Virchow-Preis für Global Health

Konterkariertes Erbe

| 29. Juni 2023

Beim World Health Summit im Oktober wird das Virchow-Komitee zum zweiten Mal den gleichnamigen Preis für besondere Leistungen auf dem Gebiet der globalen Gesundheit vergeben. Doch das Global-Health-Verständnis der Virchow-Stiftung hat Schlagseite.

Herausragende Entdeckungen im Bereich "akademischer, politischer, sozialer oder wirtschaftlicher/industrieller Innovation" soll der Virchow-Preis auszeichnen. Er ist eine Art Global-Health-Pendant zu den naturwissenschaftlichen Nobelpreisen. Mit ihm möchte die gleichnamige Virchow-Stiftung "Lebensleistungen in Richtung Gesundheit für alle" würdigen und "den Weg zu einer inklusiven globalen Gesundheit“ weisen, „die auch systemisch und interdisziplinär ist".[1]

Erstmaliger Preisträger war im Oktober 2022 der aus Kamerun stammende Virologe Dr. John Nkengasong, den das Preiskomitee für „beispiellose Leistungen bei der Bewältigung von komplexen, globalen Gesundheitsproblemen“ auszeichnete. „Beispielhaft“ wiederum sei seine „Arbeit, die grundlegende Gesundheitsversorgung den besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen zugänglich zu machen“. Besondere Verdienste habe Nkengasong beim Kampf gegen HIV/AIDS und zuletzt gegen die COVID-19-Pandemie erworben.

Auch wenn sich der Preisträger als Begründer des afrikanischen Center of Disease Control (CDC) und für eine neue afrikanische Public-Health-Ordnung hervorgetan hat, liegen seine Verdienste vornehmlich auf dem Gebiet der Biomedizin. Abgesehen von der generellen Dominanz einer naturwissenschaftlich-klinischen Sichtweise in der globalen Gesundheit, macht ein genauerer Blick auf die Initiatoren des Virchow-Preises deutlich, warum sie lieber auf Biomedizin setzen als auf ein eher systemisches Verständnis und die Beschäftigung mit sozialen Einflussfaktoren von Gesundheit und Krankheit.

Philanthrokapitalismus und Global Health

Im Virchow-Rat finden sich neben dem Initiatoren des jährlich in Berlin stattfindenden World Health Summit, in dessen Rahmen die Preisverleihung erfolgt, ein protestantischer Theologe und Professor für antikes Christentum und ein Paläoklimatologe, die sich bisher nicht erkennbar in der globalen Gesundheit hervorgetan haben, der Cheflobbyist der deutschen Gesundheitsindustrie sowie Friede Springer, die Witwe und Erbin von Axel Cäsar Springer.

Ihre Beteiligung ist ein weiterer Hinweis auf die Untergrabung zentraler Global-Health-Ziele wie Universalität und Gerechtigkeit durch die Finanzaristokratie. Das Geld, das in die Virchow-Stiftung fließt, stammt vom Medienkonzern Springer, der mit BILD und WELT auflagenstarke Zeitungen herausgibt.

Das derart geprägte, auf den ersten Blick begrüßenswert wirkende Phänomen der Philanthropie breitet sich seit vielen Jahren immer weiter aus: in Politik, Wissenschaft, Entwicklungszusammenarbeit, Forschung und vielen anderen Bereichen. Gerade im Bereich der globalen Gesundheit hat es in den letzten Jahrzehnten einen erheblichen Umfang angenommen.[2] Die auf dem Vermögen von John D. Rockefeller, Henry Wellcome und dem einstigen Ehepaar Bill und Melinda Gates begründeten, gleichnamigen Stiftungen bestimmen heute durch den schieren Umfang ihrer Finanzmittel die globale Gesundheitspolitik in weit stärkerem Maße als die Weltgesundheitsorganisation WHO oder einzelne Staaten(gemeinschaften).

Abgesehen davon, dass das in den Stiftungen geparkte Geld der Besteuerung entzogen ist, nehmen die Stifter ohne jegliche Transparenz und Rechenschaftspflicht erheblichen Einfluss auf die globale Gesundheitsagenda und auf die nationale Gesundheitspolitik vieler Länder. Der Philanthrokapitalismus drückt der gesamten internationalen Zusammenarbeit das Geschäftsmodell der gewinnorientierten globalen Wirtschaft mit ihrer kurzfristigen effizienz- und marktorientierten unternehmerischen Denkweise auf. Die Fokussierung auf Projekte mit messbaren Wirkungen führt zwangsläufig zu einer Einengung des Gesundheitsverständnisses auf ausgewählte Krankheitsbilder und technokratische Ansätze, also zu einem primär biomedizinischen Verständnis von Global Health.[3]

Biomedizinische Einengung in Widerspruch zu Virchows Denken

Würde man das Wirken Virchows, der Zeit seines Lebens für Sozialreformen und eine konstitutionelle Demokratie kämpfte, ernst nehmen, ginge es letztlich darum, die Macht der philanthropischen Organisationen zu beschneiden, die heute die globale Gesundheitspolitik und -praxis dominieren, nicht zuletzt durch ihre Finanzierung der WHO.

Stattdessen konterkariert zweihundert Jahre nach Virchows Geburt die nach ihm benannte Stiftung nun mit dem Virchow-Preis sein Erbe. Die in der globalen Gesundheitspolitik vorherrschende und auch mit der ersten Preisverleihung bestätigte biomedizinische Einengung steht in krassem Widerspruch zu Virchows Denken und Schaffen. Virchow, der in seinen Schlesischen Tagebüchern so anschaulich den engen Zusammenhang zwischen Armut und Arbeitsbedingungen auf der einen und Gesundheit auf der anderen Seite beschrieben hat, gilt als wichtigster Begründer der Sozialmedizin. Lange bevor sich der Begriff der sozialen Determinanten entwickelte, reichte sein Denken weit über ein rein biomedizinisches Verständnis von Gesundheit hinaus. Er betrachtete Ärzte als die natürlichen Anwälte der Armen und wies die soziale Frage weitgehend dem fachlichen und menschlichen Mandat der Ärzte zu.

Während der industriellen Revolution und der daraus resultierenden massiven Land-Stadt-Abwanderung, die eine Zerrüttung der Lebensverhältnisse, Verelendung sowie enorme soziale und gesundheitliche Ungleichheiten mit sich brachte, sah er die Medizin als eine Sozialwissenschaft – und die Politik als nichts anderes als Medizin im großen Stil.

Postkolonialismus: Gekaufte Anerkennung

Bemerkenswert ist auch, wie geschmeidig und erfolgreich die Virchow-Stiftung mit ihrem Preis auf den Postkolonialismus aufgesprungen ist. Die Vergabe des ersten Preises seiner Art an einen Experten aus einem Land im südlichen Afrika war erwartbar. Zu stark haben die extreme Ungleichheit zwischen globalem Norden und Süden und die Forderung nach Entkolonialisierung von Global Health die Debatte in den letzten Jahren geprägt, als dass eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre.

Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, zumal die herausragenden Leistungen des ersten Preisträgers auch jenseits der genannten Beschränkung auf Biomedizin über jeden Zweifel erhaben sind. Erstaunlich ist allerdings, wie leicht sich Verfechter des Postkolonialismus durch eine solche Anerkennung kaufen lassen: Reaktionen auf die Preisvergabe an Nkengasong deuten darauf hin, dass die afrikanische Community die Auszeichnung eines kamerunischen Wissenschaftlers als Zeichen für die Überwindung der historischen Marginalisierung des globalen Südens und als einen Schritt zur Entkolonialisierung der globalen Gesundheitspolitik betrachtet. Mit dem Virchow-Preis hat die gleichnamige Stiftung also offenbar sehr erfolgreich die Illusion eines Beitrags zur Entkolonialisierung von Global Health erfüllt.

Entkolonialisierung erfordert mehr als Symbolpolitik

Das damit angesprochene, primär identitäre Verständnis von Kolonialismus ist allerdings ebenso irreführend wie apolitisch. Entkolonialisierung der globalen Gesundheit erfordert mehr als Symbolpolitik. Sie muss die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen ebenso in den Blick nehmen wie die zutiefst ungleichen Handelsbeziehungen, die Abwanderung von Köpfen und Kapital, das Geschäftsgebaren transnationaler Konzerne und technologische Abhängigkeiten. Eine tatsächlich „systemische und interdisziplinäre“ Auszeichnung wie der Virchow-Preis hätte diese Aspekte angemessen berücksichtigen müssen.

Eine intensivere Beschäftigung mit Rudolf Virchow lässt zudem Zweifel an seiner Tauglichkeit als Beförderer der Entkolonialisierung aufkommen. Als Anthropologe beteiligte er sich an der Suche nach bio-rassischen Charakteristika zum Beispiel durch Schädelvermessungen, konnte allerdings keine typische Physiognomie zwischen „Juden“ und „Deutschen“ erkennen. Außerdem unterstützte er als Freund des Troja-Entdeckers Heinrich Schliemann den Raub antiker Gegenstände, die bis heute unter anderem im Berliner Pergamon-Museum zu besichtigen sind.

Dass der nächste Virchow-Preis tatsächlich die komplexen und nicht-medizinischen Einflussfaktoren von globaler Gesundheit als Kriterium für die Preisvergabe berücksichtigt, ist ziemlich unwahrscheinlich. Schließlich handelt es sich bei den Gründungsmitgliedern der Virchow-Stiftung um Schlüsselpersonen der deutschen privaten Gesundheitsindustrie, darunter Pharmahersteller, die ihre Patente vehement verteidigen und damit nicht nur den weltweiten Zugang zu COVID-19-Impfstoffen, sondern auch zu lebenswichtigen Medikamenten behindern.

Eine der treibenden Kräfte der Virchow-Stiftung ist die German Health Alliance, die sich selbst als "Die internationale Stimme des deutschen Gesundheitswesens" bezeichnet, jedoch im Wesentlichen eine Lobbyorganisation des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) ist. Globale Gesundheitspolitik und -praxis darf aber kein bloßer Ansatz für die Erschließung neuer Märkte für die deutsche Exportindustrie sein. Die Welt braucht nicht noch mehr Weißwaschen durch eine Industrie, die ihre Profite weiterhin auf Kosten der öffentlichen Gesundheit im Globalen Süden maximiert und damit postkoloniale Abhängigkeiten ausnutzt.

Dieser Beitrag ist angelehnt an einen gemeinsam mit zwei Kollegen im BMJ Global Health veröffentlichten Artikel des Autors: Jens Holst, Peter Tinnemann, Remco van de Pas. The Virchow Prize: cementing commodification, coloniality and biomedical reductionism in global health? BMJ Global Health 8 (5): e011240. DOI: 10.1136/bmjgh-2022-011240.

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[1] Kickbusch I, Ihekweazu C. At last, a prestigious prize for global health. BMJ 2022;379, bmj.o2446.
[2] Birn AE. Philanthrocapitalism, past and present: The Rockefeller Foundation, the Gates Foundation, and the setting(s) of the international/global health agenda. Hypothesis 2014;12 (1): e8. DOI:10.5779/hypothesis.v12i1.229.
[3] Holst J. Global Health – emergence, hegemonic trends and biomedical reductionism. Globalization Health 2020;16:42.