Chinas Weg in eine gelenkte Marktwirtschaft: die Agrarreform 1979–2004
Chinas Agrarreform begann im Verborgenen und gegen Widerstände. Doch das Haushaltsverantwortungssystem setzte sich durch – und wurde zum Ausgangspunkt des größten Wirtschaftsbooms der jüngeren Geschichte.
Den Aufstieg Chinas von 1978 bis heute hatte eine umwälzende Wirkung für die arbeitenden Bevölkerung. Die Entwicklungen habe ich in zwei vorangegangenen Beiträgen dargestellt: die Beseitigung der Armut, steigende Löhne, beträchtliche Erweiterung des Konsumniveaus; zugleich aber auch eine divergente Entwicklung. Die höheren Einkommen stiegen schneller als die unteren, die Einkommensungleichheit nahm zu und die Arbeitskräfte, die in Fabriken in städtischen Regionen arbeiten, aber einen ländlichen Hukou (registrierter Wohnsitz) haben (sogenannte Wanderarbeiter), sind oft Bürger zweiter Klasse.
Doch welche institutionellen Wandlungen haben den Aufstieg der chinesischen Volkswirtschaft seit 1979 erst möglich gemacht? In diesem Beitrag gebe ich einen Überblick und stelle das Haushaltsverantwortungssystem dar. Chinas Agrarreform war der Ausgangpunkt und der Schlüssel – ohne sie hätte die Reformstrategie nicht gelingen können.
Noch in den 1970er Jahren war China eines der ärmsten Länder der Welt. Die kommunistische Staatspartei (KPCh) war klar, dass sie ihre Macht nur dauerhaft erhalten konnte, wenn die Hungersnöte aufhörten und eine dynamische Wirtschaftsentwicklung begann. Aber erst nach dem Tod Mao Tse Tungs konnte Dengs Xiaoping die Anhänger Maos in heftigen Machtkämpfen marginalisieren und einen Reformkurs durchsetzen.
Chinas gelenkte Marktwirtschaft – diesen Begriff erkläre ich in einem der nächsten Beiträge genauer – ist eine chinesische Eigenentwicklung. Sie entstand zu einer Zeit, in der andere gelenkte Marktwirtschaften, insbesondere in den USA, in Westeuropa und nach 1990 auch die japanische Variante, bereits von neoliberalen Regulationssystemen (dem Finanzmarktkapitalismus) verdrängt worden waren. Die Herausforderung bestand nicht nur darin, eine Marktwirtschaft aufzubauen, sondern zusätzlich darin, dass die Macht der KPCh und eine möglichst sozialistische Orientierung erhalten bleiben sollten – was immer man unter „sozialistisch“ verstehen wollte.
Wie konnte die Steuerung der wirtschaftlichen und sozialökonomischen Entwicklung durch eine kommunistische Staatspartei in einer Marktwirtschaft gelingen? Sollte man die neoliberal orientierten Finanzsysteme des in den 1970er und 1980er Jahren entstandenen Finanzmarktkapitalismus kopieren? Wie sind die Probleme des Übergangs aus einem planwirtschaftlich verfassten Wirtschafts-, Banken- und Geldsystem zu gestalten, ohne dass tiefe realwirtschaftliche Einbrüche und Krisen auftreten, Versorgungsengpässe, anhaltende Inflation, Massenarbeitslosigkeit und dadurch bedingte sozialen Unruhen und Protestbewegungen den Reformkurs schon zu Beginn unmöglich machen?
Wenn im Folgenden die wichtigsten Schritte auf dem Weg zu einer sozialistischen gelenkten Marktwirtschaft skizziert werden, so entsteht der Schein, als sei dies ein geordneter und weitgehend geplanter Prozess gewesen. Das aber ist falsch. Der Weg wurde durch Experimentieren und Selektieren, durch eine Mosaikevolution, von Schritt zu Schritt gefunden: „Steine ertastend den Fluss überqueren“, wie es Deng formulierte.
Erst im Nachhinein entsteht der Eindruck einer „geordneten“ Entwicklung, die einem Modell oder Konzept gefolgt sei. Aber weder Schumpeter noch Marx, weder Friedman oder Ludwig Erhard lieferten Blaupausen. Und auch Japan, Singapore, die USA oder die EU konnte man nicht einfach kopieren. Allerdings studierten chinesische Wissenschaftler und KP-Führer andere Länder und konsultierten deren Wissenschaftler, luden sie zu Beratungen nach China ein und diskutierten deren Theorien.
Das Verantwortungssystem für Haushalte
Chinas Agrarreform begann inoffiziell in den ländlichen Regionen Anhui und Sichuan. Dort schlossen Bauern geheime Verträge, die es ihnen erlaubten, kollektiv zugeteiltes Land auf Haushaltsebene zu bewirtschaften. Die ersten Bauern, die heimlich Haushaltsverträge schlossen (zum Beispiel 1978 im Dorf Xiaogang, Anhui), mussten befürchten, wegen „Konterrevolution“ bestraft zu werden. Sie schrieben ihre Vereinbarung auf einen geheimen Zettel und versiegelten ihn. Falls einer von ihnen bestraft würde, sollten die anderen für seine Kinder sorgen. Die Rückkehr zur Haushaltsbewirtschaftung wurde von manchen Parteikadern als „Rückschritt in den Kapitalismus“ oder „Privatisierung durch die Hintertür“ kritisiert.
1978, nach der dritten Plenartagung des 11. Zentralkomitee der KPCh, begann die Politik der „Reform und Öffnung“ (改革开放). Sie gilt als Wendepunkt der chinesischen Politik. Beschlossen wurde die Abkehr vom „Klassenkampf“ als Hauptaufgabe und die Rehabilitation vieler während der Kulturrevolution verfolgter Kader. Deng Xiaoping gewann entscheidend an Einfluss. Mit dem Beginn der „Vier Modernisierungen“ wurde die Einführung des Haushaltsverantwortungssystems legalisiert – zunächst experimentell, später landesweit. Die Bauern durften den Boden nutzen und verpflichteten sich, eine festgelegte Quote an Getreide und Abgaben abzuliefern.
Das Haushaltsverantwortungssystem entpuppte sich als ein riesiger Erfolg. Die Erträge und die Investitionen verdoppelten sich zwischen 1980 und 1985. Schon 1982/83 wurde das System landesweit eingeführt. 1983 wurden die meisten Volkskommunen faktisch aufgelöst, aber der Grund und Boden, die Gewässer und die in vielen Regionen sehr wichtigen Bewässerungssysteme blieben Kollektiveigentum.
Nach der chinesischen Verfassung (Artikel 10) gibt es zwei Hauptformen des Bodeneigentums: Staatseigentum (国有, guóyǒu); der Stadtboden ist formal Eigentum des Staates und wird durch die Zentralregierung bzw. die von ihr autorisierten Kommunalregierungen verwaltet. Und Kollektiveigentum (集体所有, jítǐ suǒyǒu) – vor allem ländlicher Boden, die Agrarflächen.
Privatpersonen oder Unternehmen können in beiden Fällen nur zeitlich befristete Nutzungsrechte (使用权, shǐyòngquán) erwerben. Die Nutzungsdauer für Wohnungen beträgt 70 Jahre und wird ohne Antrag automatisch verlängert, allerdings ist bis heute nicht klar, ob und wieviel Gebühren dann zu entrichten sind. (Die 70 Jahre für die ersten Fälle laufen erst etwa 2050 ab). Die Nutzungsrechte für landwirtschaftliche Flächen betragen 30 Jahre, aber die KP beschloss 2008 und 2017, dass Bauern ein „dauerhaftes Besitzrecht über Generationen“ bekommen sollen. Auch diese Verträge werden automatisch verlängert. Die Nutzungsdauer für Gewerbe, Industrie, Bildung, Kultur, Gesundheit und Sport beträgt 50, für Tourismus, Freizeit und Kommerz 40 Jahre. Eine Verlängerung erfolgt gegen regional unterschiedliche Gebühren, oder gegen eine jährlich zu zahlende Pacht.
Der gewaltige Erfolg dieser Agrarreform war die Voraussetzung für das gesamte weitere Reformprogramm: Die Gefahr von Hungersnöten war gebannt und die Versorgung mit Lebensmitteln verbesserte sich. Die Armut wurde weniger und es gab Licht am Horizont.
In der Anfangszeit zwischen 1978 und 1984 mussten Bauern nach wie vor staatliche Getreidequoten zu festen (und meist niedrigen) Preisen liefern. 1985 wurde das System überarbeitet zum sogenannten „Vertragssystem“ (合同定购制, hétóng dìnggòu zhì). Die Bauern verpflichteten sich nur noch zu bestimmten reduzierten Liefermengen („Kontraktquoten“). Überschüsse durften sie selbst behalten oder frei zu auf dem Markt gebildeten Verhandlungspreisen verkaufen.
Das zweigleisige Preissystem – ein fester Preis für den Aufkauf von Getreide durch den Staat, ein fluktuierender Preis für den freien Verkauf der Überschüsse auf Märkten – hatte noch einen unerwarteten Nebeneffekt: Es stabilisierte die bäuerlichen Einkommen bei Überproduktion. Als „das Getreideangebot stark stieg, was einen raschen Preisverfall auslöste, schützte die staatliche Beschaffung im Rahmen des Haushaltsverantwortungssystems die Bauern vor den Auswirkungen heftiger Preisschwankungen“, schreibt Isabella M. Weber.[1]
1992 schrumpfte die Quote noch stärker. 2004 wurde die letzte verbliebene Pflichtabgabe (Getreidesteuer/农业税) faktisch abgeschafft und 2006 die Agrarsteuer und Pflichtlieferungen im ganzen Land aufgehoben. Bauern bewirtschaften bis heute ihr Land ohne Ablieferungspflicht auf Vertragsbasis mit der Dorfgemeinschaft, meist mit 30-Jahres-Verträgen, die bis mindestens 2050 garantiert sind. Heute wird es offiziell oft „家庭承包经营责任制“ genannt („System der vertraglichen Haushaltsbewirtschaftung“).
Eine neu entstandene ländliche Entwicklungsgruppe lieferte in den frühen 1980er Jahren überzeugende Belege für die positiven Wirkungen des Haushaltsverantwortungssystems. Ihre Feldstudien hatten besonderes Gewicht, weil sie als relativ unabhängige Einrichtung außerhalb der Partei- und Staatsstrukturen galt. 1983 kam es zum entscheidenden Durchbruch: Selbst in Provinzen wie Heilongjiang, wo die Parteiführung lange Widerstand leistete, konnten die Erhebungen zeigen, dass die Bauern sich klar für das neue System aussprachen. Damit war der Weg frei – das Haushaltsverantwortungssystem setzte sich endgültig durch.
Das zweigleisige Preissystem war offenbar der richtige Einstieg in eine eher lange Übergangsphase hin zu einer entfalteten Marktwirtschaft, obwohl es von den Reformern und den meisten westlichen Beratern zunächst abgelehnt wurde: „Man kann nicht zugleich Rechts- und Linksverkehr zulassen.“ Doch die positiven Erfahrungen im Agrarbereich sollten später auch in der Debatte um die Industriepreisreform eine Rolle spielen.
Mit steigender Agrarproduktion und Arbeitsproduktivität wurden auch weniger Arbeitskräfte benötigt. Die Herausforderung ist, dass die zur Verfügung stehenden Flächen sind in China sehr begrenzt sind: 1995 standen pro Kopf 0,08 ha zur Verfügung – aber aufgrund der wachsenden Städte und der noch immer nicht vollständig gestoppten Ausbreitung der Wüsten im Norden und Westen sinkt die Zahl sukzessive. Das zwingt zu einer intensiven Agrarwirtschaft.
Die Freisetzung von Arbeitskräften in den ländlichen Regionen wurde kompensiert durch neue Arbeitsplätze in den schnell wachsenden industriellen Zentren – darunter den Sonderwirtschaftszonen – und durch die Entwicklung ländlichen Gewerbes. Der Umbau der ländlichen Produktion konnte durch eine verbesserte soziale Lage der Bevölkerung bewältigt werden. Wichtig dabei war eine kontrollierte Abwanderung von Arbeitskräften in Industrie und Städte. Die damit verbundenen sozialen Umbrüche, das System der Wohnsitzregistrierung (Hukou) und die Lage dieser „Wanderarbeiter“ wurden im vorigen Beitrag dargestellt.
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