wirtschaftlich profitiert haben (etwa in Form gestiegener LNG-Lieferungen nach Europa und boomender US-Rüstungsproduktion), erscheinen nun bereit, über einen möglichen Friedenspakt mit Putin zu verhandeln, und stellen dabei mögliche Sanktionslockerungen und eine verstärkte Zusammenarbeit mit Russland in Aussicht. Europa dagegen, dessen Wirtschaft am meisten durch die Russland-Sanktionen gelitten hat, hält am bisherigen Kurs fest.
Und trotzdem ist es angesichts der sich häufenden wirtschaftlichen Verluste Europas und der tendenziellen Stärkung von Parteien abseits vom politischen Mainstream, von denen sich viele für eine Wende in der Sanktionspolitik gegenüber Russland einsetzen, wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Achse der sanktionierenden Staaten gebrochen ist. Dass Sanktionen gegen große und diversifizierte Volkswirtschaften letztendlich zum Scheitern verurteilt sind, zeigt uns der historische Rückblick von Hannes Hofbauer. Auch bei Napoleon war das nicht anders.
Hannes Hofbauer: Im Wirtschaftskrieg: Die Sanktionspolitik des Westens und ihre Folgen. Das Beispiel Russland, Promedia 2024. 256 Seiten.