Interview

Oberst a.D. Wolfgang Richter: „Die USA haben nach wie vor Interesse an Europa“

| 19. März 2025
IMAGO / dts Nachrichtenagentur

Kann Europa die Ukraine retten? Wolfgang Richter, Oberst a.D., über die deutschen Rüstungsausgaben, Friedenstruppen in der Ukraine, die russisch-amerikanischen Gespräche und europäische Illusionen.

Wolfgang Richter, Oberst a.D., war viele Jahre lang in verschiedenen, verantwortlichen Funktionen in der Rüstungskontrolle tätig. Zudem war er mit der Entwicklung einer europäischen und globalen Friedensordnung befasst. Er ist Mitautor des im Juni 2024 erschienenen und von Götz Neuneck herausgegebenen Buchs Europa und der Ukrainekrieg. Ulrike Simon gab er die Gelegenheit, mit ihm über den Krieg in der Ukraine zu sprechen. Wir veröffentlichen das folgende Interview in drei Teilen.

--

Herr Richter, ist es nicht erstaunlich, dass Friedrich Merz nun – entgegen seines Wahlversprechens - noch im alten Bundestag versucht, die Schuldenbremse aufzuheben?

Für die Erneuerung der maroden Infrastruktur soll das noch einmal – im Umfang und nach der Zwecksetzung allerdings begrenzt - als Sondervermögen geschehen, während die Höhe der Verteidigungsausgaben ja nach oben offen sein soll. Alles, was über einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt, soll dann nicht mehr unter die Schuldenregeln fallen. Das hat aus meiner Sicht auch einen positiven Aspekt. Denn bisher wurde die Höhe der Rüstungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt festgemacht, was aber nicht sachgerecht ist. So eine Marke ist ein sehr flexibles Ziel, da es von der Konjunktur abhängig ist. Wenn die schwächelt oder wir gar in die Rezession gehen, brauchen wir keinen Cent mehr ausgeben, denn der Prozentsatz der Verteidigungsausgaben steigt automatisch, wenn das Gesamtvolumen sinkt. Wenn die Wirtschaft, umgekehrt, wieder anläuft, laufen wir dem Prozentsatz mit unseren tatsächlichen Ausgaben selbst dann immer hinterher, wenn sie deutlich steigen, weil das Gesamtvolumen dann weitaus höher ausfällt.

Ich halte diesen Maßstab schon seit 2014 für falsch, denn es geht ja im Kern um Fähigkeitsziele, die man erreichen sollte. Dazu muss man genau wissen, um welche Art von Szenario es sich handelt, also auf welche Bedrohung wir reagieren, welche Fähigkeiten angestrebt werden und welche Lücken zu schließen sind. Und dann kommt der Planungs-, Entwicklungs- und Beschaffungsprozess, der mit der Industrie abzustimmen ist. Das dauert viele Jahre, denn es liegt ja nichts im Regal, was man einfach kaufen kann. Die Industrie produziert nicht auf Halde, das darf sie gar nicht. Man muss also nicht vom BIP, sondern von diesen Zielen und von der Produktionsfähigkeit der Industrie ausgehen und dann überlegen, was man braucht und wie lange das dauert.

Gibt es denn dazu konkrete Überlegungen?

Dass lässt die Politik gerade bewusst offen, obwohl über Fähigkeitsziele und die Schließung von Fähigkeitslücken schon bei den Beschaffungen aus dem ersten Sondervermögen von 2022 gesprochen wurde. Der jetzige Ansatz ist jedoch zumindest vernünftiger als die Prozentsatzfestlegung vom Bruttoinlandsprodukt, denn so kann man in einem Jahr mal ein bisschen mehr, in einem anderen Jahr wieder weniger ausgeben, abhängig davon, wann die Ziele erreicht werden können. Zu bedenken ist auch, dass nur ein Teil des Verteidigungshaushaltes, so zwischen 20 und 30 Prozent, wirklich investiv ist. Der Rest sind Personal und Betriebsausgaben. Darauf würde sich die neue Regel nicht auswirken, es sei denn, man will die Personalstärke erheblich erweitern.

Dennoch fällt auf: Kaum kam die Kehrtwende in der amerikanischen Außenpolitik, wird die bisher weitgehend unantastbare Schuldenbremse für Aufrüstungszwecke gelockert. Ist das nicht ein wenig aktionistisch?

Also zunächst mal geht es darum, dass man in der Tat die richtigen Fragen stellt: Wie bedroht ist Europa? Und wie verteidigungsfähig ist Europa, auch unter der Annahme, – die noch gar nicht verifiziert ist, – dass die USA sich völlig aus Europa zurückziehen. Das, glaube ich, wird nicht der Fall sein. Die USA haben natürlich nach wie vor Interesse an Europa. Und es gibt auch eine ganze Reihe von europäischen Staaten, die ausdrücklich daran festhalten, dass die USA sie weiterhin unterstützen und in ihrem Land präsent sind, insbesondere Polen und Großbritannien.

„Die Amerikaner wollen, dass die Europäer mehr Lasten tragen, damit sie ihre eigenen Lasten zurückfahren und sich selbst auf den Hauptgegner China konzentrieren können. Das ist der Hintergrund der ganzen Debatte.“

Die Amerikaner wollen, dass die Europäer mehr Lasten tragen, damit sie ihre eigenen Lasten zurückfahren und sich selbst auf den Hauptgegner China konzentrieren können. Das ist der Hintergrund der ganzen Debatte. Und aus diesem Szenario, in dem Europa größere Verteidigungslasten zu tragen haben wird, würden sich dann die Aufrüstungsziele ergeben. Insofern ist der jetzige Ansatz der zukünftigen Koalitionspartner, der die Details offenlässt und nicht auf einen fixen Prozentsatz vom BIP zielt, der bessere.

Aber zunächst einmal müssen natürlich die aktuellen Probleme der Gegenwart gelöst werden. Das heißt, wir brauchen möglichst schnell einen Waffenstillstand und am Ende auch einen Frieden in der Ukraine, um uns dann wieder – mit hoffentlich nüchternem Verstand – den großen Fragen der europäischen Sicherheitsordnung zuwenden zu können.

Zum Ukraine-Krieg gibt es nun aktuell von europäischer Seite verschiedene Vorschläge, zum Beispiel die Entsendung von europäischen Friedenstruppen oder die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Westukraine.

Zunächst einmal ist es völlig unrealistisch, jetzt mit der Diskussion um Friedenstruppen zu beginnen, obwohl wir noch gar nicht wissen, was eigentlich künftig mal vereinbart wird. Das heißt, wir machen im Moment den fünften Schritt vor dem zweiten. Der erste Schritt ist getan. Das ist die Eröffnung von Verhandlungslinien zwischen Russland und den USA. Das wird häufig missverstanden, dass nun ohne die Ukraine über die Ukraine diskutiert worden sei.

Das ist aber nicht so, sondern es wurde lediglich vereinbart, dass die Amerikaner und Russen die offiziellen diplomatischen Beziehungen wieder aufnehmen, die Botschaften wieder mit Personal auffüllen und in Zukunft verschiedene Verhandlungsstränge eröffnen wollen. Dazu gehört auch ein Verhandlungsstrang Ukraine; bei einem anderen handelt es sich um die strategischen Stabilitätsgespräche, die während des Krieges ausgesetzt waren. Zwar fanden auch während des Krieges einige informelle bilaterale Gespräche statt, aber sehr vertraulich. Jetzt sollen sie formell wieder eröffnet werden. Es geht außerdem um Wirtschaftsfragen zwischen Russland und den USA. Und es geht aus Sicht Washingtons auch darum, vielleicht eine Hilfestellung von den Russen für eine Lösung im Nahostkonflikt zu bekommen. Also es gibt eine ganze Reihe von Themen, die in Riad besprochen worden sind. Es ist noch nicht über die Ukraine hinweg über einen Waffenstillstand verhandelt worden, sondern lediglich die gemeinsame Absicht artikuliert worden, damit unverzüglich zu beginnen. Ab morgen (11.3.2025) wird tatsächlich dann in Saudi-Arabien erneut verhandelt, und zwar zunächst einmal zwischen Amerikanern und der Ukraine.

Entscheidend ist, dass sich die USA bisher nicht vollständig von Europa abgewendet haben, auch wenn sie wahrscheinlich ihr Engagement zurückfahren werden; dass sie sich völlig aus Europa zurückziehen werden, ist eher eine Perzeption, die vor allen Dingen von Frankreich gefördert wird, weil die Franzosen sich selbst als Globalmacht und als europäische Führungsmacht ins Spiel bringen wollen. Aber das amerikanische Interesse ist ja zunächst einmal, sich auf China konzentrieren zu können, dem Herausforderer Nummer Eins aus Washingtons Sicht. Den Krieg betrachten sie in diesem Zusammenhang als unwillkommene Ablenkung, der zu viele Ressourcen verbraucht, die an anderer Stelle gebraucht werden.

„Über eine internationale Friedenstruppe können wir erst dann reden, wenn wir wissen, wie die Verhandlungen gelaufen sind.“

Und Russland selbst ist aus der Sicht der Trump-Administration eher ein Störfaktor als der Hauptgegner. Vielleicht verfolgt sie sogar die Illusion, man könnte Moskau mit dem Angebot, das man jetzt macht, von Peking entfremden. Jedenfalls will man den Krieg beenden und auch verhindern, dass Ressourcen in die falsche Richtung fließen. Zudem braucht man auch wieder eine Verständigung mit Russland über die Wahrung der strategischen Stabilität. Aus Sicht des Trump-Lagers werden die Europäer dann eben mehr Verantwortung übernehmen müssen.

Über eine internationale Friedenstruppe können wir erst dann reden, wenn wir wissen, wie die Verhandlungen gelaufen sind, welche Bedingungen vereinbart wurden, und vor allem welche Sicherheitsgarantien ins Auge gefasst werden. Erst dann kann man über das Mandat, die Aufgaben und die Zusammensetzung von internationalen Friedenstruppen verhandeln. Dabei könnte ein Mandat des VN-Sicherheitsrates für eine Friedenstruppe erörtert werden, die regional und politisch ausgewogen zusammengesetzt ist. Sie wäre vielleicht für Russland akzeptabel, wenn sie nicht auf demjenigen Territorium stationiert wird, das Russland beansprucht. Westliche Truppen – gar unter NATO- oder EU-Kommando – wird Russland nicht akzeptieren.

Der Vorschlag, eine „Flugverbotszone“ über der Westukraine zu errichten, würde nicht zum Frieden, sondern zur Kriegsverlängerung und zur Eskalation führen. Der Versuch, die Russen militärisch daran zu hindern, den Luftraum zu nutzen, würde einen direkten militärischen Konflikt des Westens mit Russland auslösen. Der Vorschlag ist nicht nur unrealistisch, sondern auch unverantwortlich.

Selenskyj betont immer wieder seine Forderung nach amerikanischen Sicherheitsgarantien. Die USA haben das abgelehnt. Wie könnte denn die Souveränität der Ukraine gesichert werden?

Ich halte es für eine Illusion zu glauben, dass die Russen akzeptieren würden, dass die Ukraine der NATO beitreten oder Artikel-5-ähnliche Sicherheitsgarantien bekommen, selbst wenn das nur für die Gebiete unter Regierungskontrolle gelten soll, wie man jetzt sagt. Ein wesentlicher Grund, warum Moskau diesen Krieg angefangen hat, war ja, dass es den NATO-Beitritt der Ukraine bzw. die Präsenz von NATO-Truppen in dem Land, etwa infolge bilateraler Verteidigungsbündnisse, verhindern wollte. Jetzt genau das als Sicherheitsgarantie zu bezeichnen, was Russland verhindern will, wäre ein Rezept für die Kriegsverlängerung. Dann würde es weiterkämpfen.

Welchem Kompromiss könnte Russland denn zustimmen?

Was Sinn machen könnte, wäre ein Mandat des UN-Sicherheitsrates. Daran müssten die Russen sich beteiligen. Zumindest dürften sie kein Veto einlegen. Und das würde bedeuten, dass man Friedenstruppen nach Kapitel 6 der UN-Charta in die Ukraine entsenden würde, möglicherwiese nur in die Gebiete unter Kiews Kontrolle. Es würde sich dabei um eine politisch und regional ausgewogene internationale Truppenpräsenz handeln. Daran könnten dann Europäer einen Anteil haben. Die europäischen Soldaten würden aber nicht unter NATO- oder EU-Führung stehen, sondern unter der Führung der Vereinten Nationen. Das wäre vielleicht eine akzeptable Konstruktion, der auch Moskau zustimmen könnte. Ob dies so kommt, werden erst die Ergebnisse der Verhandlungen zeigen. Das sollte jetzt nicht vorweggenommen werden.  

Solche UN-Truppen müssten zumindest robust genug sein, um sich selbst zu verteidigen und gegen örtlich begrenzte Verletzungen des Waffenstillstands vorzugehen, etwa gegen einzelne Renegaten, die versuchen, das Ganze zu torpedieren. Und im Übrigen müssen sie das tun, was Friedenstruppen immer machen, nämlich beobachten und melden, damit die internationale Gemeinschaft informiert ist über das, was da passiert. Sollte es zu einem Großangriff kommen, dann muss diese Friedenstruppe abziehen. Dagegen wäre eine UN-Truppe machtlos, darüber sollte man sich keine Illusionen machen, denn niemand könnte so viele Soldaten und Kräfte, einschließlich Luftwaffe, Luftverteidigung und Logistik stellen. Man muss darauf bauen, dass die politischen Bedingungen in dieser Waffenstillstandsvereinbarung so ausgestaltet sind, dass beide Seiten in Zukunft auf militärische Gewaltanwendung verzichten.

Und deswegen machen wir mit der Diskussion um europäische Friedenstruppen gerade den fünften Schritt vor dem zweiten?

Ja. Der erste Schritt ist getan, nämlich die Willensbekundung aus Washington und Moskau, den Krieg durch Verhandlungen beenden zu wollen. Der zweite Schritt ist nun die Eröffnung von Verhandlungen, verbunden mit einer vorläufigen Waffenruhe und der Festlegung der Agenda. Darin werden die Eckpunkte beschrieben, um die es geht. Und die haben Keith Kellogg und Pete Hegseth, der neue US-Verteidigungsminister, in Ansätzen schon dargelegt.

„Es ist unrealistisch zu glauben, die Ukraine würde der NATO beitreten, es ist auch unrealistisch zu glauben, die Ukrainer könnten mit einer ‚Siegstrategie‘ verlorene Gebiete militärisch zurückgewinnen.“

Mit anderen Worten, es ist unrealistisch zu glauben, die Ukraine würde der NATO beitreten, es ist auch unrealistisch zu glauben, die Ukrainer könnten mit einer „Siegstrategie“ verlorene Gebiete militärisch zurückgewinnen. De facto hat sich die Verhandlungsposition der Ukraine seit dem März 2022 verschlechtert, als man ja schon die ersten Eckpunkte eines Verhandlungsfriedens vereinbart hatte. Das ist die bittere Realität. Man hat drei Jahre weitergekämpft, die Verhandlungsposition Kiews hat sich verschlechtert und es sind viele, viele Menschen ums Leben gekommen. Noch viel mehr wurden verwundet und teilweise so schwer beschädigt, dass sie nicht mehr ins normale Arbeitsleben reintegriert werden können.

Wenn man jetzt die gleiche erfolglose Strategie weitertreiben, aber Verhandlungen ausschließen oder torpedieren will, dann grenzt das an Verantwortungslosigkeit. Man würde dann einen Staat zum Weiterkämpfen ermutigen, ohne ihm die realistische Perspektive eines „Sieges“ bieten zu können. Sicher kann man in so einer Situation noch Waffen liefern, um die Abwehrfähigkeit für die Verhandlungsphase zu erhalten, aber eben nichts darüber hinaus, weil es nicht den erhofften Effekt haben wird. Denn selbst wenn die materielle Versorgung noch eine begrenzte Zeit aufrechterhalten würde, so ist doch die prekärer werdende Personalknappheit der Ukrainer die zentrale Fähigkeitslücke Kiews, die Europa nicht kompensieren kann. Wer dennoch die Entsendung europäischer Kampftruppen vorschlägt, der spielt Vabanque. Denn das heißt ja im Klartext, dass man einen militärischen Konflikt mit Russland riskiert, und das kann niemand in Europa wollen. Deswegen halte ich derartige Vorschläge aus Brüssel, London oder Paris nicht nur für eine Illusion, sondern auch für unverantwortlich.

Also könnte man die Souveränität der Ukraine über UN-Truppen bis zu einem gewissen Grad absichern, aber die Hauptsache wäre, dass man politisch die Gründe beseitigt, sich gegenseitig anzugreifen?

Es muss natürlich in einem solchen Waffenstillstands- oder später mal Friedensabkommen die Souveränität der Ukraine akzeptiert und ausgeschlossen werden, dass es weitergehende Zielsetzungen – auch aus Moskau – gibt. Das Endergebnis muss dann zum neuen Status quo werden.

Aus Moskauer Sicht wäre der Verzicht Kiews auf den NATO-Beitritt und auf die Präsenz westlicher Truppen eine conditio sine qua non. Im Hinblick auf Territorialfragen glauben manche auch, unter anderem Angehörige der demokratischen Partei in den USA, dass man sich so eine Art „Deutschlandlösung“ vorstellen könnte: Deutschland sei ja auch lange geteilt gewesen und später mit friedlichen Mitteln wieder vereinigt worden. Das ist meines Erachtens kein zutreffender Vergleich. In Deutschland gab es – trotz politisch unterschiedlicher Systeme – immer das Gefühl einer einheitlichen nationalen Identität.

Das ist in der Ukraine nicht der Fall?

Nein, vielmehr gibt es vor allem in der Ostukraine, aber auch im Süden, sehr viele Menschen, die eine Russlandaffinität haben. Man kann das auch an Zahlen ablesen, zum Beispiel leben etwa 2,7 Millionen Ostukrainer jetzt in Russland. Russland ist also das größte Aufnahmeland für ukrainische Flüchtlinge, auch wenn insgesamt etwa zwei Drittel der ukrainischen Flüchtlinge in den Westen gingen. Zudem gibt es in der Ostukraine schon seit über zehn Jahren starke Milizen, die gegen Kiew kämpfen. 2014 sind zum Beispiel zwei Drittel der ukrainischen Marine zur russischen Schwarzmannflotte übergelaufen. Zugleich ist die Zahl der Fahnenflüchtigen in der Ukraine erheblich angestiegen. Es ist also nicht so, dass alle Ukrainer in nationaler Einheit verbunden heroisch gegen Russland kämpfen, sondern es gibt auch erhebliche Bevölkerungsteile, die in Opposition zu Kiew stehen, immerhin eine bedeutende Minderheit. Präsident Selenskyj hat das erkannt und sprach von einem großen Problem der „Kollaboration“.

„Es ist nicht so, dass alle Ukrainer in nationaler Einheit verbunden heroisch gegen Russland kämpfen.“

Man kann es aber auch anders beschreiben, nämlich, dass es unterschiedliche Identitäten in der Ukraine gibt. Und wenn das in einem Staat so ist, dann darf die eine Seite nicht versuchen, der anderen im Wege eines Kulturkampfes die eigene Identität aufzuzwingen. Die Aufgabe eines innerukrainischen Verfassungsprozesses wäre es dann, dass man Menschen mit anderen Identitäten nicht als „Kollaborateure“ oder „Verräter“ brandmarkt und nicht ihre Sprache und ihre kulturellen und religiösen Bindungen in Frage stellt, sondern versucht, tolerant mit diesen unterschiedlichen Identitäten umzugehen.

Dafür gab es einmal eine eigene Partei, die „Partei der Regionen“, die sich für die Bewahrung dieser regionalen Identitäten einsetzte. Nach dem Sturz von Janukowitsch und der Machtübernahme durch die Maidan-Bewegung geriet sie unter Druck und verschwand schließlich. Damit sind aber die Grundsatzfragen nicht verschwunden. Diese Problematik müsste in einem innerukrainischen Versöhnungsprozess gleichzeitig mit dem Waffenstillstands- und Friedensprozess gelöst werden. Ob man da noch einmal zu den Minsk Abkommen zurückkommen kann, die diese Problematik lösen wollten, ist äußerst fraglich. Aber hätte man die dort vereinbarten politischen Bedingungen erfüllt, glaube ich, wäre es gar nicht zum Krieg gekommen.

Momentan kann sich Selenskyj Sicherheitsgarantien nur in Form der Zugehörigkeit zu einem Verteidigungsbündnis vorstellen.

Die Frage der Sicherheitsgarantien ist nicht durch Bündnisbeitritte zu beantworten, wenn sie nicht konsensfähig sind und die Spannungen weiter anheizen, weil sie die zugrunde liegenden Konfliktursachen weiter verschärfen. Auch UN-Friedenstruppen dürften nicht die ganze Antwort sein, wenn sie zwischen zwei großen Militärmächten zerrieben werden können. Man muss auch sicherstellen, dass die Ukraine in der Zukunft in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen. Dieses Zugeständnis muss man bei Verhandlungen von Moskau fordern.

„Für eine Friedenslösung darf es nicht zu einer vollständigen ‚Demilitarisierung der Ukraine‘ kommen.“

Für eine Friedenslösung darf es nicht zu einer vollständigen „Demilitarisierung der Ukraine“ kommen. Es könnte vielleicht ein Rüstungskontrollabkommen geben, in das auch andere europäische Staaten eingebunden sind, wie das beim Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa, dem KSE-Vertrag der Fall war. Das könnte auch im Interesse Moskaus sein und das kennen wir aus dem Zwei-plus-Vier-Vertrag über die deutsche Einheit von 1990. Es ist denkbar, dass dort also auch Obergrenzen für Waffensysteme festgelegt werden. Aber sie dürfen die Verteidigungsfähigkeit des Landes nicht in Frage stellen.

Gab es dazu 2022 bei den Istanbul Verhandlungen nicht schon weitgehende Vorschläge?

Es gab Vorschläge zur Begrenzung der ukrainischen Armee nach KSE-Gesichtspunkten. Jedoch lagen die russischen und ukrainischen Vorstellungen noch weit auseinander. Ich würde aber nicht ausschließen, dass man sich am Ende noch irgendwo in der Mitte getroffen hätte. Aber dazu ist es ja nicht mehr gekommen.

Man kann sich das also so vorstellen, dass die Ukraine vertraglich gesichert eine bestimmte Menge an Waffen und bestimmte Systeme haben darf. Und dazu gäbe es dann ein Kontrollgremium? Wie kann man dafür das nötige Vertrauen schaffen?

Nehmen wir mal das deutsche Beispiel. Nach der Wiedervereinigung wurde im 2 + 4 Vertrag eine Obergrenze für die deutschen Streitkräfte festgelegt. Demnach beträgt die erlaubte personelle Friedensstärke 370.000 Soldaten. Im Moment sind es gerade einmal die Hälfte. Gleichzeitig gab es eine materielle Begrenzung, die an den KSE-Vertrag geknüpft war, der in einem parallelen Verhandlungsstrang ausgehandelt wurde. Darin wurden zunächst für die beiden Bündnisse Obergrenzen festgelegt, also für die NATO und den Warschauer Pakt, der noch bestand. Und dann hat man innerhalb der NATO, aber abgestimmt mit der anderen Seite, jeweils die nationalen Obergrenzen für fünf Kategorien von Großwaffensystemen festgelegt, die in ihrer Gesamtheit die Angriffs- bzw. Verteidigungsfähigkeit definieren: Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber, Kampfpanzer, Schützenpanzer und Artilleriegeschütze. So etwas kann man sich für die Ukraine natürlich auch vorstellen.

Ja, das leuchtet ein. Und es gäbe dann eine Kommission, die alles kontrolliert?

Ja, das ist im KSE-Vertrag geregelt. Beide Seiten können nach gewissen Quoten und nach gewissen Verfahren gegenseitig die Einhaltung des Vertrags verifizieren. Die Ergebnisse und gegebenenfalls Abweichungen wurden dann sowohl bilateral als auch in der Gemeinsamen Beratungsgruppe aller Vertragsstaaten besprochen.

Aber der Clou war ja der, dass Deutschland darauf bestand, nicht isoliert zu sein. Es wollte nicht als einziger Staat solchen Begrenzungen unterliegen, sondern im Rahmen des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa, also einer gesamteuropäischen Lösung. Und hier ist die Frage, schaffen wir so etwas auch heute? Können wir den Ukraine Krieg dadurch beenden, dass wir wieder zu einer stabilen gesamteuropäischen Lösung kommen, die wieder ein kooperatives Sicherheitssystem aufbaut? Dazu gehört die Rüstungskontrolle, und in diesem Rahmen wäre eine Rüstungsbegrenzung auch für die Ukraine weitaus erträglicher als im Rahmen einer Sonderlösung nur für die Ukraine.