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Warum Personenfreizügigkeit schadet

| 19. August 2025

Aristoteles, der „Urvater“ der Ökonomie war gegen den freien Personenverkehr. Warum? Weil er wirklich etwas von Ökonomie verstand.

Die modernen Ökonomen sind unisono für flexible Arbeitsmärkte bis hin zum grenzüberschreitenden freien Personenverkehr. Sie begründen dies damit, dass die Arbeitskräfte dann am meisten BIP generieren, wenn sie punktgenau immer dort und dann eingesetzt werden, wo sie den größten Nutzen bringen. Etwa wenn eine Firma ihre dringend benötigten Spezialisten nicht nur im eigenen Land suchen muss. Oder wenn der Bauunternehmer in Süddeutschland sein Personal besser auslasten kann, indem er es auf Montage in die Schweiz entsendet. Aus all diesen Gründen sollen die Arbeitsmärkte örtlich und zeitlich flexibel sein, und werden Arbeitslose verpflichtet, für eine neue Stelle lange Arbeitswege in Kauf zu nehmen.

Begründet wird dies damit, dass mehr BIP mehr Wohlstand schaffe. Doch trifft dies auch dann zu, wenn das BIP-Wachstum durch flexible Arbeitsmärkte erkauft werden muss? Zweifel sind angebracht: Es könnte durchaus sein, dass das durch die Flexibilität gewonnene BIP durch die zusätzlichen Wegkosten- und -zeiten und die damit verbundenen Umweltschäden mehr als aufgebracht wird. Das BIP steigt zwar insgesamt, aber der nach Abzug der Weg- und Umweltkosten verbleibende „essbare“ Teil schrumpft. Wenn man bedenkt, dass der durchschnittliche Arbeitsweg in Deutschland eine Stunde beträgt, und dass die entsprechenden Wegkosten mindestens weitere 20 Arbeitsminuten betragen, ist diese Annahme sogar sehr wahrscheinlich.

Doch Aristoteles argumentiert anders. Ihm ging es um die Grundsatzfrage, ob zusätzliches „Zeug“ überhaupt zu etwas zu dem beiträgt, worauf es wirklich ankommt, nämlich zu einem „guten Leben“. Martha Nussbaum fasst seine Meinung dazu so zusammen: „Zuviel Reichtum kann zu einem extremen Konkurrenzdenken oder zu einer extremen Konzentration auf technische und verwaltungsmäßige Aufgaben führen und die Menschen von sozialen Kontakten, von der Beschäftigung mit den Künsten, vom Lernen und Nachdenken abhalten.“

Aristoteles hat natürlich recht: Noch mehr Zeug (heute reden wir von BIP) hat bestenfalls einen kleinen Einfluss auf das gute Leben. Umso wichtiger ist die Frage, wie sich BIP-steigernde Maßnahmen – wie insbesondere die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte – auf wichtigere Aspekte des guten Lebens auswirken. Schauen wir also genauer hin. Eines der grundlegendsten Bedürfnisse der Menschen die soziale Zugehörigkeit. Die Produktionsstätten dieser Zugehörigkeit sind in erster Linie die Familie und die Nachbarschaft und – vor allen für die Menschen im erwerbsfähigen Alter – der Arbeitsplatz.

Auf alle drei wirkt sich die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte negativ aus. Denken wir an die langen Arbeitswege, an häufige Stellenwechsel, Nachtschichten etc. Wie sehr die Familien schon zerrüttet sind, zeigt sich etwa darin, dass der Anteil der 1-Personenhaushalte an der Gesamtbevölkerung der Schweiz seit 1970 um das 2,5fache gestiegen ist, während der Anteil der Paare mit Kindern um einen Viertel gesunken ist. Und obwohl sich die Heiraten pro 1000 Bewohner seit 1970 annähernd halbiert hat, haben sich die Scheidungen fast verdoppelt.

Weil die Familien und Nachbarschaften immer mehr beschädigt werden, hat die Bedeutung der bezahlten Arbeit als „Produzent“ von Gemeinsamkeit und sozialer Integration stark zugenommen. Gemäß der Glückforschung mindert Arbeitslosigkeit das Glück (das gute Leben) in etwa gleich stark wie eine mittelschwere Krankheit. Nach einer 1994 in England erschienen Studie bräuchte es eine Erhöhung des durchschnittlichen Einkommens um das Elffache, um den seelischen Schaden der Arbeitslosigkeit auszugleichen. (Klingt unglaublich, zeigt aber, wie unwichtig noch mehr Einkommen oder BIP für das gute Leben ist.)

Das haben auch die Ökonomen und Wirtschaftspolitiker gemerkt. Mit fatalen Folgen. Die „Schaffung“ von Jobs wurde zum Selbstzweck, was wiederum die Macht der Unternehmen enorm gestärkt hat. Neben ihren Produkten konnten sie nun auch ihre Jobs – und die damit verbundene soziale Integration – verkaufen. Nach dem Motto: Sozial ist, was Arbeit schafft. „Wir schaffen Jobs, da könnt ihr nicht auch noch existenzsichernde Löhne und gute Arbeitsbedingungen verlangen.“ Darunter hat auch die soziale Integrationskraft der (schlecht) bezahlten Arbeit stark gelitten.

Kurz zurück zu Aristoteles, dem Erfinder der Ökonomie, die damals noch weit überwiegend in der Hausgemeinschaft – im Oikos stattfand. Auch heute noch werden mindestens 60 Prozent der Tätigkeiten, mit denen wir unsere Bedürfnisse befriedigen und das Überleben sichern in Familien und Nachbarschaften geleistet. Die Flexibilisierung der bezahlten Arbeit und der Steuerwettbewerb sowie die dadurch ausgelöste Binnenwanderung haben aber die Produktionskraft des Oikos weiter stark geschwächt. Dies auch deshalb, weil im Bestreben, Jobs zu schaffen, unbezahlte Arbeit gezielt durch bezahlte ersetzt wurde.

Mit teuren Folgen: Die Betreuung von Kleinkindern etwa war einst Sache der Familie und der Nachbarschaft. Heute braucht es dafür die bezahlte Arbeit in Kitas. Allein die Wegzeiten der Kita-Mitarbeiter, der Kita-Bürokraten und der Eltern dürfte den Zeitaufwand der einstigen nachbarschaftlichen Lösung bei weitem überschreiten. Einverstanden: Dafür wird mehr bezahlte Arbeit geleistet worden und das BIP wurde vergrößert, aber per Saldo ist das eine massive Verschwendung von Arbeitszeit.

Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Schwächung des Oikos kostet noch viel mehr. So wird auch die Betreuung der Senioren immer mehr kommerzialisiert und professionalisiert. In der Schweiz kostet eine Pflegestunde inzwischen rund 80 Franken. Wird die Arbeit von Angehörigen geleistet, kassieren diese maximal 38 Franken. Der Rest geht an Spitex-Organisationen, welche die Pfleger ausbilden. Von 2020 bis 2023 haben sich die Grundpflegeleistungen dieser Firmen verfünffacht.

Und dann wären da noch die Kinder aus dysfunktionalen Familien, die in Schule intensiv betreut werden müssen. Dafür werden Schulassistenten eingesetzt. Im Kanton Bern waren es 2020 noch 918, inzwischen ist diese Zahl auf 2954 angewachsen und auch in der Stadt Zürich hat sich die Zahl der Assistenzkräfte von 340 auf 1020 verdreifacht. An den Aargauer Volksschulen verdoppelten sich die Vollzeit-Pensen der Schulassistenten von 220 auf 437, während die Zahl der Schüler bloß um 8 Prozent gestiegen ist.

Und auch die Erwachsenen sind von der neuen sozialen Unordnung überfordert. Viele werden depressiv, gehen zum Psychiater oder suchen anderswo nach Orientierung. Das zeigt sich etwa in der Tatsache, dass allein in der Region Zürich neun private Institute Life-Coaches ausbilden. 

Und wer macht dann noch die eigentliche Arbeit? Kein Problem. Wir importieren sie.

Damit kommen wir zur internationalen Dimension des freien Personenverkehrs. Diese zeigt sich exemplarisch in der EU: Die Randgebiete in Spanien, Portugal, Süditalien, Rumänien, Kroatien usw. entleeren sich. Dafür explodiert die Bevölkerung in den Ballungsgebieten.

Am Beispiel von Portugal sieht das so aus: 2009 wurde dort der Status des "nicht gewöhnlichen Wohnsitzes" geschaffen, um gut ausgebildete Arbeitnehmer und Rentner aus dem Ausland anzulocken. 2012 wurden die "Goldenen Visa" eingeführt, die Ausländern mit dickem Scheckbuch einen privilegierten Zugang zur Staatsbürgerschaft bieten. Darauf stiegen die Immobilienpreise und Mieten, mit der Folge, dass sich junge Portugiesen keine Wohnung mehr leisten konnten. Heute lebt ein Drittel aller Portugiesen zwischen 15 und 39 im Ausland. Auf jeden erwerbsfähigen Portugiesen kommen heute zwei Rentner. Für die einfachen Arbeiten werden deshalb billige Arbeitskräfte aus Brasilien, Angola, Indien, Bangladesch oder Marokko angeworben.

Ähnliches spielt sich global ab. Immer mehr Länder verlieren die Fähigkeit, für den eigenen Bedarf und damit für Beschäftigung zu sorgen. Der Hauptgrund ist immer derselbe: Um eine Region wirtschaftlich zu entwickeln, braucht es im besten Fall etliche Jahre. Doch die Leute, die diese Entwicklung gestalten könnten, finden morgen schon einen besser bezahlten Job im Ausland – und lassen eine dysfunktionale Heimat zurück.

Der Grund dafür sind die globalen Wertabschöpfungsketten. Ein Paar On-Schuhe zum Beispiel wird in der Schweiz für 200 Franken an ein Publikum verkauft, das pro Stunde 100 Franken verdient. Von der Arbeit, die in diesen Schuhen steckt, werden 90 Prozent zu einem Stundenlohn von – sagen wir – 5 Franken geleistet. Das erlaubt es, die restlichen 10 Prozent der Arbeit mit 300 Franken zu entlohnen. Die entsprechenden „Wertabschöpfer“ siedeln sich und ihre Firmen gerne an gehobenen Wohnlagen mit tiefen Steuersätzen und guten Verkehrsverbindungen an.

Diese globalen Wertschöpfungsketten und ihre fetten Enden haben gewichtige Nachteile: Zum einen wird in den Verlierernationen Kaufkraft abgeschöpft, oder kann gar nicht erst entstehen, die für die lokale Entwicklung nötig werden. Und in den Siegerländern wie etwa der Schweiz sorgen die Profiteure der „fetten Enden“ mit ihrer gedopten Kaufkraft für Preissteigerungen vor allem bei den Mieten und Immobilien und damit für eine massive Umverteilung von Wohnungssuchenden zu den Bodenbesitzern. Die hohe Kaufkraft und der entsprechende Konsumbedarf bewirken zudem eine Massenwanderung von Arbeitskräften von den Verlierer- zu den Siegerländern.

Damit leben wir in einer Welt, die Aristoteles als paradox empfunden hätte. Zu seiner Zeit wurden mit Arbeit überwiegend die lokalen Bedürfnisse befriedigt. Die Arbeit war da, wo die arbeitenden Menschen waren. Heute muss die Arbeit der monetären Nachfrage hinterherrennen, die von der globalen Marktwirtschaft mal hier und mal dort, aber immer sehr einseitig verteilt wird. Wir leben in einer hypermobilen globalen Wanderwirtschaft.

Doch diese Welt bekommt uns nicht. Sie ist letztlich extrem ineffizient. Jede Arbeitskraft, die wandert, schwächt die Produktionskraft der Familie und Nachbarschaft. Doch genau davon hängt das gute Leben viel mehr ab als von der bezahlten Arbeit. Aristoteles wäre das aufgefallen. Die heutigen Ökonomen merken es nicht. Sie sind blind. Ihr alleiniger Maßstab ist das BIP oder allenfalls noch die bezahlte Beschäftigung.

Und dann ist da noch ein wichtiger Punkt: Der Mensch ist ein Herdentier. Wir sind von Kindsbeinen an extrem auf die Hilfe anderer angewiesen – auf Familie, Freunde, Nachbarn und auch auf den Sozialstaat. Um diese Abhängigkeit erträglich zu machen den anderen vertrauen zu können, knüpfen wir ein enges Netz von gegenseitigen sozialen Verpflichtungen. Und wir schaffen Institutionen, mit denen wir unser Zusammenleben organisieren und das soziale Vertrauenskapital ständig erneuern.

Dieser Prozess ist schwierig genug und er wird noch schwieriger, je mehr Menschen aus fremden Kulturen mit anderen sozialen Regeln einwandern. Diese Metastudie zeigt, dass das soziale Vertrauen umso stärker sinkt, je grösser die ethnische Vielfalt in einem Gebiet ist. Das gilt in besonderem Masse für das lokale Vertrauen in die Nachbarn. Und aus sozial kaputten Nachbarschaften und Quartieren droht eine "failed nation", ein gescheitertes Land zu werden. In Deutschland und in vielen Gebieten Westeuropas ist diese Gefahr real. Sei es, weil die Integration gescheitert ist, oder weil einfach zu Viele gekommen sind.

Doch es reicht nicht, die Grenzen zu schließen. Wir müssen das Problem auch an der Wurzel packen. Wir brauchen eine Weltwirtschaftsordnung, die es allen Ländern möglich macht, sich zu entwickeln, sich so zu organisieren, dass sie wieder den eigenen Oikos pflegen können, statt für reiche Fremde noch mehr Nike-Schuhe herzustellen.