Sozialstaat in der Schusslinie
Liebe Leserinnen und Leser,
Im Falle der Ampel-Regierung war es die Schuldenbremse, wird der Sozialstaat zum großen Streitthema der Koalition? Zunächst sah es so aus: Bundeskanzler Friedrich Merz stellte die These auf, dass der Sozialstaat mit der derzeitigen Wirtschaftskraft nicht mehr finanzierbar sei, Arbeitsministerin Bärbel Bas kommentierte seine Worte abschätzig: "Bullshit!".
Obwohl sich die Koalition kurze Zeit später diplomatisch gab – der Kanzler und die Arbeitsministerin hätten sich bei einem gemeinsamen Bier am Abend vor dem Koalitionsausschuss am Mittwoch gut verständigt, so Bas – bleibt doch die Frage offen, welche Schlüsse sie aus der Auseinandersetzung zieht. Zwar wolle man den Sozialstaat nicht schleifen, abschaffen oder kürzen, sondern in den "wichtigsten Funktionen erhalten", so Merz. Doch das ist widersprüchlich – soll er nur in den wichtigsten Funktionen erhalten, oder in seinem jetzigen Umfang ausgeprägt bleiben?
Fragt man unsere MAKROSKOP-Autoren, sicher eher letzteres: Kürzungen beim Sozialstaat würden die schwächelnde Konjunktur belasten, weil sie "den ohnehin mauen Konsum in Deutschland abwürgen", so MAKROSKOP-Redakteur Sebastian Müller. Andersherum stellt, Malte Kornfeld heraus, dass sich schuldenfinanzierte Sozialausgaben in der Pandemie als wichtige Konjunkturstütze erwiesen haben – und nicht als Ballast für die Wirtschaft, wie Merz suggeriert.
Und private Alternativen zur gesetzlichen Sozialversicherung? Diese sind mit erheblichen Risiken und Nachteilen gegenüber dem öffentlichen System verbunden. Beispiel Rentenversicherung: Der wichtigste Vorteil solidarischer Umlageversicherung besteht laut unserem Sozialversicherungs-Experten Hartmut Reiners wohl in der regelmäßigen Anpassung der Rente an die Löhne und Lebenshaltungskosten – was die kapitalgedeckte Rentenversicherung nicht leisten kann.
Angesichts dieser den Sozialstaat stützenden Argumente stellt sich die Frage, warum doch so viele eine grundsätzliche Reform begrüßen. Immerhin fordern 81 Prozent der Bürger härtere Sanktionen beim Bürgergeld. Müller versucht sich mit einer Antwort: Auch wenn Rechenbeispiele etwa zeigen, dass sich Arbeit objektiv mehr lohnt, als Bürgergeld zu bekommen, muss sich dies nicht auch subjektiv so anfühlen – "politische Brisanz entsteht nicht nur in Haushaltsbudgets, sondern in Köpfen." Unterstützt wird der Eindruck einer Benachteiligung von Schlagzeilen über steigende Missbrauchsfälle, auch wenn sie statistisch selten bleiben.
Alle Artikel dieser Ausgabe:
- Rote Roben, rote Linien: Wer wird Verfassungsrichter? Die gescheiterte Verfassungsrichterwahl hat grundlegende Fragen zu starken Verfassungsgerichten in liberalen Demokratien aufgeworfen: Welche Eigenschaft sollten Kandidaten mitbringen? Und worauf ist in der Reformdebatte besonders zu achten? Martin Höpner
- Die Demokraten laufen davon – und Trump bleibt Trump ist kein Klotz am Bein der Republikaner – sondern der Garant ihres Erfolgs. Warum nicht nur die Unpopularität der Demokraten ihre Wahlniederlagen erklärt. Gregor Baszak
- Trump vs. Fed: Warum die Wall Street den Machtkampf gelassen hinnimmt Ökonomen warnen vor katastrophalen Folgen, sollte Donald Trump die Kontrolle über die Federal Reserve übernehmen. Doch die Wall Street bleibt unbeeindruckt. Ist die „Unabhängigkeit“ der Fed vielleicht etwas anderes, als wir denken? Matt Stoller
- Wie Technokraten die Welt in die Krise stürzten Donald Trumps Attacke auf die Fed löste weltweit Empörung aus. Vergessen aber wird die zum Teil fatale Rolle, die Zentralbanken und andere technokratischen Institutionen in der Vergangenheit spielten. Ann Pettifor
- Merz stellt die Dinge auf den Kopf Hängt die Finanzierbarkeit des Sozialstaats von der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft ab? Das ist eine Frage der monetären Souveränität. Malte Kornfeld
- Bullshit in der Sozialpolitik In der Gesundheits- und Sozialpolitik herrscht allgemeine Perspektivlosigkeit. Der Reformbedarf wächst, aber die in der öffentlichen Debatte diskutierten Konzepte betreten ausgelatschte Pfade. Hartmut Reiners
- Streit um Sozialstaat: Nicht alles ist Bullshit Wer wie Bärbel Bas das Bürgergeld verteidigt, mag gute ökonomische Argumente auf seiner Seite haben. Dass sie bei den Bürgern kaum ankommen, hat mit einem blinden Fleck der Verteidiger zu tun. Sebastian Müller
- Trotz Zollkrieg: Die Rede vom Ende des Westens und der Globalisierung ist verfrüht Viele Kommentatoren erinnern an die Smoot-Hawley Tariff Act von 1930, um vor den Konsequenzen von Trumps widersinniger Handelspolitik zu warnen. Trotz allen Parallelen gilt es jedoch die Proportionen zu wahren. Tobias Straumann
- Chinas Weg in eine gelenkte Marktwirtschaft: die Agrarreform 1979–2004 Chinas Agrarreform begann im Verborgenen und gegen Widerstände. Doch das Haushaltsverantwortungssystem setzte sich durch – und wurde zum Ausgangspunkt des größten Wirtschaftsbooms der jüngeren Geschichte. Rainer Land
- Back to the future im Freihandel Das Mercosur-Abkommen wird in Brüssel als strategischer Erfolg gefeiert. Die EU-Kommission präsentiert es als Antwort auf den Protektionismus von US-Präsident Trump. In Wahrheit kommt es viel zu spät; der Deal wirkt wie aus der Zeit gefallen. Eric Bonse