Fünfzig Jahre Memo-Gruppe: Die Beharrlichen
Der fünfzigste Geburtstag der Memorandum-Gruppe markiert eine doppelte Wahrheit. Sie rettete den Keynesianismus, als alle anderen ihn fallenließen. Doch wer die Zukunft des Postkeynesianismus sucht, muss wohl über das Memorandum hinausgehen.
Wenn eine ökonomische Initiative ein halbes Jahrhundert überdauert, verdient das Respekt. Seit 1975 legt die Memorandum-Gruppe Jahr für Jahr ihr alternatives Gutachten vor – eine Art Gegenentwurf zum Sachverständigenrat, eine unermüdliche Erinnerung daran, dass Wirtschaftspolitik auch anders gedacht werden kann. Schon diese Beharrlichkeit ist eine Leistung. Doch gerade weil die Gruppe so lange existiert, fällt ihre Geschichte vielgestaltig aus: zwischen Mut und Sturheit, intellektueller Unabhängigkeit aber auch theoretischer Erstarrung.
Von Anfang an stand die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, wie sie offiziell heißt, zwischen allen Fronten. In den siebziger Jahren wandten sich viele Sozialdemokraten dem entstehenden Neoliberalismus zu, während die marxistische Linke – vor allem die Berliner Prokla-Gruppe um Elmar Altvater, Jürgen Hoffmann und Willi Semmler – Keynes als Theoretiker des „Klassenkompromisses“ und als verhängnisvolle reformistische Sackgasse verwarf. Der „penetrante keynesianische Stallgeruch“ der Memorandum-Gruppe, wie gespöttelt wurde, machte sie verdächtig.
Doch gerade hier lag das eigentliche revolutionäre Potential. Keynes bot etwas, das Marx nicht bieten konnte: eine ökonomische Theorie, mit der sich im Kapitalismus Ansprüche auf Verteilung, Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit begründen ließen. „Eine bessere Verteilung“, so hatte Léon Blum gesagt, „würde die Produktion wiederbeleben und gleichzeitig der Gerechtigkeit Genüge tun.“ Dieser Gedanke wurde zum Markenkern der Memorandum-Gruppe.
Dass sie damit unbequem blieb, zeigte sich in den großen Wendepunkten der deutschen Wirtschaftsgeschichte. In den achtziger Jahren, als Helmut Kohl auf eine „geistig-moralische Wende“ und Angebotspolitik setzte, war das Memorandum eine der wenigen Stimmen, die auf die Nachfrage und die gesamtwirtschaftliche Balance pochten. In den neunziger Jahren, als die Wiedervereinigung als „Standortproblem“ verhandelt wurde, forderte die Gruppe eine keynesianische Finanzpolitik zur Integration der neuen Bundesländer – vergeblich. Und in den Nullerjahren, als mit der Agenda 2010 der Sozialstaat radikal umgebaut wurde, war das Memorandum ein Hort des Widerstands: während die SPD und die Gewerkschaften ihre keynesianischen Überzeugungen aufgaben, erinnerte die Gruppe an das alte Versprechen von Vollbeschäftigung und Umverteilung. Auch in der Eurokrise meldete sich die Gruppe zu Wort. Sie kritisierte die Austeritätspolitik, warnte vor den zerstörerischen Folgen deutscher Exportüberschüsse und plädierte für eine expansivere europäische Fiskalpolitik. Wer wissen wollte, was Keynes wohl in der Gegenwart sagen würde, konnte ins Memorandum blicken.
Doch schon in den neunziger Jahren zeigte sich, dass die Gruppe zwar Keynes verteidigte, aber kaum weiterentwickelte. Als die Finanzmärkte die Realökonomie immer stärker prägten, als endogene Geldschöpfung, Leistungsbilanzungleichgewichte und die institutionellen Defekte des Euro zu zentralen Themen wurden, blieb das Memorandum in seinen Erklärungen erstaunlich orthodox.
Genau an diesem Punkt entzündeten sich die schärfsten innerkeynesianischen Konflikte. Kritiker wie die MAKROSKOP-Autoren Günther Grunert und Michael Paetz bemängelten, dass die Memo-Gruppe zentrale Entwicklungen der letzten dreißig Jahre schlicht verschlafen habe. Einige Mitglieder, wie Bontrup und Marquardt, halten in ihren jüngsten Publikationen an Vorstellungen fest, die in der postkeynesianischen Theorie längst überwunden sind: dass Ersparnisse die Investitionen finanzieren, dass Banken bloße Finanzintermediäre sind: „Vereinfacht betrachtet sammeln Banken das überschüssige Geld von Menschen ein, die zu viel davon haben, um es dann denen zu geben, die einen Kredit benötigen“ – so hieß es noch 2021 in einem ihrer Lehrbücher. Für Paetz und Grunert war das nicht bloß ungenau, sondern schlicht falsch.
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Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Deutsche Bundesbank 2017 längst weiter war, als sie die endogene Geldschöpfung der Banken anerkannte. Für Postkeynesianer wie Marc Lavoie ist die umgekehrte Kausalität – Investitionen schaffen Ersparnisse, nicht andersherum – ein Unterscheidungsmerkmal zum neoklassischen Denken. Wer daran vorbeigeht, läuft Gefahr, gerade jene orthodoxen Elemente zu reproduzieren, von denen man sich doch eigentlich absetzen wollte.
So erklärt sich auch der erbitterte Streit mit Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt. Beide betonten früh die Rolle von Leistungsbilanzungleichgewichten, von Währungsarchitekturen und globalen Saldenmechanismen. Auch sie warfen der Memo-Gruppe vor, auf einem intellektuellen Stand der achtziger Jahre stehen geblieben zu sein. Die Reaktion auf Flassbeck und Steinhardt, vor allem aber auf Grunert und Paetz fiel heftig aus. Von intellektuellem Rufmord war die Rede, von Denunziation.
Diese Härte zeigt, wie schwer es der Gruppe fiel, die eigene Theorie im Lichte neuerer Entwicklungen zu prüfen. Dass sich die Kritik nicht von neoliberaler Seite, sondern aus postkeynesianischer Perspektive erhob, machte die Sache doppelt brisant. Denn es ging nicht um das „Ob“ von Keynes, sondern um das „Wie“ – um die Frage, ob die Memorandum-Gruppe an einem überholten Keynes-Bild festhielt, das der neoklassischen Synthese näher stand als der lebendigen Tradition der Postkeynesianer.
So markiert der fünfzigste Geburtstag der Memorandum-Gruppe vor allem eine doppelte Wahrheit. Sie war die Rettung des Keynesianismus in Deutschland, als alle anderen ihn fallenließen – gegen die Neoliberalen, gegen die Marxisten, gegen den Zeitgeist. Aber sie war auch eine Schule der Sturheit, die neue Einsichten lange abwehrte. Wer die Zukunft des Postkeynesianismus sucht, muss deshalb wohl über das Memorandum hinausgehen.
Und doch wäre es zu einfach, die Gruppe nur an ihren Versäumnissen zu messen. Ihr Verdienst bleibt, dass sie die Idee einer makroökonomischen Steuerung nie preisgegeben hat – auch nicht in den dunklen Jahren der neoliberalen Hegemonie, als selbst die Sozialdemokratie auf angebotsorientierte Rezepte schwor. Ohne die jährlichen Memoranden wäre vieles, was heute wieder verstärkt diskutiert wird – Vollbeschäftigung, antizyklische Fiskalpolitik, die Bedeutung von Lohnpolitik für die Nachfrage – vielleicht ganz aus der Debatte verschwunden. Für Generationen von Studierenden und jungen Ökonomen war das Memorandum ein Einstieg in die Erkenntnis, dass Ökonomik nicht zwangsläufig Marktapologie bedeuten muss.
Vielleicht ist das, im Rückblick, die eigentliche historische Leistung. Und vielleicht ehrt man die Memorandum-Gruppe am besten, indem man ihr in Dankbarkeit widerspricht – beharrlich, so wie sie es selbst fünfzig Jahre lang getan hat.