Editorial

Arm gegen ärmer

| 03. Juli 2025
IMAGO / Berlinfoto

Liebe Leserinnen und Leser,

die Spaltung zwischen Arm und Reich wird seit Jahren immer größer. Während es 2021 noch gut 34.000 Einkommensmillionäre mit einem Durchschnittseinkommen von drei Millionen Euro in Deutschland gab, sind es laut unserem Autor Werner Vontobel mittlerweile um die 40.000. Im Einkommensvergleich kommen auf jeden von ihnen 135 Arme.

Paradoxerweise problematisieren aktuelle Diskussionen diese soziale Schieflage kaum. Führende Politiker sind eher dafür bekannt, den Spieß umzudrehen, so auch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. Dieser fordert Solidarität von Armutsbetroffenen mit den Beschäftigten, die durch ihre Steuerbeträge das Bürgergeldsystem überhaupt erst ermöglichen würden.

Dieser Gedanke ist nicht nur sachlich falsch bei einem währungsherausgebenden Staat, von dem die Bürger erst die Währung bekommen müssen, um dann damit Steuern bezahlen zu können. Er untergräbt auch die "originäre Dimension" von Solidarität, so der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann, die sich – so kann man ergänzen – von oben nach unten richtet und nicht umgekehrt.

Ist Linnemann und Co. Solidarität mit der "hart arbeitenden Bevölkerung" wichtig, sollte man meinen, dass ihr ein armutsfester Mindestlohn ein wichtiges Anliegen ist. Obwohl Union und SPD im Koalitionsvertrag noch festhielten, dass sich "die Mindestlohnkommission sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren" würde und so ein "Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026" erreichbar wäre, bleibt die Regierung hinter diesem Anspruch zurück. Ab 2026 wird der Mindestlohn lediglich 13,90 Euro betragen.

Damit schließt sie an vergangene Versäumnisse an. Wie MAKROSKOP-Redakteur Lukas Poths in Anlehnung an Berechnungen vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) festhält, lag der Mindestlohn schon immer unterhalb der 60-Prozent-Grenze, wie sie nicht nur der Koalitionsvertrag fordert, sondern auch die EU-Richtlinie für angemessene Mindestlöhne. Und außerdem fiel der Mindestlohn bis 2022 hinter die Tariflohnentwicklung zurück.

Die Regierung übt sich also schon früh im Brechen von Versprechen, abgesichert von einer Ideologie, die Arme gegen noch Ärmere ausspielt. Da sind die prekären Umfragewerte der SPD kein Wunder. Was macht eigentlich das sozialdemokratische Gewissen, dem ihre Abgeordneten verpflichtet sind?

Alle Artikel dieser Ausgabe:

  • Neuer Mindestlohn: Unter dem Mindestmaß Am Freitag gab die Mindestlohnkommission ihren Entschluss bekannt, den Mindestlohn in zwei Schritten auf 14,60 Euro anzuheben. Damit ignoriert sie die Empfehlung von EU und Bundesregierung. Überraschend ist das nur auf den ersten Blick. Lukas Poths
  • Ein Superreicher gleich 135 Arme Die steigende Zahl von Superreichen zeigt, dass die Menschen nicht mehr artgerecht gehalten werden. Die Globalisierung verhindert, dass Trittbrettfahrer bestraft werden können. Werner Vontobel
  • Was wir vom Roten Wien für die Wohnungspolitik lernen können Max Schneider hat in seinem Artikel aus der letzten Ausgabe betont, dass Wohnungspolitik vor allem an der Angebotsseite ansetzen müsse. Ein Wohnungsbauprogramm nach Vorbild "Rotes Wien" kann helfen. Eine Skizze. Wolfgang Edelmüller
  • Instrument ohne Architektur: Wie die Idee des Mietendeckels an der Realität zerbricht Trotz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts gegen den Berliner Mietendeckel setzen aktuelle Vorstöße der Linkspartei und der Grünen auf weitergehende Preisbegrenzungen. Das Scheitern ist programmiert. Max Schneider
  • Sozialstaat: Unter den Rädern des marktlibertären Populismus CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann will eine „große Bürgergeldreform“, die „an die Substanz“ geht – genauer: an die Grundfesten des Sozialstaats. Ulrich Thielemann
  • Weltwährung Dollar: „Unsere Währung, euer Problem“? Die Auslandsschulden der USA steigen rasant – trotz wirtschaftlicher Stärke. Warum der starke Dollar und boomende Aktien das Land ärmer machen könnten und was das für die Zukunft der Weltleitwährung bedeutet. Jörg Bibow
  • Sondervermögen: Vom Staats- zum Schattenhaushalt Sondervermögen liegen im Trend – und das hat einen einfachen Grund: Sie sind ein politischer Reflex auf das ökonomisch unhaltbare Dogma der Schuldenbremse. Doch was bedeuten sie für den Staatshaushalt? Sebastian Müller
  • Quick and dirty – und ziemlich daneben Mit einem eiligen Steuerdeal bei den G-7 zeigt die EU, wie man es nicht machen sollte: Die Europäer haben sich von US-Präsident Trump über den Tisch ziehen lassen, die globale Mindeststeuer für Unternehmen wird ausgehöhlt. Eric Bonse
  • Der Aufstieg von Blue Labour Lord Maurice Glasman ist Gründer und intellektueller Kopf von Blue Labour. Die sozialkonservative Fraktion innerhalb der britischen Labour-Partei erlebte zuletzt einen rasanten Aufstieg. Darüber sprach Glasman mit MAKROSKOP. Yotam Givoli