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Die Kunst der Unterwerfung

| 22. August 2023

Europa sei zu den Verhältnissen im Kalten Krieg zurückgekehrt und zum Vasallen der USA herabgesunken, so der Befund eines policy briefs des European Council of Foreign Relations. Mehr Eigenständigkeit sei nur durch Aufrüstung möglich.

Herausgegeben vom „European Council of Foreign Relations (ECFR) erschien im April 2023 in der Kategorie „Strategische Kurz-Empfehlungen“ (policy brief) das Papier „The art of vassalisation: How Russia’s war on Ukraine has transformed transatlantic relations“.[1] Ob der Titel besser mit „Die Kunst der Unterwerfung“ oder mit „Die Kunst des Sich-Unterwerfens“ zu übersetzen ist, mögen am Ende Sie entscheiden.

Das Papier geht von der folgenden Beobachtung aus: Während der Präsidentschaft Donald Trumps seien in Europa immer mehr Stimmen laut geworden, die eine stärkere Autonomie Europas und größere Unabhängigkeit von einer USA forderten, die sich zunehmend von Europa abwandte und ihren politischen Schwerpunkt auf die Systemauseinandersetzung mit China verlegte. Diese Sicht habe sich mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine schlagartig verändert. Europa sei zu den Verhältnissen im Kalten Krieg zurückgekehrt, und alle strategischen Entscheidungen würden wieder von den USA getroffen, oftmals ohne die europäische Ansichten überhaupt in Betracht zu ziehen. Besonders erstaunlich sei, dass heute selbst die traditionell US-kritischeren Staaten nur noch wenig Kritik an ihrer „Vassalisierung“ übten.

Wie kam es nach Ansicht der Autoren zu dieser Situation? Vordergründig betrachtet sei den USA nach dem russischen Angriff auf die Ukraine angesichts eines politisch uneinigen Europas nichts anderes übriggeblieben als die Führung zu übernehmen: Die baltischen Staaten und Polen hätten sich in ihren Ängsten bestätigt gefühlt, seien aber zu schwach gewesen, um Russland Paroli zu bieten. Ihr Verhältnis zu den stärkeren Staaten, etwa Deutschland und Frankreich, die bis zuletzt auf einen Kompromiss gesetzt hätten, sei jedoch zu zerrüttet gewesen, um sich in der notwendigen Eile auf ein gemeinsames Vorgehen einigen zu können.

Die wirklichen Ursachen seien jedoch in einer Entwicklung zu sehen, die sich schon länger abgezeichnet habe: Erstens sei Europa seit der Finanzkrise 2008 in vieler Hinsicht hinter die USA zurückgefallen. Europa habe, gemessen am BIP, eine schwächere wirtschaftliche Entwicklung zu verzeichnen. Es sei nicht gelungen, einen eigenen Hochtechnologiesektor zu entwickeln und insbesondere Deutschland verfehle sein Ziel, die Rüstungsausgaben auf 2 Prozent des BIP zu erhöhen. Selbst in der heutigen Situation könnte das Land zwar in Windeseile LNG-Häfen bauen, es gelänge aber nicht, die erforderlichen Ressourcen zur Verwandlung der Bundeswehr in einen „Stabilitätsanker der europäische Sicherheit“ bereit zu stellen.

Zweitens seien die Europäer auf die Führung der USA angewiesen, weil sie nicht in der Lage seien, sich selbst zu führen. Angesichts des Misstrauens untereinander sei es weder gelungen ein Verfahren zur Definition einer eigenen Politik zu entwickeln, noch entsprechende Entscheidungen zu treffen. Es gäbe deswegen keine genauen Vorstellungen, geschweige denn einen Konsens darüber, wie eine größere europäische strategische Souveränität überhaupt aussehen sollte, wie sie sich Mitgliedsstaaten dafür organisieren sollten, wer ihre Entscheidungsträger im Krisenfall sein würden und wie die Kosten verteilt werden sollten.

Drittens habe sich im Vergleich zum Kalten Krieg die geopolitische Lage vollständig geändert. Die USA benötigten Europa heute nicht mehr als prosperierenden Gegensatz zum Ostblock im Systemwettbewerb. Der fände heute mit China statt. Dabei handele es sich im Kern um eine  geoökonomische Auseinandersetzung, in der es keine rein wirtschaftlichen Fragen mehr geben werde. Der technologische und wirtschaftliche Charakter des Konflikts bedeute, dass die USA fast jede internationale Wirtschaftsfrage als sicherheitspolitische Angelegenheit definieren könnten und würden.

Anders als im Kalten Krieg bestünde die europäische Rolle fortan nicht mehr darin, wohlhabend zu werden und zur militärischen Verteidigung der zentralen Front beizutragen. Vielmehr sei es nun aus Sicht der USA die europäische Hauptaufgabe, die strategische Industriepolitik der USA zu unterstützen und dazu beizutragen, die technologische Vorherrschaft der USA gegenüber China zu sichern. Europa solle sich der US-Industriepolitik unterordnen und die europäischen Wirtschaftsbeziehungen zu China nach den amerikanischen Konzepten der strategischen Technologien gestalten, also zum Beispiel nicht auf chinesische Hochtechnologie, sondern auf amerikanische setzen.

Das aber bringe für Europa klar erkennbare wirtschaftliche Nachteile mit sich: Das Verbot von Huawei-Verkäufen in Europa möge zwar sicherheitspolitisch Sinn machen, es schaffe jedoch auch eine Gelegenheit für US-Firmen, eine größere technologische Dominanz aufzubauen.
Insgesamt beinhalteten die neuen industriepolitischer Maßnahmen in den USA, insbesondere der Inflation Reduction Act und der CHIPS and Science Act, für Europa große Gefahren: ein gebremstes Wirtschaftswachstum in Europa, eine (weitere) Deindustrialisierung und die Verwehrung einer beherrschenden Stellung Europas in den Schlüsselindustrien der Zukunft.

Deswegen hätte man erwarten können, dass die America-First-Politik in der gesamten EU auf ernsthaften Widerstand stoßen würde. Viele Regierungsbeamte seien jedoch der Ansicht, dass die Europäer zwar „jammern und sich beschweren mögen“, aber aufgrund der zunehmenden sicherheitspolitischen Abhängigkeit von den USA  trotzdem eine der amerikanischen globalen Sicherheitsstrategie untergeordnete Wirtschaftspolitik akzeptieren und – obwohl sie es könnten – keine wirksame eigene Industriepolitik auf die Beine stellen würden. Dies sei der Kern der Vasallisierung.

Da die Autoren die Hauptursache des europäischen Vasallentums in der sicherheitspolitischen Abhängigkeit Europas von den USA verorten, scheint es nur konsequent, dass ihre Lösungsvorschläge allesamt militärischer Natur sind. Mehr Eigenständigkeit sei nur durch die Entwicklung eines deutlich größeren militärischen Potentials möglich. Eventuelle durch mehr Militärausgaben verursachte soziale Verwerfungen könnten durch neue Arbeitsplätze in der verstärkt auszubauenden eigenständigen europäischen Rüstungsindustrie kompensiert werden. Heutige Militärstandards gewährleisteten damit gleichzeitig auch den technologischen Fortschritt Europas.

Im Einzelnen schlagen die Autoren folgendes vor:

  • Aufbau eigenständiger europäischer Unterstützungsstreitkräfte für die Ukraine in dem zu erwartenden langen Krieg,
  • Verstärkte Entsendung westeuropäischer Streitkräfte in den Osten, die in einigen Fällen die US-Streitkräfte ersetzen könnten,
  • Ausbau der europäischen militärischen Kapazitäten und der eigenständigen militärischen Handlungsfähigkeit innerhalb und außerhalb der NATO,
  • Erwägung der Bildung einer geoökonomischen NATO durch die USA, die EU und das Vereinigte Königreich.
  • Schaffung einer besonderen Verteidigungspartnerschaft zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich und
  • Erwägung des Aufbaus eines gemeinsamen europäischen nuklearen Abschreckungspotentials.

Diese Vision eines militarisierten Europa verträgt sich kaum mit Olaf Scholz’ „Absage an die – schlechtgelaunten – Schwarzmaler von Rechts“. Die Zukunft sei gut, demokratisch und frei, in einem Land wo unterschiedliche Menschen gut und gerne zusammenlebten, rief er auf einer Kundgebung in München aus.

Geht es nach dem ECFR-Strategiepapier sind stattdessen ein neuer Eiserner Vorhang im Osten zu erwarten sowie die vermutlich notwendige Wiedereinführung der Wehrpflicht, die Erhöhung des Militärhaushaltes auf Kosten von Bildungsausgaben und Entlastung von Unternehmen und unteren Einkommensgruppen bei den Energiekosten (nicht von ungefähr erreicht Deutschland das 2-Prozent-Nato-Ziel nicht), endlose Bauarbeiten bei der Errichtung neuer Kasernen (die alten sind verkauft und in schicke Wohnungen verwandelt worden) und Umwelt-Verschmutzung durch Munitionsfabriken.

Wäre ein solch massives Aufrüstungsprojekt überhaupt realistisch umsetzbar? Neben vielen anderen Problemen wäre die Frage der Kapazitäten zu lösen: der Ankauf von Land, der Neubau von Fabriken, der Fachkräftemangel, die Energie- und Rohstoffversorgung und der Erwerb der zur Produktion notwendigen Teilkomponenten über ausgedehnte Lieferketten. Auch nicht-westliche Zulieferer müssten zur Zusammenarbeit veranlasst werden. Dennoch scheinen die Autoren des Papiers fest davon überzeugt zu sein, dass die riesigen Anstrengungen notwendig und machbar sind. Und dass es gleichzeitig möglich ist, sich weiter von China zu entkoppeln, wie die Mitautorin der Studie Jana Puglierin im Streitgespräch mit Klaus von Dohnanyi fordert.

Ein effizientes Aufrüstungsprogramm benötigt einen kohärenten Plan: Wie soll jedes Land seine militärischen Fähigkeiten in Zusammenarbeit mit seinen Verbündeten ausbauen? Wie wird dieser Ausbau in einer entsprechende Struktur der Streitkräfte umgesetzt? Das setzt die Ausarbeitung einer gemeinsamen Sicherheitspolitik der europäischen Staaten voraus. Spätestens hier werden sich die Bündnispartner mit der realen Bedrohungssituation auseinandersetzen müssen: Handelt es sich bei Russland tatsächlich um ein imperialistisches Land, das Europa bedroht, wie Olaf Scholz unterstellt? Gilt Ähnliches für „ein mehr und mehr nach außen gewandtes China“, wie Jana Puglierin argumentiert? Dass Land habe seit der Machtübernahme von Xi Jinping für „uns Europäer“ „keine gute“ Entwicklungsrichtung eingeschlagen, wolle global Einfluss nehmen und rüste massiv auf.

Muss das jahrzehntelang verfolgte deutsche Konzept „friedlicher Wandel durch Handel“, dass sich auf billige russische Gasimporte und Exporte nach China stützte, endgültig ad acta gelegt werden, wie Puglierin postuliert?

Aus ihrer Sicht und der ihres Mit-Autors Jeremy Shapiro findet europäische Souveränität ihre Grenzen im transatlantischen Bündnis: Die Europäer sollen keine Vasallen der USA bleiben, was für beide Seiten ungünstig sei, sondern ein stärkerer und unabhängigerer Teil dieser Partnerschaft werden. Wie insbesondere der Vorschlag zur Bildung einer geoökonomischen Nato verdeutlicht, bedeutet das aber die Übernahme der US-amerikanischen Sicht auf die Welt; das wiederum schränkt  die europäischen Spielräume äußerst stark ein. Gemäß der Sicherheitsstrategie der Biden Administration ist Russland ein „autoritärer Akteur“, der „unsere Interessen, unsere Werte und unsere demokratische Lebensweise infrage“ und China ein „strategischer Wettbewerber“, der die Resilienz des Westens auf die Probe stellt und versucht, „die Offenheit, Vernetzung und Digitalisierung unserer Nationen auszunutzen“ und „an vorderster Front der Anstrengungen [steht], multilaterale Normen und Institutionen vorsätzlich zu untergraben und autoritäre Regierungsmodelle zu fördern.“ 

Muss diese Weltsicht, nach der der Fortschritt des einen, nur auf Kosten des Niedergangs des anderen möglich ist, auch die der europäischen Staaten sein?

Im Streitgespräch mit Jana Puglierin argumentiert Klaus von Dohnanyi, dass der Ukraine-Krieg nicht der inhärenten Aggressivität eines Autokraten geschuldet ist, sondern unter anderem auch die Folge westlicher Politik gewesen sei. Es gäbe immer eine Alternative zu rein militärischen Konfliktlösungsstrategien. Diplomatie, Annäherung, Interessenausgleich und friedliches Zusammenleben mit den Nachbarländern zum gegenseitigen Nutzen sind für Dohnanyi auch heute mögliche und wichtige politische Optionen.

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[1]Autoren waren die Leiterin des  Berliner Büros Jana Puglierin und der Forschungsdirektor dieses Think Tanks Jeremy Shapiro, der vor seiner leitenden Stellung im ECFR unter anderem für das US Außenministerium tätig war.