Alte Rezepte, neue Risiken
Liebe Leserinnen und Leser,
dass Friedrich Merz ankündigte, den deutschen Binnenmarkt stärken zu wollen, sehen manche Stimmen als Angriff auf einen „essenziellen Anker deutscher Identität“ – das Exportmodell. Das Problem: Dieses Modell basiert nicht nur auf deutscher Ingenieurskunst, sondern wesentlich auf Lohnzurückhaltung und einem schwachen Binnenmarkt. Der Einbruch der Binnennachfrage ist kein unbeabsichtigter Kollateralschaden, sondern Folge bewusster wirtschaftspolitischer Strategien seit den 2000er Jahren, insbesondere der Agenda 2010 (Stichwort: größter Niedriglohnsektor Europas).
Mit anderen Worten: Diese Politik hat die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie gestärkt, gleichzeitig aber die Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten gedämpft. Das Ergebnis: Ein anhaltender Handelsbilanzüberschuss, der Deutschland zum fragwürdigen Titel der „Exportweltmeisterschaft“ führte.
Doch in einer sich verändernden Welt „kann man seine Identität nicht zum sakrosankten Kulturgut erklären“, wie MAKROSKOP-Herausgeber Heinrich Röder schreibt. Denn die neue US-Zollpolitik ist nicht nur als defensive Maßnahme gegen China zu verstehen, sondern ebenso als gezielte Reaktion auf das deutsche Exportmodell mit dem Ziel, strukturelle Ungleichgewichte zu korrigieren.
Dabei ist die amerikanische Kritik an Deutschlands Handelsüberschüssen nicht neu, sie flammt angesichts der globalen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen immer wieder auf. Historisch erinnert sie an die Handelskonflikte der 1970er und 1980er Jahre. Auch damals kam es zu Spannungen zwischen den USA, Japan und Europa, insbesondere im Automobil- und Stahlsektor. Aber: Genauso wie damals werden protektionistische Maßnahmen das US-Handelsbilanzdefizit aus verschiedenen Gründen dauerhaft kaum verringern.
Weiter im Raum steht dennoch die nicht nur soziale, sondern – wie gesehen – auch für den Außenhandel relevante Frage angemessener Löhne. Sie betrifft nicht nur Deutschland, sondern auch andere wohlhabende europäische Länder wie die Schweiz. In beiden Volkswirtschaften reicht der Vollzeitlohn vieler Beschäftigter oft nicht zum Leben – eine Folge, des globalen Standortwettbewerbs.
Vor diesem Hintergrund steht das deutsche Wirtschaftsmodell an einem Scheideweg: Weitere Lohnzurückhaltung und Exportausrichtung bergen – gepaart mit wachsender internationaler Konfrontation und der von der EU vorangetriebenen Umstellung der Produktion auf Kriegswirtschaft – erhebliche Risiken für die wirtschaftliche Stabilität und den sozialen Zusammenhalt.
Alle Artikel dieser Ausgabe:
- Kann die neue Zollpolitik der USA Erfolg haben? So berechtigt die Zielsetzung eines ausgeglichenen Außenhandels auch ist – ob die US-Administration ihr Ziel mit ihrer Zollpolitik erreichen wird, ist zweifelhaft. Joachim Nanninga
- Die deutsche Seele – lost im Binnenmarkt? Über Binnenmarkt- und Exportorientierung – oder: das deutsche Streben nach der Exportmeisterschaft. Heinrich Röder
- Handelskonflikte trüben neuerlichen Optimismus Das Wirtschaftswachstum und die glänzenden Handelszahlen mit den USA zum Jahresbeginn könnten sich als Strohfeuer erweisen. Die deutsche Wirtschaft bleibt stark von außenpolitischen Entscheidungen abhängig, die Industrie weiterhin fragil. Hans-Peter Roll
- Ein Lohn zum Leben – oder nur zum Überleben? Muss der Lohn zum Leben reichen? Wenn ja, wer soll das bezahlen? Der Arbeitgeber? Der Staat? Oder vielleicht doch der Konsument? Und warum müssen wir uns diese Frage überhaupt stellen? Werner Vontobel
- Streamingdienste: Die Revolution frisst ihre Kinder Was mit Streamingdiensten wie Netflix, Amazon oder Spotify als Demokratisierung begann, ist zu einer systemischen Praxis der digitalen Enteignung geworden. Alina Steinbrenner
- Energiewende: Die Sache mit dem Wirkungsgrad Bei den technischen Details der Energiewende geraten rein ökonomische Analysen oft an ihre Grenzen. Über eine elementare technische Größe wird zwar hin und wieder debattiert, doch sie verdient eine genauere Betrachtung. Frank Atzler
- Per „Omnibus“ in die Kriegswirtschaft Die EU-Kommission will dem Pentagon nacheifern und einen militärisch-industriellen Komplex in Europa schaffen. Dafür werden immer neue Pläne geschmiedet – überzeugen können sie alle nicht. Eric Bonse
- EU-Agrarpolitik: Totengräberin der europäischen Ernährungssouveränität? Matthias Wolfschmidt beschäftigt sich seit 25 Jahren mit der europäischen Agrar- und Ernährungspolitik und zeigt, welche Weichen gestellt werden müssen, damit die EU sich auch in der Zukunft selbst ernähren kann. Die Redaktion
- Notizen aus der Provence: Peter Sloterdijk und die deutschen Weicheier Peter Sloterdijk vermisst eine Kriegsbereitschaft der Deutschen und fordert mehr Männlichkeit. Der Sozialstaat war für ihn schon immer ein Ruhekissen für Versager auf Kosten der Leistungsträger. Hartmut Reiners