Kaiser Habeck und sein Ministerium ohne Kleider
Der Bundesrechnungshof hat einen Bericht „zur Umsetzung der Energiewende“ vorgelegt. Brisant: Darin wird dem zuständigen Minister Robert Habeck nicht weniger als völliges Versagen bescheinigt. Der reagiert beleidigt und mit Machtarroganz. Doch ist die Reaktion berechtigt?
„Deutschland verfolgt sehr ambitionierte Ziele für die Energiewende. Diese ist jedoch nicht auf Kurs, sie hinkt ihren Zielen hinterher.“ So steht es im Bericht des Bundesrechnungshofes, der im März vorgelegt wurde. Der Bericht kommt zu folgendem Schluss: „Die Bundesregierung muss umgehend reagieren, um eine sichere, bezahlbare und umweltverträgliche Stromversorgung zu gewährleisten.“ Robert Habeck, seines Zeichens Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister und damit Ziel der Kritik, reagiert darauf:
„Den Bericht des Bundesrechnungshofs habe ich zur Kenntnis genommen, mehr aber auch nicht. (…) Ich sage nicht, dass wir durch sind. Aber zu sagen, die Bundesregierung tut nicht genug (…), ist eine erstaunliche Wahrnehmung, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.“
Der Bundesrechnungshof ist eine oberste Bundesbehörde und als unabhängiges Organ der Finanzkontrolle nur dem Gesetz unterworfen. Im Rahmen seiner finanzpolitischen Aufgaben unterstützt der Rechnungshof den Deutschen Bundestag, den Bundesrat und die Bundesregierung bei ihren Entscheidungen. Von einem Bundesminister muss man eine dezidierte fachliche Auseinandersetzung mit den schweren Vorwürfen dieses Bundesorgans erwarten dürfen. Das aber ist bis heute nicht geschehen.
Daher bietet es sich an, die Kritik des Bundesrechnungshofs wissenschaftlich einzuordnen. Dabei stützen wir uns auf das zweite Positionspapier „Energie- und Klimawende zwischen Anspruch, Wunschdenken und Wirklichkeit – Umsetzungspfade“ des Westfälischen Energieinstituts in der Westfälischen Hochschule vom 5. Januar 2024, an dem wir als Ko-Autoren mit weiteren fünf Professoren mitgewirkt haben. Das erste Positionspapier haben wir schon im Mai 2022 Habeck und seinem Ministerium zugänglich gemacht, aber keine Antwort erhalten.
Systemtechnische Bedeutung der Energiewende
Zunächst ein kurzer und grober Überblick über die Anforderungen an das Energiesystem im Jahr 2045: Die Stromverbraucher benötigen konfektionierte – also für den Verbrauch verträgliche – Energie in elektrischer, thermischer und stofflicher Form. Zum Transport sind Versorgungs- beziehungsweise Verteilnetze inklusive ihrer Wandlerkomponenten notwendig. Der Kurzbegriff „NETZ“ und seine Komponenten Leitungen, Schalter, Messequipment, Schaltwarten, Elektrolyseure, Transformatoren etc. beschreiben den tatsächlichen technischen Aufwand nur unzureichend. Sind die zahlreich benötigten Komponenten nämlich nicht aneinander angepasst, fallen aus oder sind die Primärenergiequellen zeitweise nicht verfügbar, kommt es aufgrund von Kaskadeneffekten zu Versorgungsengpässen bis hin zu Versorgungsausfällen. Das sind Prozesse, in denen das ganze Energiesystem zusammenbricht, weil es zu einer verketteten Leistungsüberlastung kommt.
Wie im letzten Artikel in Anlehnung an das zweite Positionspapier des Westfälischen Energieinstituts dargestellt, entsteht eine Lücke von ca. 700 Terrawattstunden pro Jahr, wenn die Bundesregierung ihre jetzige Energiestrategie beibehält. Die Energieknappheit möchte sie durch Importe von „grünen“ Wasserstoffträgern füllen. Das Ausland müsste hierfür aber bis zu 1.400 Terrawattstunden pro Jahr „grüner“ Energie exklusiv für Deutschland verfügbar machen. Denn der Wirkungsgrad von Strom aus Erneuerbaren Wasserstoff liegt bei gut 50 Prozent.
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Energiepolitisches Wunschdenken
Heinz-J. Bontrup, Markus J. Löffler | 20. Februar 2024
Zur dringend benötigten Versorgungssicherheit, insbesondere zu Zeiten von Dunkelflauten, sind noch weitere rund 310 Gigawatt Backup-Kraftwerke im Inland (davon circa 120 Gigawatt Wasserstoffkraftwerke; der Rest überwiegend Batterie- und Pumpspeicherkraftwerke) und aus dem angrenzenden Ausland zur Verfügung zu stellen. Hinzu kommen 80 Gigawatt Elektrolyseure. Insgesamt ist somit eine Leistung von über 1.000 Gigawatt zu installieren, um eine elektrische Spitzenlast von bis zu 160 Gigawatt versorgungssicher zu bedienen. Der Nutzungsgrad des gesamten Erneuerbare-Energie-Kraftwerksparks beträgt dann unter 15 Prozent.
Zum Vergleich: Im Jahr 2002 erforderte die Sicherung einer Spitzenlast von ca. 80 Gigawatt lediglich einen Gesamt-Kraftwerkspark von ca. 140 Gigawatt. Die Speicherung des für die Versorgungssicherheit erforderlichen Wasserstoffs erfordert Speicher mit einem Fassungsvermögen von deutlich über 100 Terrawattstunden; derzeit könnten unter Ausschöpfung vorhandener Kavernenspeicher lediglich 35 Terrawattstunden Wasserstoffkapazität angeboten werden.
Disput zwischen Rechnungshof und Wirtschaftsministerium
Beim Disput zwischen Bundesrechnungshof und -wirtschaftsministerium fällt auf, dass hinsichtlich der Planungsperiode nur ein Zeitraum bis 2035 berücksichtigt wird. Auch beschränken sich die technischen Themen lediglich auf den Ausbau des Stromnetzes, definiert in Leitungslängen, der Backup-Kraftwerke und der Erneuerbaren-Kraftwerke. Im Vordergrund der Untersuchungen des Bundesrechnungshofes stehen die Themen Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit der Stromversorgung. Hier kommt es zwischen Rechnungshof und Wirtschaftsministerium zu erheblichen Wahrnehmungsunterschieden der energietechnischen und energiewirtschaftlichen Realität.
Versorgungssicherheit
Die Versorgungssicherheit soll mit „grünen“ Wasserstoffkraftwerken sichergestellt werden. Derzeit werden knapp 36 Gigawatt Kraftwerke mit Erdgas betrieben. Gemäß des Bundesrechnungshof-Berichts kündigte das Bundeswirtschaftsministerium im August 2023 an, „im Zuge der Kraftwerksstrategie (KWS) neue Kraftwerke mit einer Gesamtleistung von 23,8 Gigawatt ausschreiben zu wollen“. Anfang Februar 2024 habe das Wirtschaftsministerium dann bekannt gegeben, „kurzfristig bis zu 10 Gigawatt neue Kraftwerkskapazitäten als H2-ready-Gaskraftwerke (also Kraftwerke, die auf Wasserstoff umgestellt werden können – Anm. d. Red.), an systemdienlichen Standorten auszuschreiben“.
Das sind weniger als die Hälfte der von der Bundesregierung ursprünglich geplanten Kraftwerke. Zusätzlich müssen die 36-Gigawatt-Erdgaskraftwerksparks restauriert oder neu gebaut werden. Darauf geht das Wirtschaftsministerium jedoch mit keinem Wort ein.
Doch laut Westfälischem Energieinstitut ist bis spätestens 2045 ein Wasserstoff-Kraftwerksbedarf von über 100 Gigawatt erforderlich – also ein um den Faktor 10 größerer Bedarf als vom Bundeswirtschaftsministerium und von Habeck angenommener Wert von 10 Gigawatt. Der Beurteilung des Rechnungshofs stimmen wir damit zu, wenn er schreibt: „Zusammenfassend sieht der Bundesrechnungshof das Risiko einer erheblichen Lücke an gesicherter, steuerbarer Kraftwerksleistung zum Ende des aktuellen Jahrzehnts.“ Berechnungen von ENTSO‑E weisen darauf hin, dass auf europäischer Ebene bis zum Jahr 2033 mit einer Lastunterdeckung von 8,1 bis 21,6 Stunden pro Jahr zu rechnen sei; dies bei zulässigen 2,8 Stunden pro Jahr in Deutschland.
Selbst vor dem vom Rechnungshof nicht betrachteten Hintergrund eines bis 2040/2045 erforderlichen Wasserstoff-Kraftwerkparks von über 100 Gigawatt ist der Befund des Bundesrechnungshofs korrekt. Beunruhigend ist, dass das Bundeswirtschaftsministerium kurz hintereinander erst circa 24 Gigawatt, dann nur zehn Gigawatt nennt – Werte, die für das Bundesministerium offenbar beliebig austauschbar sind und losgelöst von technischen Erfordernissen beliebig veröffentlicht werden können. Der Zahlentausch erfolgte allein vor dem Hintergrund fehlender Haushaltsmittel nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse.
Netzausbau
Der Bundesrechnungshof überprüft weiter den Netzausbau der Bundesregierung in Anlehnung an das Energieleitungsausbaugesetz und das Gesetz über den Bundesbedarfsplan. Von 2009 bis 2023 waren 8.652 Kilometer Energieleitungen geplant, von denen bislang aber lediglich 2.695 Kilometer fertiggestellt sind. Das entspricht einem Zeitverzug von sieben Jahren.
Der Netzentwicklungsplan der Netzbetreiber weist bis zum Jahr 2045 sogar ein Zubaunetz an Land und See von 25.723 Kilometer aus. Dazu ist ein Investitionsvolumen von 251,3 Milliarden Euro erforderlich. Hinzu kommt, dass die Verteilnetzbetreiber bis 2032 gut 93.000 Kilometer Leitungen verstärken, optimieren, neu bauen oder ganz ersetzen müssen; dies verlangt weitere Investitionen von rund 250 Milliarden Euro.
Auch hier teilen wir die Kritik des Bundesrechnungshofs. Allein die qualitative Feststellung, dass das gesamte kommunale Stromverteilnetz inklusive aller Wandlereinheiten in der Fläche bis zum letzten Verbraucher in der Leistung vervierfacht werden muss, und dass hierfür sämtliche kommunalen Leitungstrassen bis zum letzten Haus in eng besiedelten Kommunen „aufgebuddelt“ sowie Raum für entsprechend verstärkte Transformatorstationen geschaffen werden müssen, unterstützt unsere Bedenken zusätzlich.
Strompreise
Im Hinblick auf die Strompreisentwicklung sieht der Bundesrechnungshof „das Ziel einer preisgünstigen Versorgung der Allgemeinheit mit Strom als nicht gesichert an. Daraus ergeben sich erhebliche Risiken für den Wirtschaftsstandort Deutschland und die Akzeptanz der Energiewende in der Bevölkerung.“
Brisant ist an dieser Stelle, dass die Bundesregierung diese Einschätzung laut Rechnungshof zu teilen und daher wider besseres Wissen zu handeln scheint:
„Denn hielte sie die aktuellen Strompreise für bezahlbar, wären Zuschüsse zum Stabilisieren der Netzentgelte oder die temporäre Absenkung der Stromsteuer für das produzierende Gewerbe nicht nötig. Trotz dieser Risiken hat es die Bundesregierung bis heute versäumt zu konkretisieren, was sie unter einer bezahlbaren Energieversorgung versteht. Es fehlt weiterhin an Ziel- und Schwellenwerten.“
Potenzielle Preistreiber für Strom bestimmt der Bundesrechnungshof angebots- und nachfrageseitig: Einerseits wird vermutlich der Strombedarf steigen, weil etwa Elektromobilität und Wärmepumpen zunehmend gekauft und eingesetzt werden. Andererseits wird das Angebot wohl nicht mit der steigenden Stromnachfrage mithalten können. Denn Kernkraftwerke als gesicherte Stromquellen wurden abgeschafft und Kohlestrom wird zunehmend weniger verwendet. Zugleich stockt der Zubau von volatiler Leistung aus erneuerbaren Energien und von Backup-Kapazitäten.
Auch hier teilen wir die Kritik des Bundesrechnungshofs. Die deutschen Strompreise gehören in der EU zu den höchsten, auch weil der Staat über Steuern und Abgaben heftig mitverdient. Strompreise haben zudem einen preisdiskriminierenden Charakter, weil Großabnehmer für die Kilowattstunde wesentlich weniger bezahlen müssen als Kleinabnehmer. Hierdurch können die Energieversorger, im Gegensatz zu einer einheitlichen Preisbildung, ihre Gewinne durch eine Abschöpfung der Konsumentenrente steigern.
Anders als von den nach wie vor marktmächtigen Stromanbietern immer wieder behauptet, lässt sich das auch nicht mit einer Grenzkostenpreisbildung bezogen auf die einzelnen Nachfragergruppen rechtfertigen. Hier ist ein kartellrechtliches Überprüfungsverfahren lange überfällig – genauso wie die sofortige Abschaffung des zweigliedrigen Strompreises in einen sogenannten Arbeits- und Leistungspreis.
Wie schon der Ex-Vorstandsvorsitzende der Saarbrücker Stadtwerke AG, Leonard, 1986 schrieb, sei das zweigliedrige Tarifsystem kontraproduktiv und elektrizitätswirtschaftlich unlogisch. Es erfülle weder das Ziel einer wirtschaftlich rationalen noch einer nachhaltigen Energieverwendung und verletze das kaufmännische Prinzip einer verursachungsgerechten Kostenverrechnung. Außerdem sei es nicht einmal im Eigeninteresse der Energieversorger, die Spitzenlasten vermeiden wollen. Das zweigliedrige Tarifsystem wirke dagegen verbrauchsfördernd und führe zu einer „Bestrafung“ von Verbrauchern, die sich energiewirtschaftlich rational verhalten.[1]
Wo ist der Masterplan für die Energiewende?
Die oben vorgetragenen Argumente zeigen, dass die vom Bundesrechnungshof am Bundeswirtschaftsministerium geäußerte Kritik zutreffend ist. Es ist offensichtlich, dass die Stellungnahme des Wirtschaftsministeriums nur wenig Realitätsbezug hat. Dies gilt für die nicht gelösten technischen und soziökonomischen Probleme der Energiewende, die insbesondere bei den Finanzierungs- und Verteilungsfragen herrschen.
Der von Habeck öffentlich immer wieder verbreitete Optimismus, was die Umsetzung der Energiewende betrifft, hält auch das Westfälische Energieinstitut für eine rein ideologische Politikintention, die mehr mit Wunschdenken als mit wissenschaftlich fundierter Rationalität zu tun hat. Bis heute fehlt ein holistisches Konzept bzw. ein Masterplan für die Energiewende, der das energiewirtschaftliche Dreieck von Versorgungssicherheit, einem nachhaltigen Klima- und Umweltschutz sowie eine wirtschaftlich tragfähige Energieversorgung in den Fokus rückt.
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