Chinas Aufstieg und die Lage der arbeitenden Bevölkerung
Längst gehört China zu den wirtschaftlich und technologisch führenden Staaten der Erde. Doch wie steht es um die Lage der arbeitenden Bevölkerung? Hat sie von dem Aufstieg profitiert?
Rechnet man nach Kaufkraftparitäten, hat die Volksrepublik China das größte Bruttoinlandsprodukt der Welt. Die Wachstumsraten des Landes liegen durchschnittlich immer noch bei 5 Prozent pro Jahr. Mit etwa zwei Millionen aktiven Soldaten besitzt China auch die größte Streitmacht der Welt (zum Vergleich: die USA haben 1,4 Millionen), aber der chinesische Militärhaushalt beträgt nur ein Drittel des US-amerikanischen. China hat 600 strategische Nuklearwaffen, die USA über 6000. Die USA unterhalten rund 800 Stützpunkte in über 80 Ländern weltweit, was ihnen eine hohe geopolitische Reichweite bescheert. China hingegen hat nur wenige Übersee-Stützpunkte (zum Beispiel Djibouti).
Der immer wieder vorhergesagte wirtschaftliche oder politische Abstieg Chinas ist nicht eingetreten. Zwar gibt es Krisen, wie eine Überproduktion von Immobilen im Bausektor, bei Stahl und anderen Massenprodukten oder eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Aber bislang hat China solche Herausforderungen durch Reformen und Anpassungen bewältigt.
Die sicher größte Herausforderung für die Volksrepublik wäre ein vom Westen angezettelter Krieg, denn speziell die USA sehen sich durch Chinas Aufstieg bedroht. Einige versuchen, den Konflikt mit Taiwan militärisch zu eskalieren. Zum Glück ist die Bevölkerung in Taiwan bislang mehrheitlich nicht an einer Eskalation interessiert und setzt auf die Zusammenarbeit mit der Volksrepublik.
Nach Angaben chinesischer Stellen machten Taiwanesen 2024 gut vier Millionen Reisen in die VR China – zum Zwecke der Arbeit, des Studiums und des Tourismus. Das entspricht etwa 11.000 Reisen pro Tag. Umgekehrt gab es von Januar bis Oktober 2024 rund 320.000 Besuche vom chinesischen Festland nach Taiwan, also etwa 1.050 Besuche pro Tag. Allerdings hat der Massentourismus aus der VR China noch nicht das Niveau vor der Corona-Krise erreicht.
Über die Beschäftigung von Taiwanesen in China und umgekehrt gibt es keine verlässliche Statistik. Es gab bis Oktober 2024 fast eine Million Anträge auf Mainland Travel Permit for Taiwan Resident. Die geschätzte Zahl taiwanesischer Unternehmen auf dem Festland beträgt 50.000. Laut dem Investitionskommissionsbericht (Taiwans MOEA) wurden vom Juli 2009 bis Dezember 2024 insgesamt 1.622 Investitionsprojekte chinesischer Unternehmen in Taiwan genehmigt, mit einem Gesamtvolumen von rund 2,89 Milliarden US-Dollar. Mindestens 35 chinesische Unternehmen haben offiziell Büros in Taiwan eröffnet und diese beim taiwanesischen Wirtschaftsministerium registriert. Dazu gehören die Bank of China, Bank of Communications, China Merchants Bank und China Construction Bank. Viele chinesische Unternehmen agieren über Tochtergesellschaften oder Holdingfirmen – zum Beispiel Lenovo, Alibaba oder Huawei –, wodurch ihre Präsenz in Taiwan indirekt erfolgt und nicht immer öffentlich erkennbar ist.
Man kann nur hoffen, dass alle Akteure rational genug sind und eine militärische Eskalation vermeiden. Allerdings wird sich ohne einen Krieg der Aufstieg Chinas fortsetzen – mit hoher Wahrscheinlichkeit, wenn auch mit etwas geringeren Wachstumsraten und vermutlich steigender Innovationsdynamik.
Betrachtet man Wirtschaft als Nullsummenspiel, dann wäre es im Interesse der USA, den Konflikt mit China zu eskalieren, um das Reich der Mitte einzudämmen, auch wenn dies allen schadet.[1] Einen Atomkrieg kann keine Seite gewinnen und ein konventioneller Krieg zwischen Taiwan (mit den USA im Hintergrund) und der Volksrepublik würde die wirtschaftliche Entwicklung aller beteiligten Länder zerstören.
Aber wirtschaftliche Entwicklung muss kein Nullsummenspiel sein. Eine kooperative Strategie zur Lösung globaler Herausforderungen, mit denen China, die USA, Europa und die BRICS gleichermaßen konfrontiert sind, könnte allen Akteuren nutzen: Der Umbau der Energiesysteme, der Aufbau von offenen und geschlossenen Stoffkreisläufen in globalem Maßstab, Innovationen in neue Werkstoffe und umweltkompatible Verfahren, neue Lösungen für die Gestaltung von urbanen Regionen und Konsumstrukturen in einer ökologische Kapitalverwertungswirtschaft wären geeignete Felder realwirtschaftlicher Entwicklung. Sie würden sowohl Arbeit und Arbeitseinkommen als auch Innovationsgewinne für Unternehmen und Staatseinnahmen zur Finanzierung der Gemeingüterproduktion ermöglichen.
Der Aufstieg Chinas ist verbunden mit der Frage, ob die Zukunft der Weltwirtschaft in der Kooperation für gemeinsamen Wohlstand liegt, oder in der gegenseitigen Einhegung und Eskalation.
Wirtschaftswachstum
In den vergangenen 45 Jahren hat China eine hohe Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung erreicht. Der Höhepunkt lag in den Jahren 2004 bis 2019. Der Aufschwung wird sich wahrscheinlich in den kommenden Jahren fortsetzen.
Chinas Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg seit 1980 auf das 56-fache, pro Kopf auf das 38-fache. Für den anderen Aufsteiger Indien betragen die Werte das fünfzehnfache BIP, pro Kopf das Siebenfache. Seit 2000 wuchs das chinesische BIP auf das Vierzehnfache, pro Kopf das Neunfache.
Chinas Bevölkerung wächst nicht mehr – anfangs wegen der Ein-Kind-Politik. Aber auch nach ihrem Ende seit 2015 bzw. 2021 bleibt die Geburtenrate deutlich unter zwei Kindern pro Frau, was in China wie in vielen anderen Ländern mit einer wohlstandbedingten Veränderung der Lebensweise zusammenhängt. Die Altersversorgung in modernen Gesellschaften hängt nicht mehr von der Zahl der Kinder ab, zudem kosten Unterhalt und Ausbildung der Kinder erheblich mehr als vor 50 Jahren.
Der Bevölkerungsrückgang bietet die Chance, wachsenden Wohlstand bei geringerer Belastung natürlicher Ressourcen zu ermöglichen, sofern die Produktivität durch Innovationen weiter steigt. Innovationen durch wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen den ökologischen Umbau der Industrie, der Landwirtschaft und des Konsums. Für China bedeutet es einen Rückgang der Wachstumsrate von über 10 auf derzeit nur noch 5 Prozent; sie wird wahrscheinlich weiter sinken, weil künftig qualitative Veränderungen des Produktionssystems eine stärkere Bedeutung bekommen.
Doch wie steht es um die Lage der arbeitenden chinesischen Bevölkerung? Hat sie von dem Aufstieg profitiert?
Im Jahr 2014 erklärte die kommunistische Partei Chinas das Ziel, die absolute Armut zu überwinden. Tatsächlich sank die Zahl der Armen von nahezu 100 Millionen im Jahr 2012 auf 5,5 Millionen Ende 2019. Am 25. Februar 2021 verkündete Präsident Xi Jinping den „vollständigen Sieg“ über die Armut. Laut offiziellen Angaben wurden 98,99 Millionen Menschen auf dem Land und 128.000 Dörfer aus der Armut geführt.[2] Offizielle Statistiken bestätigen, dass China Ende 2020 keine Menschen mehr unterhalb der nationalen Armutsgrenze hatte, die 2010 inflationsbereinigt bei circa 2.300 Yuan pro Jahr und 2020 bei etwa 4.000 Yuan lag.
Entwicklung der Löhne
Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der Löhne in ländlichen und in industriellen Regionen.
In 25 Jahren seit 2010 stiegen die Jahreslöhne von knapp 40.000 Yuan auf ca. 120.000 Yuan im Jahr 2022 (umgerechnet 17.400 US-Dollar), in städtischen Bereichen sogar auf ca. 140.000 Yuan (21.200 US-Dollar). Der ländliche Bereich ist mit knapp 3.000 Yuan (435 US-Dollar) hingegen deutlich abgehängt. Allerdings dürfte auf dem Land auch ein Teil des Konsums in Eigenarbeit im eigenen Haushalt erwirtschaftet werden. Von einem sehr niedrigen Ausgangsniveau sind die Löhne in den vergangenen Jahren erheblich gestiegen.
Bemerkenswert ist, dass die chinesische Entwicklung der sogenannten goldenen Lohnregel folgte. Die Löhne sind mittelfristig schneller gestiegen als die Produktivität, lagen im Durchschnitt um mehr als 3 Prozent darüber, was bis 2024 auch der Zielinflationsrate entsprach.
Das entspricht der Dynamik in den USA und in Deutschland in den 1960er Jahren, aber nicht mehr der gegenwärtigen Entwicklung. In den USA blieben seit den 1980er Jahren die Löhne deutlich hinter der Produktivitätsentwicklung zurück. Ähnliches gilt auch für Deutschland.
Nun hat die goldene Lohnregel zunächst eine makroökonomische Bedeutung: Die Nachfrage der Arbeitnehmer würde bei steigender Produktivität nicht hinter dem wachsenden Angebot zurückbleiben. Auf diese Weise kann Arbeitslosigkeit und umgekehrt auch Inflation vermieden werden. Seit dem Siegeszug des Neoliberalismus in den 1980er Jahren und der zunehmenden Finanzialisierung der Volkswirtschaften aber gilt das nicht mehr. Die hinter der Produktivitätsentwicklung zurückbleibende Nachfrage muss durch Exportüberschüsse oder Staatsverschuldung kompensiert werden.
Auch in China reichen die Lohnzuwächse noch nicht, um eine dem Produktivitätswachstum entsprechende Nachfragesteigerung zu erreichen. Das galt insbesondere, solange die arbeitssuchende Bevölkerung noch stark wuchs. Das Wirtschaftswachstum musste über dem Wachstum der Produktivität liegen, um die Jahr für Jahr wachsende Zahl an Arbeitskräften zu beschäftigen. Das gilt auch 2025 noch, weil derzeit die letzten geburtenstarken Jahrgänge nach Ausbildung und Studium ins Erwerbsleben eintreten. Das ist eine Ursache der hohen Jugendarbeitslosigkeit, allerdings nicht die einzige und wohl auch nicht die wichtigste.
Mit 40 Prozent hat China eine sehr hohe Sparquote, der Konsum steigt langsamer als die Einkommen, die Nachfrage bleibt damit hinter der Produktion zurück. Eine hohe Sparquote kann eine gewisse Zeit kompensiert werden durch Exporte, Infrastrukturinvestitionen und das Wachstum der Produktion öffentlicher Gemeingüter (Gesundheitswesen, Bildung, Wissenschaft). Über einen längeren Zeitraum ist hingegen eine Umstellung der Entwicklungsrichtungen und ein Umbau der Konsumstrukturen erforderlich. Zwar strebt China eine ausgeglichene Handelsbilanz an, diese ist aber zumindest kurzfristig nicht zu erreichen. Anteilig sinken die Handelsbilanzüberschüsse und der Export soll von den Industrieländern (vor allen USA und EU) hin zu anderen Schwellenländern verschoben werden.
Die Umstellung der chinesischen Wirtschaft von einer exportorientierten Dynamik (Werkstatt der Welt) auf eine Binnenmarktdynamik ist eine komplizierte Herausforderung. Überkapazitäten im Bauwesen und bestimmten Industriesektoren (Stahl, Maschinenbau, PKW) müssen abgebaut und neue Konsum- und Investitionsbereiche entwickelt werden – nicht zuletzt solche, die eine Reduzierung des Verbrauchs von Naturressourcen ermöglichen. Da China keine zentral gesteuerte Planwirtschaft ist, ergeben sich die Entwicklungsrichtungen und Dynamiken aus den Handlungen und Strategien vieler Millionen Akteure: Unternehmen und Konsumenten, die auf Marktsignale und auch auf politische Diskurse reagieren. Nicht zuletzt Regionen und Kommunen, die sehr an steigenden Einnahmen und daher an wachsenden Unternehmen interessiert sind.
Der ökologische Umbau der Industriegesellschaft und der Konsumstrukturen ist ein gewaltiges Feld für Innovationen, Investitionen und auch für die Entwicklung neuer Konsumstrukturen. Aber diese Umstellung kann nicht in wenigen Jahren erfolgen. Indem China auf erneuerbare Energien, auf grüne Wirtschaftsentwicklung und Stoffkreisläufe setzt, riesige Gebiete in den Wüsten aufforstet und neue Entwicklungen im Bereich der öffentlichen wie der privaten Mobilität anstößt (Nahverkehr, Hochgeschwindigkeitszügen, E-Mobilität), wurden aber erste Schritte getan.
Wirtschaftswachstum und Konsum
Pro Kopf stieg das chinesische BIP von 2000 bis 2020 auf das vierzehnfache. Im Vergleich dazu stieg das deutsche Pro-Kopf-BIP von 1990 bis 2020 auf etwa das dreifache. Allerdings ist das unterschiedliche Ausgangsniveau zu beachten. Chinas BIP pro Kopf steigt zwar weitaus schneller, aber es liegt derzeit erst bei etwa einem Drittel im Vergleich zum EU-Durchschnitt und einem Fünftel im Vergleich zu den USA. Indes ist der Abstand geringer, wenn man Kaufkraftparitäten berechnet: Dann erscheint das chinischen BIP pro Kopf etwa halb so groß wie das der EU und etwa ein Drittel so groß wie das der USA.
Dieser Vergleich relativiert sich weiter, wenn man die unterschiedlichen Lebensweisen und Konsumstrukturen betrachtet. Zichen Wang von der Princeton School of Public and International Affairs hat eine Studie von Yu Fei und Guo Kai vorgelegt. Sie zeigt, dass der Konsum in China höher ist, als er nach Berechnung des BIP pro Kopf erscheint, wenn man tatsächliche Verbrauchsmengen in Naturalgrößen misst: „Obwohl es eine erhebliche Lücke zwischen China und den Industrieländern in Bezug auf die Pro-Kopf-Konsumausgaben gibt, zeigt eine Analyse (…) des tatsächlichen Konsumvolumens, dass diese Lücke viel kleiner ist als die, die sich in den Pro-Kopf-Ausgaben widerspiegelt.“
Mit anderen Worten: Der Lebensmittelkonsum entspricht dem der Industrieländer. Was den Wohnraum betrifft, unterscheidet sich die Pro-Kopf-Grundfläche der chinesischen Bevölkerung nicht wesentlich von den Industrieländern, allerdings bei deutlich geringerem Preisniveau, wenn man von Metropolen wie Peking oder Shanghai absieht. Auch im Bereich der Dienstleistungen, der Bildung und den Gesundheitsleistungen ist das Niveau der Industrieländer fast erreicht. Einen größeren Abstand gibt es beim Tourismuskonsum, wenngleich China auch hier aufgeholt hat.
Der Verbrauch von Industriegütern unterscheidet sich strukturell. Bei Automobilen gibt es zwar eine kontinuierliche Aufwärtsbewegung, aber auch einen deutlichen Abstand zu den USA, Deutschland und Frankreich. Dafür sind der öffentliche Nahverkehr und die Hochgeschwindigkeitszüge in China viel weiter als in Europa oder den USA.
Für die Gesundheistleistungen wurde die Lebenserwartung als Indikator gewählt. Die Studien-Autoren stellen fest, dass die durchschnittliche Lebenserwartung Chinas stabil gewachsen ist, „beginnend mit 53 Jahren im Jahr 1965 bis hin zu 78 Jahren im Jahr 2023. Chinas durchschnittliche Lebenserwartung hielt sich bis 2004 auf einem ähnlichen Niveau wie in Mexiko, danach verbesserte sich China kontinuierlich und vergrößerte den Abstand allmählich.“
Fazit: Makroökonomisch betrachtet hat die chinesische Bevölkerung deutlich am wirtschaftlichen Aufstieg partizipiert, und zwar durch die Überwindung der absoluten Armut, durch steigende Löhne im Maße der Produktivitätsentwicklung und wachsendem Konsum, der sich langsam dem Niveau der Industrieländer annähert.
Nun ist die Annäherung an das westliche Konsumniveau nicht das einzige Kriterium, an dem sich die Teilhabe der chinesischen Bevölkerung messen lassen sollte. Gerade wenn das Ziel eine „sozialistische“ Entwicklung werden soll, müssten weitergehende Kriterien betrachtet werden: Mitbestimmung, Entfaltung der Individualität, Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Spannend zu beobachten wird sein, welche Folgen Modernisierung, Automatisierung und Digitalisierung auf die Arbeits- und Organisationsbedingungen der Beschäftigten haben werden.
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