Verdammt zum ewigen Konflikt mit Russland?
Will die EU helfen, den Ukraine-Konflikt zu beenden, muss sie beginnen, auch die Russen als wesentliche Bestandteile der europäischen Identität zu betrachten.
Das offizielle ukrainische Kriegsnarrativ lautet in etwa so: Mit der Absicht, die Existenz der Ukraine als Staat zu beenden, startete Russland einen unprovozierten Angriff auf die Ukraine. Um die Lage zu testen, annektierte Russland zuvor die Krim und marschierte in die Ostukraine ein. Der einzige Grund für den heutigen Konflikt ist demnach die militärische Intervention Moskaus als Teil des größeren Plans des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die UdSSR wiederherzustellen.
Die offizielle russische Darstellung konzentriert sich dagegen auf die Ursachen der militärischen Invasion Russlands. Sie geht ungefähr so: Mit der Auflösung des Warschauer Paktes glaubte das postkommunistische Russland, den Grundstein für ein gegenseitiges Sicherheitsabkommen mit der NATO gelegt zu haben, das auf dem Prinzip der Nichtausdehnung derselben nach Osten beruhte.[1] Der Westen hielt sich jedoch nicht an diese Verpflichtung und begann, seine militärische Infrastruktur in den neu erworbenen Gebieten auszubauen. Wiederholt sprach Russland eine russische NATO-Mitgliedschaft an (nicht weniger als viermal), wurde aber immer wieder abgewiesen.[2] Die anschließenden Bemühungen einiger westlicher Regierungen, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, verstärkten nur noch das russische Gefühl der Bedrohung.
Es gibt jedoch noch eine dritte Sichtweise auf den derzeitigen Krieg. Sie konzentriert sich nicht auf die Gewalt von außen, sondern auf die Gewalt im Inneren, die in der Besetzung des ukrainischen Parlaments durch militante Regierungsgegner gipfelte. Aus Angst vor einer Wiederholung der Maidan-Proteste von 2004, die ihrer Meinung nach als Vorwand für die Fälschung der Wahlen von 2004 genutzt worden waren, forderten zwei Regionen, die Krim und der Donbass, die Einhaltung des am 21. Februar 2014 unterzeichneten politischen Abkommens. Als dies nicht geschah, baten die Rebellen in diesen beiden Regionen Russland um Schutz. Russland annektierte daraufhin die Krim, forderte aber den Donbass auf, in die Ukraine zurückzukehren, und schlug das Minsker Abkommen als Fahrplan für seine Wiedereingliederung vor.[3]
In den folgenden acht Jahren bemühte sich Russland um einen politischen Kompromiss, der die Rebellion beenden sollte. Die Minsk-II-Vereinbarung sah eine einfache Formel vor: größere kulturelle und politische Autonomie für den Donbass im Gegenzug für den Wiederanschluss an die Ukraine. Diese Bemühungen wurden jedoch von der ukrainischen Regierung routinemäßig vereitelt, und zwar, wie es jetzt scheint, mit stillschweigender Unterstützung des Westens.[4]
Viele westliche Regierungen schließen sich der offiziellen ukrainischen Darstellung vorbehaltlos an. Die Regierung Biden beispielsweise hat die Niederlage Russlands in der Ukraine zur nationalen Sicherheitsangelegenheit erklärt. Um US-Verteidigungsminister Lloyd Austin zu zitieren: "Die USA sind bereit, Himmel und Erde in Bewegung zu setzen, um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen."[5]
Die Argumente für einen Krieg mit Russland beruhen auf der Überzeugung, dass nichts anderes als eine demütigende Niederlage in der Ukraine Putin von künftigen Aggressionen abhalten wird. Da Russland jedoch eine Atommacht ist, muss seine Niederlage ohne den direkten Einsatz von NATO-Kampftruppen herbeigeführt werden, sondern stattdessen durch die Versorgung der ukrainischen Armee mit NATO-Waffen, nachrichtendienstlichen Informationen und Militärberatung. Um dieses strategische Ziel, den Sieg über Putin, zu erreichen, versuchen die westlichen Regierungen, den Konflikt so lange wie nötig hinauszuzögern.[6] Wie der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte, „ist dies nicht nur ein Krieg um die Ukraine (...) er ist Teil eines größeren Kreuzzugs. Moskau kämpft gegen die liberale Demokratie (...) gegen Freiheit und Fortschritt."[7]
Doch nun, da sich der Konflikt seit mehr als einem Jahr hinzieht, beginnen einige zu hinterfragen, ob die Strategie des Westens, die US-Senator Lindsey Graham treffend als Kampf „bis zum letzten Mann" beschrieb, wirklich im besten Interesse des ukrainischen Volkes ist.[8]
Einerseits hat die massive finanzielle und militärische Unterstützung des Westens zweifellos dazu beigetragen, die Entschlossenheit der Ukraine im Kampf gegen die russische Aggression zu stärken, zumindest kurzfristig. Langfristig jedoch kann die Blockade einer diplomatischen Lösung, zu der die Ukraine im März 2022 offenbar bereit war, mit der Zeit zu so großen Verlusten führen, dass sie die Lebensfähigkeit des Landes untergraben.[9]
Die enormen Unterschiede zwischen der Ukraine und Russland in Bezug auf Bevölkerungszahl, Wohlstand und Ressourcenverfügbarkeit veranlassten einige Analysten zu der Vermutung, dass die kostspieligen Siege der Ukraine auf dem Schlachtfeld nur so lange anhalten werden, bis Russland sich entschließt, seine Ressourcen vollständig zu mobilisieren.[10] Sollte dies tatsächlich der Fall sein und unter der Annahme, dass die Unterstützung der NATO für die Ukraine auf Sanktionen, Waffen und Finanzierung beschränkt bleibt, ist es durchaus wahrscheinlich, dass der militärische Sieg Russlands nur eine Frage der Zeit ist.[11]
Anstatt eine ineffektive Strategie zu verfolgen, die den Konflikt auf unbestimmte Zeit verlängert, sollten die westlichen Regierungen eine Friedensstrategie in Betracht ziehen, die sich auf die Interessen des ukrainischen Volkes konzentriert – des gesamten ukrainischen Volkes. Dies würde eine Politik erfordern, die sich in erster Linie auf die innere Versöhnung und die Wiederherstellung der sozialen Harmonie unter den Ukrainern konzentriert.
Es mag zwar politisch unkorrekt sein, dies jetzt zu sagen, aber es gibt noch eine andere Ukraine, die seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1991 um kulturelle, politische und religiöse Anerkennung innerhalb des Landes kämpft. Präsident Zelensky selbst spielte kürzlich auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2023 auf sie an, indem er sagte: „Um ehrlich zu sein, sind viele aus unserem Land geflohen. Viele sind aus eigenem Antrieb bei den Invasoren geblieben. Und Informationen dieser Art gibt es reichlich."[12]
Diesen Teil der Bevölkerung bezeichne ich als die „andere Ukraine“ und behaupte, dass der Konflikt nur gelöst werden kann, wenn man sowohl innerhalb als auch außerhalb der Ukraine besser versteht, was diese seit der ukrainischen Unabhängigkeit zu erreichen versucht hat, und warum das zu einem Krieg in Osteuropa führte.
Was ist die „andere Ukraine“, und was will sie?
Die unterschiedlichen Siedlungsmuster östlich und westlich des Flusses Dnjepr, der die Ukraine in zwei Hälften teilt, haben das historisch-kulturelle Muster der Ostukraine als bikulturell geprägt. Dort entwickelte sich eine eigenständige regionale Identität, in der sowohl die russische als auch die ukrainische Sprache frei interagierten. Interessant ist, dass in der ukrainischen Verfassung die ukrainische Sprache die einzige Amtssprache ist, während in der ersten Verfassung der von den Rebellen kontrollierten Teile von Donezk und bis heute in Lugansk und auf der Krim sowohl Russisch als auch Ukrainisch als Amtssprache anerkannt sind.
Auch das Wahlverhalten in den Regionen unterscheidet sich stark vom Rest der Ukraine. Kritiker führen dies oft auf die Nostalgie nach der Sowjetunion zurück. Doch ist es eher als eine Sehnsucht nach dem Kosmopolitismus der Sowjetzeit zu verstehen, der das gemischte kulturelle Erbe und die industriellen Errungenschaften der Region schätzte. Politisch manifestierte sich dies in einer entschiedenen Ablehnung des in der Westukraine verbreiteten mono-ethnischen Nationalismus und in der Bejahung einer ukrainischen Identität, die untrennbar mit der russischen Kultur, wenn nicht gar mit der russischen Politik verbunden ist. Dieses Muster hat sich sowohl bei den Maidan-Protesten 2004 als auch beim Maidan 2014 deutlich gezeigt. Während in der Westukraine die Unterstützung für den Maidan selten unter 80 Prozent fiel, lag sie in der Ost- und Südukraine so gut wie nie über 20 Prozent.
Vor 2022 machte diese „andere Ukraine“ etwa 40 Prozent der ukrainischen Gesamtbevölkerung aus.[13] Sie sind eher orthodoxe Christen als griechische Katholiken; sie sprechen beide Sprachen fließend, betrachten Russisch aber eher als ihre Muttersprache und sehen ihr ukrainisches Erbe als integralen Bestandteil der russischen Kultur und nicht als etwas davon Getrenntes. Wenn sie die Wahl haben, entscheiden sie sich in der Regel für ein engeres Bündnis mit Russland als mit dem Westen.
In seinem "Appell an die russischen Landsleute" von 1991 versprach der erste ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk der „anderen Ukraine“ die "volle Miteigentümerschaft" des Landes. Er versprach, dass „jeder Versuch, sie aus ethnischen Gründen zu diskriminieren, entschieden unterdrückt werden würde."[14] Wjatscheslaw Tschornowil, Kopf der in der Westukraine populären Unabhängigkeitsbewegung Rukh, unterstützte diesen Ansatz ebenfalls und sprach sich für eine föderale Ukraine mit einer Zweikammer-Legislative aus, die allen Regionen eine Stimme geben würde.[15] Dieser Geist des Entgegenkommens erreichte 2012 seinen Höhepunkt, als das ukrainische Parlament dafür stimmte, jeder Region mit einem einer Minderheit angehörigen Bevölkerungsanteil von 10 Prozent das Recht einzuräumen, diese Minderheiten-Sprache für offizielle Zwecke zu verwenden. Innerhalb weniger Wochen nahmen alle Regionen in der Osthälfte des Landes Russisch als zweite Sprache an.
Dies war das erste Gesetz, das das ukrainische Rumpfparlament, das Präsident Janukowitsch im Februar 2014 absetzte, aufhob. Die Krim, die einzige Region der Ukraine, in der sich die Mehrheit als ethnisch russisch identifizierte, entschied sich daraufhin mit russischer militärischer Unterstützung, die Ukraine zu verlassen. Das Ziel des Aufstands im Donbass hingegen war es, die Autonomie der Region in der ukrainischen Verfassung zu verankern. Diese Lösung wurde auch von Russland befürwortet, das sich damals weigerte, die Unabhängigkeitsreferenden im Donbass anzuerkennen und stattdessen das Minsker Abkommen vorschlug, das den Donbass im Gegenzug für eine begrenzte regionale Autonomie zum Anschluss an die Ukraine gezwungen hätte.
Wie wir wissen, scheiterten diese Bemühungen. Und im Februar 2022 kam Russland zu dem Entschluss, dass es nur einen Weg gäbe, die Rechte und die Sicherheit der lokalen Bevölkerung zu gewährleisten: die Eingliederung der Gebiete. Doch wo auch immer die Demarkationslinie letztendlich gezogen wird, sie wird erneut Familien und Verwandte trennen, so wie es die Grenze zwischen der Ukraine und Russland 1991 tat.
Kriege verändern die Einstellung der Bevölkerung (für eine Weile)
Die West- und Zentralukraine haben lange Zeit die Idee einer unabhängigen Ukraine unterstützt. Die Süd- und Ostukraine sind jedoch ebenso lange der Idee treu geblieben, dass die Ukraine und Russland durch ein gemeinsames Schicksal verbunden sind. In diesen Regionen ist die positive Einstellung gegenüber Putin und der russischen Regierung nach 2014 zwar stark zurückgegangen, die persönliche Sympathie für die Durchschnittsrussen jedoch nicht. Noch im Juli 2021 ergab eine landesweite Umfrage unter Ukrainern, dass 41 Prozent (und fast zwei Drittel im Osten und Süden) mit Wladimir Putin darin übereinstimmten, dass Russen und Ukrainer ein Volk sind.[16] Wie der Pro-Maidan-Journalist Vitaly Portnikov Anfang 2022 bedauernd bemerkte: "Solange Ukrainer und Russen bei denselben Fernsehsendungen weinen, ist der Präsident der Ukraine definitiv Wladimir Putin und nicht Wladimir Zelenski."[17]
Aber Kriege können die Einstellung der Menschen dramatisch verändern. Und es ist unbestreitbar, dass die ukrainische Feindseligkeit gegenüber Russland derzeit auf einem Allzeithoch ist. Gleichzeitig wäre es jedoch töricht anzunehmen, dass dies immer so bleiben wird.[18] Wie Präsident John F. Kennedy 1963, nur wenige Wochen nach der Kubakrise, bemerkte, „lehrt uns die Geschichte, dass Feindschaften zwischen Nationen, wie auch zwischen Individuen, nicht ewig bestehen bleiben. Wie festgelegt unsere Vorlieben und Abneigungen auch scheinen mögen, der Lauf der Zeit und die Ereignisse bringen oft überraschende Veränderungen in den Beziehungen zwischen Nationen und Nachbarn mit sich."[19] Wir brauchen nur daran zu denken, wie dramatisch sich die Einstellungen zwischen England und Irland, Mexiko und den Vereinigten Staaten oder Frankreich und Deutschland verändert haben.
Ich vermute, dass ein langfristiger Wandel in der Mentalität der „anderen Ukrainer“ gegenüber Russland, wenn er denn eintritt, nicht auf den Krieg an sich zurückzuführen ist, sondern auf die politischen und kulturellen Beschränkungen, die Kiew der „anderen Ukraine“ aller Wahrscheinlichkeit nach auferlegen wird. Viele hochrangige ukrainische Regierungsvertreter sind der Ansicht, dass die „andere Ukraine“ nach dem Krieg für eine Generation oder länger militärisch besetzt werden muss, ähnlich wie der Süden nach dem amerikanischen Bürgerkrieg.[20]
Ein Problem bei einer solchen Politik ist, dass sie möglicherweise nicht funktioniert. Dreißig Jahre Unabhängigkeit haben nicht dazu geführt, dass der ukrainische Nationalismus im Osten und Süden attraktiver geworden ist. Umfragen Ende 2021 zeigten, dass Bücher, Fernsehen und Musik in russischer Sprache durchweg beliebter waren als die ukrainische Sprache.[21] Obwohl Zensur und politischer Druck diese Beliebtheit bei der jetzigen Generation verringern werden, sollte man die Anziehungskraft von Russlands verwandter Kultur für zukünftige Generationen von Ukrainern nicht unterschätzen.
Ein zweites Problem besteht darin, dass der mono-ethnische Nationalismus, der derzeit vom Kiewer Regime als Lösung für die kulturelle und politische Spaltung der Ukraine vorgeschlagen wird, mit den Grundsätzen der EU unvereinbar ist. Es ist schwer vorstellbar, wie die EU zwei konzeptionell unvereinbare Wege miteinander vereinbaren kann: Einerseits versucht sie, den Nationalismus unter ihren „aufgeklärten" westlichen Mitgliedern zu unterdrücken, andererseits unterstützt sie den Nationalismus in der Ukraine. Dieses Vorgehen hat bereits zu heftigen Reibereien zwischen Brüssel auf der einen und Warschau und Budapest auf der anderen Seite geführt.
Ein Weg nach vorn
Ein besserer Weg zur Lösung dieses Dilemmas wäre, wenn die europäischen Institutionen ihre derzeitige Gleichgültigkeit gegenüber den Bestrebungen jener Minderheitengemeinschaften überwinden, die, wie die „andere Ukraine“, ein tiefes Gefühl der Verbundenheit mit Russland bewahren. Stattdessen sollte die EU anfangen, die Russen und die russische Kultur als wesentliche Bestandteile der europäischen Identität zu betrachten.
Dies ist mehr oder weniger das, was Jacques Attali kürzlich forderte. Der ehemalige Berater des französischen Präsidenten François Mitterrand und Gründungschef der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung argumentierte, dass der Krieg in der Ukraine nicht gewonnen werden kann, ohne paneuropäische Institutionen zu schaffen, die dazu beitragen würden, den Frieden zu festigen. Für Attali bedeutet dies, Russland in einen europäischen demokratischen Raum einzubinden, und zwar durch „einen umfassenden Plan zum Wiederaufbau der Region, von Belorussland bis Albanien, von Kiew bis Wladiwostok. „Ein Plan, der die einen mit den anderen verbindet, und der in einem Land erst dann aktiviert wird, wenn es wieder auf den Weg der Demokratie zurückgekehrt ist."[22]
Zwar räumt Attali ein, dass eine solche Vision heute unvorstellbar erscheint. Er erinnert aber daran, dass es genau eine solche, vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelte Vision war, die schließlich zur Gründung der Europäischen Union führte.
Leider zeigte sich, dass eine solche Vision jenseits der Vorstellungskraft der ersten Generation der führenden Politiker nach dem Kalten Krieg lag. Sie muss daher zu einer wesentlichen Priorität für die nächste Generation werden. Denn ohne eine solche, sich in konkreten politischen Maßnahmen manifestierende Vision ist ganz Europa zum ewigen Konflikt mit Russland verdammt.
Dieser Essay erschien zuerst am 1.3.2023 in Transatlantic Policy Quarterly (TPQ). Übersetzung ins Deutsche: Ulrike Simon.
--------------------------------