Maurice Glasman

Der Aufstieg von Blue Labour

| 01. Juli 2025

Lord Maurice Glasman ist Gründer und intellektueller Kopf von Blue Labour. Die sozialkonservative Fraktion innerhalb der britischen Labour-Partei erlebte zuletzt einen rasanten Aufstieg. Darüber sprach Glasman mit MAKROSKOP.

Alles begann mit der Finanzkrise und den letzten Tagen der britischen Labour-Regierung unter Gordon Brown im Herbst 2009: Aus „einer akademischen und philosophischen Ermüdung des progressiven Liberalismus“ heraus gründet sich im April desselben Jahres ein neuer Flügel der kriselnden Labour-Partei: Blue Labour.

Der Begriff des progressiven Liberalismus wird uns noch einmal begegnen. Gerade von ihm will sich Blue Labour abgrenzen und sich stattdessen auf den „gemeinschaftsorientierten Ethos“ der britischen Arbeiterbewegung“ stützen, bevor sie "von der fabianischen Vision eines wissenschaftlichen, zentral verwalteten Systems besiegt wurde“.

Die hier zitierten Stellen stammen von Lord Maurice Glasman, dem Gründer der Fraktion. Mit ihm sprechen wir in einer der unscheinbaren Raucherhütten des House of Lords, die zwischen einem schmiedeeisernen Zaun und einer Bauwand versteckt sind. Die benachbarten Hütten sind von gewöhnlichen Mitarbeitern belegt – eindeutig Glasmans bevorzugte Gesellschaft. Der Adelstitel des 64-jährigen Londoners überstrahlt nicht seine gesellige Art und seine Herkunft aus der Arbeiterklasse. Seine Mutter verließ die Schule mit 13 Jahren, sein Vater wanderte aus einem Stetl, einem kleinen jüdisches Städtchen in der heutigen Ukraine nach Großbritannien aus.

Eine kurze Vorgeschichte

Blue Labour steht für sichere Grenzen, militärisch gestützte Souveränität, für den Brexit, eine Dezentralisierung der Macht und kommunale Verantwortung, kompromisslose Strafverfolgung und eine kritische Haltung gegenüber der EU. Positionen, mit denen die Fraktion mitunter immer wieder die Gemüter innerhalb der Labour-Partei erhitzt.

Die Fraktion um Glasman aber sieht ihre Positionen im Einklang mit den traditionellen Labour-Werten und der christlichen Soziallehre. Was sie ablehnen, ist das, was Labour zuletzt in ihren Augen zu sehr ausgemacht hat: Identitätspolitik, Wokismus und Political Correctness. Der X-Account von Blue Labour spricht offen über „die dunkle Seite des Multikulturalismus”. Der politische Islam ist für Glasman ebenso „abscheulich” wie die israelische Siedlerbewegung.

Die britische Wirtschaft will Blue Labour reindustrialisieren, unterstützt durch Berufsschulen, die auf Kosten der Hälfte der Universitäten entstehen sollen. „Wir sind pro-beruflich und anti-professionell”, sagt Glasman. Damit einhergehend soll der rentenorientierte Kapitalismus eingedämmt („die City of London wird in unserem Staatswesen eine geringere Rolle spielen”), die Mitbestimmung eingeführt („wir beanspruchen das westdeutsche Wirtschaftssystem der Nachkriegszeit [in der britischen Besatzungszone] als Teil unseres Erbes”), die „soziale Partnerschaft” zwischen Kapital, Arbeit und Staat wiederbelebt werden. Das derzeitige Leistungsbilanzdefizit von fast 10 Prozent (ohne die Finanzdienstleistungen) soll auch verschwinden.

Neben Glasman gehören zu den Initiatoren der Fraktion der Politikwissenschaftler Marc Stears, der Kulturwissenschaftler Jonathan Rutherford und der ehemalige Labour-Abgeordnete Jonathan Cruddas, dessen damaliger Wahlkreis Dagenham und Rainham zu den ärmsten Londons zählt.

Während der progressiven Ära von Ed Miliband und der darauffolgenden etatistisch-progressiven Phase unter Jeremy Corbyn wurde Blue Labour von den dominierenden Kräften im Labour-Ökosystem – namentlich der Partei, der Gewerkschaftsführung, den Thinktanks und den Medien – mit Verachtung gestraft. „Wir wurden wegen unserer Pro-Brexit-Haltung völlig ausgegrenzt“, erinnert sich Glasman. Höflichere Kritiker taten die kommunitaristisch-industrielle Vision der Gruppe als naiv und nostalgisch ab, ihre Gegner hingegen brandmarkten sie sogar als rassistisch, rechtsextrem oder reaktionär. Auf der Liste der 50 einflussreichsten Personen der britischen Linken, die im Juni 2024 vom New Statesman veröffentlicht wurde, erschien kein einziger Vertreter von Blue Labour.

„Unsere wichtigsten wirtschaftlichen Vorbilder sind Helen Thompson und Andy Haldane“, erzählt Glasman. Thompson ist Politische Ökonomin, Haldane ehemaliger Chefökonom der Bank of England. „Andy und ich arbeiten seit 15 Jahren an einer Industriestrategie“, ergänzt er und betont ihren anti-fabianischen-Ansatz: „Es handelt sich um eine ortsbezogene, institutionelle Ökonomie, nicht um staatliche Regulierung.“ Im Juni 2024 schlossen sich ihnen Cruddas, Thompson, Rutherford und andere an, um Future of the Left zu gründen, ein neues Projekt innerhalb des konservativen Thinktanks Policy Exchange.

Trotz seines intellektuellen Ursprungs ist Blue Labour in lokalen Gemeinschaften verwurzelt – vor allem in den verarmten, postindustriellen Regionen Nordenglands, mit einem Blick auch auf die vernachlässigten Gegenden Westschottlands und den Tälern Südwales. Politische Dezentralisierung hat innerhalb der Labour-Partei seit längerem an Bedeutung gewonnen, vor allem, um den sozial-separatistischen Parteien in Schottland, Wales und Nordirland den Nährboden zu entziehen. Blue Labour geht jedoch noch weiter und fordert die Bildung von sogenannten „Plebejer-Tribunalen“:

„Wenn wir von Bürgerversammlungen sprechen, meinen wir lokale Rechenschaftspflicht. Der Schulleiter, der Polizeichef, der Leiter der Sozialdienste – sie alle sollten von den Bürgern in einer Bürgerversammlung befragt werden. Und auch die Verlängerung ihres Mandats sollte einem solchen demokratischen Prozess unterliegen. Es geht auch darum, dass die Menschen aufhören, Konsumenten zu sein, und anfangen, Bürger zu werden.”

Die drei Faktoren des Aufstiegs

In den letzten Monaten, just in der gegenwärtigen Labour-Legislatur unter Keir Starmer, haben neue Entwicklungen den Einfluss von Blue Labour gestärkt. So hat die Regierung einen Wirtschaftsbeauftragten in Downing Street ernannt sowie eine restriktivere Grenzpolitik und eine nationale Untersuchung zu den „Grooming Gangs“ angekündigt. Doch Glasman glaubt, dass Starmer keine bedeutungsvolle Änderung wird durchsetzen können, solange Finanzministerin Rachel Reeves, Generalstaatsanwalt Richard Hermer und Ed Miliband, jetzt Minister für Energiesicherheit, im Amt bleiben.

Immerhin, und das ist aus Sicht von Blue Labour ebenso bedeutsam: der Premierminister beginnt, ihre Sprache zu sprechen – was für Starmer, einen Menschenrechtsanwalt, der zum Staatsanwalt wurde, trotz seiner bescheidenen Herkunft nicht so intuitiv ist. Die Blue-Labour-Abgeordneten Jonathan Hinder, Connor Naismith und David Smith betonten diesen Punkt in einem gemeinsamen Artikel am 8. Juni 2025: „Die Wähler wollen einen radikalen Wandel unseres Wirtschaftssystems, den nur Labour herbeiführen kann. Aber wir müssen auch zeigen, dass wir ihre Werte teilen, anstatt auf sie herabzuschauen.“

Tatsächlich will auch Rutherford beobachten, dass Keir Starmer schrittweise die liberal-progressive Politik beendet, die die Labour-Partei seit drei Jahrzehnten prägt.

Drei Hauptfaktoren für Blue Labours Aufstieg

Der Aufstieg von Blue Labour in den letzten Monaten lässt sich auf drei Hauptfaktoren zurückführen. Erstens hat Starmers Chefstratege und Blue Labour-Sympathisant Morgan McSweeney die hochrangige Beamtin Sue Gray – die von Starmer für die Leitung seines Büros eingestellt wurde – im Kampf um den Einfluss in der Downing Street Anfang Oktober 2024 ausmanövriert. Sein Schwerpunkt liegt auf der Kriminalitätsbekämpfung, der Eindämmung der illegalen Einwanderung und der Verlagerung der Macht vom fiskalisch restriktiven, City-freundlichen Finanzministerium hin zur eher realwirtschaftlich orientierten Downing Street 10.

Das deckt sich mit der sozialkonservativen Weltanschauung von Blue Labour. „Ich würde sagen, dass unsere Beziehung enger wird“, erzählt Glasman. „Ich habe das Gefühl, dass Morgans Rolle darin besteht, die Idiotie und Dummheit der Progressiven einzudämmen. (...) Er versteht, dass es eine berechtigte Unzufriedenheit der Arbeiterklasse mit den gegenwärtigen Verhältnissen gibt. Und wer weiß, wohin ihn das führen wird, wenn er sich mit dieser Realität auseinandersetzt?“

Zweitens hat der rasante Aufstieg von Reform UK – der Rechtspartei von Nigel Farage – sowohl in konservativen als auch in traditionellen Labour-Wahlkreisen – eine zentrale These von Blue Labour bestärkt: dass die Kombination aus progressiver Gesellschafts- und orthodoxer Sparpolitik jene Briten mit niedrigem Einkommen in die Arme der extremen Rechten treibt.

Im Dezember 2024 löste die Weigerung der Labour-Ministerin für Soziales Jess Phillips, eine nationale Untersuchung zu den Gruppenvergewaltigungen der "Grooming Gangs" einzuleiten, Massenproteste aus. Diese wurden durch die wachsende Unzufriedenheit mit den hohen Lebenshaltungskosten, dem geringen Wirtschaftswachstum und der illegalen Einwanderung weiter angeheizt, für die Starmer mit seinem überwiegend progressiven Kabinett keine Lösung zu finden schien.

Die Konsequenz war ein fantastischer Anstieg der Umfragewerte von Reform UK. Noch bei den Parlamentswahlen am 4. Juli 2024 gewann Farages Partei mit 14,3 Prozent der Stimmen nur fünf Sitze. Eine aktuelle YouGov-Umfrage sieht Reform UK nun bei 26 Prozent, Labour bei 23 Prozent und die Konservativen bei 18 Prozent. Wenn heute Wahlen wären, käme Reform auf 271 Sitze, Labour auf 176 und die Konservativen auf 46 Sitze im Parlament. Glasman macht keinen Hehl aus seiner Genugtuung:

„Die Menschen warten auf Taten. Morgan ist sich dessen am meisten bewusst und versteht die Natur der aktuellen Arbeiteraufstände besser als andere in der Partei. Denn wir haben in diesem Land eine Rebellion der Arbeiterklasse. Das ist fantastisch. Sie sagen ‚Fickt euch!‘ (…). Reform UK liegt 10 Prozent vorn. Die Leute in der Downing Street Nr. 10 glauben, sie müssten sich dem lediglich widersetzen und den Fehler der Demokratischen Partei in den Vereinigten Staaten wiederholen.“

Angesichts der Massenunruhen vom August 2024, nachdem drei junge Mädchen in einem Club in Southport von einem in Wales geborenen Sohn ruandischer Einwanderer niedergestochen worden waren, frage ich ihn, ob er nicht befürchtet, dass diese Rebellion die Gewalttätigen – Tommy Robinson und seine Schlägerbände – anführen werden. „Nein, das glaube ich nicht. Diese Angst wird eher von den Medien geschürt. Farage hingegen ist ein ernstes Problem. Deshalb bestehe ich darauf, mit ihm bei GB News zu debattieren“, erwidert Glasman.

Linksliberale Medien wie Byline Times und The Guardian warnen zusammen mit ihren Verbündeten innerhalb der Labour-Partei, dass eine Übernahme der Blue-Labour-Politik progressive Wähler zu den Liberaldemokraten oder den Grünen treiben oder sie gleich ganz vom Wählen abhalten werde. Glasman jedoch wirkt alles andere als besorgt:

„Das ist gut, denn so haben wir Raum für eine echte populistisch-sozialistische Politik. Wir sagen: ‚Macht nur, schließt euch ihnen an.‘ Wenn wir das Vertrauen der vernachlässigen Schichten gewinnen können, haben wir es geschafft. Selbst wenn wir die überwiegend urbanen Wähler verlieren, gewinnen wir – dann müssen wir keinen Unsinn mehr reden, um ihnen zu gefallen.“

Und dann ist da noch der dritte Faktor für den wachsenden Einfluss von Blue Labour – die Wahl von Donald Trump. Anders als in seiner ersten Amtszeit ist Trump diesmal ein Bündnis mit Medien und Personen eingegangen, die sein Wählerklientel repräsentiert: die multiethnische MAGA-Koalition aus kleinen Unternehmern und der Arbeiterklasse.

Glasman war das einzige Mitglied der Labour-Partei, das an Trumps Amtseinführung teilnahm, nachdem er eine persönliche Einladung von dem designierten Vizepräsidenten J.D. Vance erhalten hatte. Nach der Zeremonie trat der britische Peer in Steve Bannons War Room auf, wo er über die Tradition der Liberalismuskritik der Labour-Partei referierte. Das Sorgte bei Labour für einen großen Aufschrei. Die parteieigene Nachrichtenwebsite Labour List fragte empört: „Warum behandeln wir ihn weiterhin als einen der Unseren?“

Tatsache ist, dass Blue Labour seit den US-Wahlen von einem Zeitgeist des Anti-Progressivismus und der Souveränität von Grenzen profitiert, der von Washington über den Atlantik schwappt.

Der rote Faden, der diese drei Faktoren – Morgan McSweeney, der Aufstieg von Reform UK und schließlich Donald Trump – verbindet, ist der „Daily Mail Socialism“, ein Begriff, den der New Statesman-Journalist Nicholas Harris prägte. Er spielt auf Morgan McSweeneys Bemühungen an, die „imaginäre Gemeinschaft“ der Farage-freundlichen Daily Mail Leserschaft abzubilden. Die Feindschaft zu Rupert Murdochs Medienimperium hat die führenden Köpfe von MAGA dazu veranlasst, aktiv für die Daily Mail zu werben, um die britischen Leser dazu zu bewegen, sich von Murdochs konkurrierender Boulevardzeitung The Sun abzuwenden.

Der Klassenfeind: die progressive Mittelschicht

Ende 2024 gründeten die Labour-Abgeordneten Dan Carden, Jonathan Hinder, Jonathan Brash und David Smith – alle aus Wahlkreisen in Nordengland – das Blue Labour Caucus im Unterhaus. Ein halbes Jahr später „haben wir Treffen mit 40, manchmal sogar 50 Abgeordneten“, sagt Glasman stolz. Der New Statesman berichtete am 21. Juni, dass jetzt ein Netzwerk aus parlamentarischen Mitarbeitern aufgebaut wurde, das etwa 15 Mitglieder umfasst. Glasman erläutert:

„Dan und Jonathan leiten es. Sie sagen den anderen, sie sollen sich nicht um das kümmern, was Maurice sagt, sondern einen viel moderateren Ansatz verfolgen – und das ist der richtige Weg. Unsere Botschaft ist klar: Der Klassenfeind ist die progressive Mittelschicht. Und unsere Partei besteht zu 67 Prozent aus Angehörigen dieser Schicht.“ Zufrieden fasst er zusammen: „Die progressiven Liberalen sind derzeit sehr besorgt wegen uns“.

Mit „progressivem Liberalismus“ meint Glasman „diese rein juristische Denkweise, die Politik durch Recht ersetzt, in der einige ‚oben‘ und andere ‚unten‘ sind, Frauen und Männer gegeneinander ausgespielt werden und Grenzen keine Rolle spielen“. Er glaubt, dass diese Weltanschauung diejenigen, die unter „schockierenden Lebensbedingungen“ leiden, dazu verdammt, im Namen des Nanny-Staates auf Almosen selbstgerechter Beamter angewiesen zu sein – behandelt als ewige, entwürdigte Opfer.

War es die Rhetorik von Blue Labour, als die stellvertretende Premierministerin Angela Rayner am 25. Mai 2025 sagte, dass die Arbeiterklasse „keine Almosen will“, sondern „für ihre Familien und sich selbst sorgen können will“? „Ja! Löhne, Löhne, Löhne!“, skandiert Glasman. Seiner Ansicht nach erfordere die Politik der Finanzialisierung, die zur Deindustrialisierung Großbritanniens geführt habe, immer mehr Sozialleistungen, um einen systemischen Zusammenbruch zu verhindern.

Mit der neuen Sozialreform des Starmer-Kabinetts, über deren mildere Variante am 1. Juli abgestimmt wurde, sind die Blue Labour Abgeordneten dennoch unzufrieden. Auf X schrieben sie:

„Einschnitte nach der Salami-Taktik, die die Ärmsten getroffen hätten, sind kein Ersatz für tiefgreifende Reformen (...). Aber die Sozialausgaben steigen weiter unkontrolliert, und die Leistungen für Erwerbsunfähigkeit haben sich zunehmend von den tatsächlichen Gesundheitsproblemen entkoppelt. Das hilft niemandem: Würdevolle Arbeit ist die Grundlage einer produktiven Wirtschaft und eines sinnvollen Lebens.“

Der in letzter Minute durch Starmers Eingreifen zustande gekommene Kompromiss, der die Einschnitte durch die Sozialreform entschärft, hat die Architekten um Finanzministerin Reeves und ihr neoklassisch geprägtes Ministerium beschädigt. Auch darauf dürfte Blue Labour gesetzt haben.