Internationale Politik – 10

An der Armut selber schuld?

| 27. Juni 2023
istock.com/Klaas Slot

Ist die Armut in den Entwicklungsländern rein innerstaatlich verursacht? Diese weit verbreitete These hat auch John Rawls vertreten. Sein Schüler Thomas Pogge gehört zu ihren vehementesten Kritikern: Die reichen Industrienationen fügen den armen Ländern erheblichen Schaden zu.

In den letzten neun Artikeln hat Sophie Lukas zentrale Ansätze der Friedensethik und der Theorie der Internationalen Beziehungen erklärt. Heute beginnt sie mit Theorien globaler Gerechtigkeit.

Sophie: „Auch heute glauben immer noch viele, dass die Armut in den Entwicklungsländern (RIAT) selbstverschuldet ist. Auch John Rawls, einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, hat das angenommen. Dagegen hat sich sein Schüler Thomas Pogge vehement gewehrt. Diese Frage ist auch deshalb ein sehr ernstzunehmendes Problem, weil es hier um eine moralische Minimalforderung geht: Wir dürfen andern keinen unnötigen Schaden zufügen. Wir dürfen Menschen anderer Länder nicht ermorden, versklaven, ausbeuten oder aushungern, um nur schwerste Schädigungen zu nennen.  Damit hat sich Pogge eingehend auseinandergesetzt – seine Überlegungen finden sich in Standardlehrbüchern zur globalen Ethik. Er sich aber auch für politische Lösungsvorschläge eingesetzt.“

Lukas: „Wir dürfen Menschen armer Länder nicht ausbeuten ich glaube, das würde kaum jemand anzweifeln. Dann wären wir mit Pogges Theorie also schon fertig.“

„Ganz und gar nicht. Pogge will zeigen, dass wir genau das tun: Die reichen Industrienationen fügen den armen Ländern erheblichen Schaden zu. Auch nach dem Kolonialismus leiden die armen Länder des Südens aus seiner Sicht bis heute unter einer ungerechten Weltordnung, die vor allem die reichen Industrienationen zu verantworten haben. Die Folgen dieser ungerechten Weltordnung sind laut Pogge ungeheuerlich: Allein zwischen dem Ende des Kalten Kriegs und 2013 sind ca. 400 Millionen Menschen durch Unterernährung oder leicht heilbaren Krankheiten umgekommen.“

„Aber gibt es in diesen armen Ländern nicht viele Missstände wie korrupte Diktatoren, die dafür verantwortlich sind?“

„Das bestreitet Pogge nicht. Aber selbst wenn solche Missstände in den armen Ländern für das Leid die entscheidende Ursache sind, haben die reichen Industrienationen dennoch eine erhebliche Mitverantwortung dafür. Nach Pogge sind wir für die Weltarmut sogar hauptverantwortlich.“

„Das verstehe ich nicht. Wie können wir die Hauptverantwortung tragen, wenn das Verhalten anderer für die Missstände entscheidend ist?“

„Wenn mehrere Personen ein Verbrechen zu verantworten haben, ist es dann immer so, dass jeder nur einen Teil der Verantwortung dafür trägt?“

„Schwer zu sagen.“

„Ich gebe dir ein Beispiel: Zwei Kriminelle ermorden kaltblütig und heimtückisch einen Menschen. Beide mischen verschiedene Substanzen zu einem tödlichen Gift zusammen, das sie dann unter die Lebensmittel ihres Opfers verteilen. Sie sind beide für dessen Tod voll verantwortlich. Oder sollte man ihre Haftzeit halbieren, nur weil sie zu zweit waren?“

„Sicher nicht. Sie haben beide lebenslänglich verdient.“

„Hinsichtlich der Entwicklungsländer nennt Pogge folgenden Vergleich: An einem Fluss leben drei Stämme. Die ersten beiden Stämme lassen Abwässer in den Fluss leiten, die dann zu dem dritten Stamm fließen. Die Abwässer sind für sich nur leicht schädlich, wenn sie sich aber in dem Fluss vermischen, haben sie eine tödliche Wirkung auf den dritten Stamm, für den das Flusswasser lebensnotwendig ist. Die ersten beiden Stämme können sich übereinander beschweren, sind aber für die Todesopfer beide voll verantwortlich. Wofür stehen die drei Stämme in diesem Vergleich?“

„Der dritte Stamm steht für die armen Bevölkerungen der Entwicklungsländer. Die Stämme, die den Fluss vergiften, stehen für die korrupten Diktatoren in den Entwicklungsländern und das Fehlverhalten der reichen Industrienationen. Die reichen Industrienationen verstärken nach Pogge also die Missstände in armen Ländern entscheidend. Ich habe aber gehört, dass die Lebenserwartung in den Entwicklungsländern seit Langem steigt. Wie kann man dann behaupten, dass die reichen Industrienationen den armen Ländern schaden?“

„Das ist für Pogge ein gravierender Trugschluss. Stelle dir vor, du hast eine Grippe und jemand dreht dir auf dem Trödelmarkt ein paar Pillen an. Du nimmst sie ein und nach einer Woche bist du die Grippe los. Ist das ein Beweis dafür, dass die Pillen geholfen haben?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Es könnte sein, dass die Pillen wirkungslos waren. Es könnte aber auch sein, dass die Pillen dir nicht geholfen, sondern dir sogar geschadet haben. Hättest du sie nicht eingenommen, wärst du früher gesund geworden. Aus Pogges Sicht hat die ungerechte Weltordnung den Entwicklungsländern nicht geholfen, sondern geschadet. Sie hat zu Millionen Todesopfern geführt, die hätten vermieden werden können. Besonders China hat in den letzten Jahrzehnten einen großen Teil seiner Armut überwunden. Das bedeutet aber nicht, dass unsere Weltordnung der Grund dafür ist. Es könnte sehr wohl sein, dass China diese Verbesserungen erreicht hat, obwohl wir eine ungerechte Weltordnung geschaffen haben. Auch wenn sich die Lebenserwartung erhöht hat, liegt die Differenz zu reichen Industrienationen oft immer noch bei Jahrzehnten. Wenn ein Mensch aus einer reichen Industrienation heute auf ein langes Leben zurückblickt, sind Millionen von Menschen armer Länder seiner Generation schon lange tot.“

„Aber wie begründet Pogge, dass wir armen Ländern auf so gravierende Weise schaden? Er muss ja zeigen, dass die Armut größtenteils überwunden wäre, würden wir uns anders verhalten.“

„Pogge hat besonders darauf aufmerksam gemacht, dass die reichen Industrienationen die demokratischen Rechte der Bevölkerungen armer Länder in gravierender Weise missachten.“

„Und wie?“

„Wie würdest du reagieren, wenn der deutsche Staat eine Mafia unterstützten würde, die die deutsche Bevölkerung terrorisiert? Wenn der deutsche Staat der Mafia illegale Waren abkaufen und Geschäfte mit der Mafia legalisieren würde?“

„Dann wäre der deutsche Staat für das Leid, das die Mafia verursacht, mitverantwortlich, wenn nicht hauptverantwortlich.“

„Gut. Versuche jetzt dieses Beispiel auf die internationale Staatenordnung zu übertragen.“

„Lass mich raten: Die Mafia steht für korrupte Diktatoren, die sich am Verkauf der Rohstoffe ihres Landes eine goldene Nase verdienen.“

„Richtig. Die Diktatoren sind nicht demokratisch gewählt worden, sondern haben sich an die Macht geputscht. Deshalb sind sie auch nicht rechtmäßige Eigentümer der Ressourcen
ihres Staates. Die Ressourcen gehören der Bevölkerung. Für was steht der Staat in unserem Beispiel?“

„Ich weiß nicht genau. Das Problem ist doch, dass jeder diesen Diktatoren Rohstoffe abkaufen und dann behaupten kann, er sei der rechtmäßige Eigentümer, obwohl sie eigentlich der Bevölkerung gehören. Der Staat steht vielleicht für die internationale Gemeinschaft der Staaten, die solche Geschäfte verbieten sollte.“

„Auch richtig. Das grundsätzliche Problem ist für Thomas Pogge eine ungerechte Weltordnung, die von den reichen Industrienationen maßgeblich geprägt wurde. In dieser Weltordnung wird praktisch jedes Staatsoberhaupt anerkannt, das an der Macht ist, ganz egal wie es an die Macht gekommen ist. Ein Diktator kann sich dann durch die Rohstoffe des Landes bereichern und an der Macht halten. Er verkauft die Rohstoffe ins Ausland und kauft dafür Waffen und Söldner ein, mit denen er die Bevölkerung unterdrücken kann. Neben den Rohstoffen sind es große Kredite, die autoritäre Regime von internationalen Banken erhalten dürfen und die ihrem Machterhalt dienen.

Thomas Pogge kritisiert also juristisch gesprochen das internationale Rohstoffprivileg und das internationale Kreditprivileg, das unabhängig von der demokratischen Legitimation dazu berechtigt, Rohstoffe zu verkaufen und Kredite aufzunehmen. Dieses System festigt nicht nur bestehende Diktaturen, sondern schafft regelrecht Anreize, sich an die Macht zu putschen. Die Aussichten sind sehr attraktiv.“

„Kannst du mir dafür ein Beispiel geben?“

„Ein typisches Beispiel ist Angola, ein armes Land im Südwesten Afrikas. Annähernd die Hälfte seiner 28 Millionen Einwohner leben sogar in extremer Armut. Sie müssen mit weniger als 1,25 Dollar pro Tag auskommen. Angola ist aber auch ein reiches Land, reich an Bodenschätzen, vor allem Öl und Diamanten. Öl macht sogar über 90 Prozent aller Exporte Angolas aus. Die größten Abnehmer des Öls sind die USA und China, aber auch Europa und Lateinamerika kaufen Öl aus Angola.  Zu den Ölgesellschaften, die in Angola tätig sind, gehören die bekannten großen Namen: Chevron, Exxon Mobil, BP oder Total.

Die hohen Einkünfte aus den Rohstoffexporten werden jedoch von einer korrupten Clique aus Politikern und Militärs kontrolliert, die in Angola als ‚die Futungo‘ bekannt sind. (Der alte Präsidentenpalast hieß ‚Futungo de Belas‘.) ‚Funtungo‘ - das bedeutet für die Angolaner ein undurchschaubares System aus persönlichen Verbindungen, Mittelsmännern und Scheinfirmen, die es den angolanischen Eliten erlauben, die staatlichen Einnahmen im großen Stil zu plündern. Auch die ausländischen Konzerne profitieren davon, indem sie Steuern sparen.

Eine berüchtigte Figur der Futungo ist die Tochter des ehemaligen Präsidenten Eduardo dos Santos, der Angola fast vierzig Jahre mit harter Hand regierte. Sie gilt als reichste Frau Afrikas und soll ein Vermögen von 2,6 Milliarden Dollar haben. Seit 2018 gibt es einen neuen Präsidenten, der der Korruption den Kampf angesagt und sogar den Sohn des ehemaligen Präsidenten verhaften ließ. Doch gibt es berechtigte Zweifel, ob er es damit wirklich ernst meint oder ob es ihm nicht eher um die Errichtung eines neuen Plünderungssystems geht. Die Weltordnung, würde Pogge sagen, würde ihm keine spürbaren Hindernisse entgegenstellen.

Die reichen Industrienationen sind darüber hinaus für eine ganze Reihe weiterer Ungerechtigkeiten verantwortlich, über die wir noch ausführlicher sprechen sollten: Steueroasen, unfaire Zölle oder ungerechtfertigte Zinslasten.“

„Du redest dauernd von ‚uns‘, aber wer ist denn genau für die Schädigungen verantwortlich? Meine Eltern? Meine Lehrer? Oder die Politiker?“

„Für Thomas Pogge sind alle mitverantwortlich, die die internationalen Institutionen geschaffen haben und tragen. Das sind in erster Linie die Regierungen der reichen Industrienationen. Die Verantwortung betrifft aber auch alle, die in diese Institutionen eingebunden sind und die Ungerechtigkeit billigend in Kauf nehmen, obgleich sie sich politisch dagegen engagieren könnten. Also ja: es betrifft letztlich auch deine Eltern und deine Lehrer. Aus dieser Verantwortung folgt nicht nur, dass die reichen Industrienationen die Ungerechtigkeit beenden sollten. Wer geschädigt wurde, hat moralisch auch einen Anspruch, von den Verantwortlichen entschädigt zu werden, wie Pogge betont.“

„Gibt es auch Philosophen, die in ihrer Kritik unseres Verhaltens nicht so weit gehen wie Pogge?“

„Natürlich, ich werde dir gleich einen vorstellen. Aber vorher sollten wir uns über eine weitere moralische Mindestanforderung Gedanken machen: die Pflicht zur Hilfeleistung für Menschen in existentieller Not. Die am meisten diskutierte Antwort stammt von Peter Singer, einem sehr bekannten Philosophen, der aus Australien stammt. Er lebt heute aber in den USA und ist Professor an der Princeton-University.“

Der nächste Artikel behandelt Peter Singers effektiven Altruismus.