Einkommensverteilung

Ein Superreicher gleich 135 Arme

| 02. Juli 2025
@midjourney

Die steigende Zahl von Superreichen zeigt, dass die Menschen nicht mehr artgerecht gehalten werden. Die Globalisierung verhindert, dass Trittbrettfahrer bestraft werden können.

Noch vor wenigen Jahrzehnten waren Milliardäre Ausnahmeerscheinungen. Heute gibt es weltweit mehr als 3000 und fast täglich kommen neue dazu. Auch die Zahl der Leute mit einem besteuerbaren Einkommen von einer Million oder mehr nimmt stark zu. In der Schweiz gibt es davon weit über 4000. In Deutschland waren es schon 2021 gut 34.000. Inzwischen dürfte es gut 40.000 sein. Ihr durchschnittliches Einkommen liegt bei 3 Millionen. Das mittlere Bruttojahreseinkommen in Deutschland beträgt 52.000 Euro (2024). Setzen wir die Armutsgrenze bei 30.000 Euro an, bedeutet dies, – rein rechnerisch – dass jeder der 40.000 Einkommensmillionäre je 135 Landsleute unter die Armutsgrenze drückt.

Dass die Einkommensverteilung zunehmend einseitig wird, ist unbestritten. Die Linke fordert deshalb höhere Mindestlöhne und höhere Steuern für die Reichen, während die Rechte mahnt, dass dadurch der „Wachstumsmotor“ abgewürgt werde. Darunter versteht sie den Umstand, dass das BIP pro Kopf immer noch steigt – zumindest mittelfristig. Zudem würde man mit höheren Steuern und Löhnen die Reichen und die Investoren vertreiben, was nicht im Gesamtinteresse liege. Es gelte, sich dem Standortwettbewerb zu stellen, sonst drohe die De-Industrialisierung.

Doch wenn man erst einmal über den Tellerrand der aktuellen Diskussion hinaussieht, stellen sich grundsätzlichere Fragen: Warum haben wir überhaupt ein Wirtschaftssystem, das die gemeinsame Beute, das Sozial-Produkt, derart einseitig verteilt?

Die Menschen verdanken ihren evolutionären Erfolg in erster Linie ihrer starken Solidarität. Sie gelten als die sozialste Spezies überhaupt. Und die Konkurrenz ist groß. Nehmen wir Ratten, die nicht als besonders sozial gelten. Von ihnen lernen die Menschenkinder beim Besuch im Tierpark Langenberg bei Zürich: „Ratten teilen ihre Nahrung untereinander und helfen einander bei der Körperpflege. Bekommt eine Ratte von ihrem Rudelmitglied Futter, teilt sie mit dem helfenden Tier als Gegenleistung ihr eigenes Futter. Dabei kommt es sogar zum Tauschhandel zwischen Pflege und Nahrung. Sie kuscheln sich in Gruppen zusammen, um einander zu wärmen.“ So viel zu den Ratten.

Wir Menschen verdanken unser Überleben demselben Rezept – zumindest bis zur Erfindung des Geldes. Über 99 Prozent aller bisherigen Menschengenrationen haben ohne Geld gelebt und gewirtschaftet. Ihr Sozialprodukt war das, womit sie ihr Leben fristeten und genossen – die Jagdbeute, die gesammelten Beeren, die Muttermilch und der gemeinsame Gesang am Lagerfeuer – der damals noch nicht als Weitschöpfung der Unterhaltungsbrache verbucht wurde.

Dieses Sozialprodukt wurde – wie bei den Ratten – nach Bedarf verteilt, so dass bei der nächsten Jagd alle wieder fit waren und so leistungsgerecht, dass es keinen Anlass zu Neid und Streitereien gab. Die Arbeitsteilung war auf die Aspekte jung und alt sowie Mann und Frau beschränkt.

Mit der Erfindung des Geldes vor rund 10.000 Jahren wurde dieses alte Wirtschaftssystem von einem neuen be- und weitgehend verdrängt. Man arbeitete nun nicht mehr (nur) für den Bedarf der eigenen kleinen Gemeinschaft, sondern produzierte das, was man gut konnte und was man Fremden zu einem hohen Preis verkaufen konnte. Das hatte den großen Vorteil, dass man sich spezialisieren und insgesamt viel mehr produzieren konnte. Der Nachteil: Das neue System war sehr viel komplexer und erforderte einen hohen Koordinierungsaufwand.

In der Geldwirtschaft wird das gemeinsame Produkt (BIP genannt) zweimal verteilt: Zunächst finanziell mit Geldgutscheinen (Löhne, Dividenden etc.) mit denen man Anspruch auf Teile des BIP erwerben kann. Zweitens durch den effektiven Konsum. Im Idealfall stimmen die beiden Verteilungen genauso überein wie im alten System: Man verdient, was man konsumiert und alle können davon leben. Doch leider neigt die Marktwirtschaft dazu, das BIP finanziell so einseitig zu verteilen, dass es nicht mehr für alle zum Leben reicht.

Konkret sieht das im Falle der Schweiz so aus: Gemäß der gesamtschweizerischen Steuerstatistik haben die rund vier Millionen Haushalte beziehungsweise Steuerzahler gut 350 Milliarden oder durchschnittlich 88.000 Franken steuerbares Einkommen deklariert. Das reichste Zehntel kassiert im Schnitt rund 400.000, das reichste Prozent gar über eine Million Franken. Für 400 Schweizer fallen gar 6,4 Millionen oder mehr an (in diesen Zahlen sind die Topsaläre und die Kapitalerträge nicht oder nur teilweise enthalten – die realen Einkommensunterschiede dürften also noch viel größer sein).

Und weil für jeden Haushalt, der mehr als der Durchschnitt verdient, ein anderer entsprechend weniger kassiert, bleibt für die ärmere Hälfte deutlich weniger übrig. Die Hälfte der Steuerzahler verdient weniger als 60.000 Franken pro Jahr beziehungsweise 5000 Franken pro Monat. Das ärmste Fünftel kassiert von 3000 Franken an abwärts. 10 Prozent liegen unter 2200 Franken.

Wäre der physische Konsum genauso einseitig verteilt, wie die finanziellen Einkommen, würden jedes Jahr 10 bis 20 Prozent der Schweizer verhungern. Doch gemäß der Statistik der Haushaltsausgaben konsumiert das ärmste Fünftel der Paarhaushalte unter 65 nur etwa einen Fünftel weniger als der Durchschnitt und immerhin etwa halb so viel wie das reichste Fünftel. Allerdings wird fast die Hälfte des Konsums des ärmsten Fünftels mit staatlichen Zuschüssen und privaten Schulden (oder Zuwendungen) finanziert. Und weil dieses ärmste Fünftel fast nichts in die Altersvorsorge einzahlen kann, ist es nach der Pensionierung erst recht auf staatliche Zuwendungen angewiesen.

Das Leben an der finanziellen Kante ist purer Stress, zumal meist noch schwierige Arbeitsverhältnisse und lange Arbeitswege dazu kommen. Unter diesen Umständen gesund zu leben oder zu bleiben, gelingt nur den wenigsten. Entsprechend steigen die Gesundheitskosten und häufen sich die Verdienstausfälle. Kinder zu haben, wird zumindest für die ärmere Hälfte der Bevölkerung zum Armutsrisiko. Da verwundert es nicht, dass die Geburtenrate laut Destatis in Deutschland bei 1,39 und in der Schweiz gar nur bei 1,33 Kindern pro Frau liegt.

Auf der anderen Seite kann das reichste Fünftel der Haushalte laut Haushaltsstatistik rund 40 Prozent ihres Einkommens auf die hohe Kante legen und dennoch rund 50 Prozent mehr konsumieren als der Durchschnitt. Für die richtig Reichen oberen 5 Prozent gilt erst recht: Luxuskonsum und dennoch hohe Ersparnisse und immer mehr Guthaben. Dessen Gegenstück sind einerseits steigende Staatsschulden und explodierende Immobilienpreise, mit denen letztlich die Mieter der Mittelklasse und der Unterschicht zur Kasse gebeten werden.

Finanzguthaben: inzwischen die lukrativste Ressource der Welt

Die Menschheit leidet somit unter zwei Problemen: Erstens läuft die sehr einseitige Verteilung des Konsums auf eine enorme Verschwendung der knappen Ressourcen hinaus. Not und Elend auf der einen, Luxus und Verschwendung auf der anderen, sowie Stress und Krankheit auf beiden Seiten. Zweitens schafft das Auseinanderklaffen der realen finanziellen Verteilung einen immer größeren Pool von finanziellen Guthaben. Weltweit sind es laut Allianz rund 240.000 Milliarden Euro. In der Schweiz beziffert die Nationalbank das Vermögen der Privathaushalte mit rund 6000 Milliarden Franken – rund das Zehnfache des Nettosozialprodukts

Diese Finanzguthaben sind inzwischen die weitaus lukrativste Ressource der Welt – weit vor Öl, Gold, Wasser oder Weizen. Wenn sich das Finanzvermögen der Schweizer pro Tag auch nur um 0,4 Prozent verändert, werden rund zehnmal so viele Guthaben verschoben, wie durch Arbeitseinkommen neu geschaffen werden.

Und anders als alle anderen Ressourcen können Finanzguthaben von zuhause aus gleichsam im Tagebau bewirtschaftet werden. Ein PC genügt. In der Schweiz verschlingt der Finanzsektor inzwischen 19 Prozent des Nettoinlandprodukts, des konsumierbaren Teils des BIP. Dazu kommt noch der Arbeitsaufwand und Stromverbrauch von zehntausenden von privaten Tradern, Entwicklern von Kryptowährungen, „Finfluencern“. Wer heute schnell viel Geld verdienen will, geht in die Finanzindustrie und prahlt mit seiner „Performance“. Wer noch produktiv arbeitet, kommt sich dumm vor.

Aus individueller Sicht sind die Finanzguthaben der heilige Gral. Wer aus ihm trinkt, wird reich belohnt. Volkswirtschaftlich gesehen, handelt es sich jedoch um eine riesige Fallgrube, in der wir immer größere Teile unserer produktiven Kapazitäten verscharren.

Und dann ist da noch die Sache mit den sozialen Kosten der großen Einkommensunterschiede und der leicht verdienten Vermögen. Inzwischen beweisen tausende von Studien, dass Ungleichheit mit fast allen Übeln verknüpft ist – Kriminalität, Selbstmorden, außerehelichen Geburten, Depressionen, hohen Ausgaben für Polizei und Gefängnisse. Auch das Glück der Oberschicht leidet in Ländern mit hohen Einkommensunterschieden. Und wie soll die Demokratie noch funktionieren, wenn Multimilliardäre die Medien beherrschen und Regierungen kaufen können?

In ihrer aktuellen Verfassung ist die Marktwirtschaft sehr gut darin, möglichst viel Zeug zu tiefen Kosten zu produzieren und teuer zu verkaufen. Das eigentliche Ziel, allen ein gedeihliches Leben zu ermöglichen, verfehlt sie aber zunehmend. Der wohl wichtigste Grund dafür liegt im Verlust einer Fähigkeit, die für den evolutionären Erfolg der Menschheit entscheidend war: Trittbrettfahrer zu bestrafen – etwa mit sozialer Ächtung – und damit die Solidarität zu wahren.

Die Globalisierung hat uns diesen evolutionären Trumpf aus der Hand geschlagen. Wer etwa in Norwegen reich geworden ist, kann sich den hohen Steuern seines Heimatlands durch den Umzug in die Schweiz entziehen und wird hier gar geschätzt. Die neue „Heimat“ ist ihm dankbar, weil er hier nicht nur mehr Steuern zahlt, als er den Staat kostet, sondern weil er mit seinem Luxuskonsum auch noch Arbeitsplätze schafft.

Natürlich: Der Standortwettbewerb ist nun mal eine Tatsache, der sich nicht ignorieren lässt. Doch Tatsache ist auch, dass ebenso die Siegerländer in diesem Wettkampf von der Evolution bestraft werden: mit hohen Mieten, sozialen Spannungen, mit Dichtestress, mit der Schwächung von Familien und Nachbarschaften. Die tiefen Geburtenraten und die Belastung der Umwelt legen Zeugnis ab.

Deshalb geht es jetzt darum, den intellektuellen Horizont zu erweitern und darüber zu diskutieren, wie wir die Geld- und Marktwirtschaft wieder evolutionstauglich organisieren könnten.