Kommentar

Streit um Sozialstaat: Nicht alles ist Bullshit

| 04. September 2025
IMAGO / photothek

Wer wie Bärbel Bas das Bürgergeld verteidigt, mag gute ökonomische Argumente auf seiner Seite haben. Dass sie bei den Bürgern kaum ankommen, hat mit einem blinden Fleck der Verteidiger zu tun.

Um es gleich zu Beginn klarzustellen: Ja, das Bürgergeld macht nur einen geringen Teil der Sozialausgaben des Bundes aus. Ja, eine Kürzung der Leistungen hätte einen volkswirtschaftlich negativen Effekt, weil sie die Nachfrage schwächt und so den ohnehin mauen Konsum in Deutschland weiter abwürgt. Und ja, das Bürgergeld ist nicht zu hoch, die Löhne sind zu niedrig – sie bewegen sich real auf dem Niveau von vor der Pandemie.

Dennoch: Die hitzige Debatte um den Sozialstaat gäbe es nicht, wenn da keine Probleme wären. Die CDU und das konservative Lager der Medienschaffenden mögen aus sozialökonomischer Sicht viel „Bullshit“ erzählen, um es im Duktus der sozialdemokratischen Arbeitsministerin Bärbel Bas zu sagen.

Aber die Kritik am Bürgergeld berührt einen wunden Punkt, weil sie das Gerechtigkeitsempfinden vieler arbeitenden Menschen aufgreift. Wenn eine nicht zu ignorierende Zahl von Arbeitnehmern das Gefühl hat, dass es in diesem Land nicht mehr gerecht bzw. verhältnismäßig zugeht, gefährdet das die Akzeptanz des Sozialstaats. Laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im August sind 81 Prozent der Bürger für härtere Sanktionen beim Bürgergeld. Selbst unter Menschen, die selbst arbeitslos sind, ist eine knappe Mehrheit für ein härteres Durchgreifen der Arbeitsverwaltung. Sogar unter SPD-Anhängern sind es laut Umfrage 77 Prozent.

Doch wie erklären sich diese Zahlen? Zwar stellt sich die SPD blind und taub, aber es hat seine Gründe, dass die AfD ihre Wahlsiege mittlerweile vor allem in ehemaligen sozialdemokratischen Hochburgen feiert, während die SPD auf historische Tiefstwerte herabsinkt. Zum einen hilft der SPD sicher nicht das in der Bevölkerung weitverbreitete Gefühl, dass sich Arbeit – Stichwort: Lohnabstandsgebot – nicht mehr lohnt.

Das gewerkschaftsnahe WSI hat zwar jüngst vorgerechnet, dass es sich hier um einen Irrglauben handelt: Wer Vollzeit zum Mindestlohn arbeitet, verdient auch nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben deutlich mehr als Bezieher des Bürgergelds. Rund 500 bis 700 Euro pro Monat beträgt der Unterschied, je nach Haushaltskonstellation. Seriös gerechnet ist das allemal – das Institut berücksichtigt nicht nur Regelsätze, sondern auch Wohngeld, Kinderzuschläge und Kindergeld. Formal ist das Lohnabstandsgebot also gewahrt.

Doch so einfach ist die Welt nicht. Zum einen orientieren sich die WSI-Berechnungen an Modellhaushalten. Wer in Ballungsräumen lebt, wo die „angemessenen Mieten“ der Jobcenter wenig mit dem realen Wohnungsmarkt zu tun haben, sieht schnell andere Relationen. Auch sind Wohngeld und Kinderzuschlag nicht garantiert: Anspruch und Höhe hängen von komplizierten Kriterien ab, während die Leistungen unter dem Bürgergeld vergleichsweise verlässlicher abgesichert sind. Eine Alleinerziehende kann knapp über der Einkommensgrenze liegen und fliegt aus dem Wohngeldbezug raus – dann schmilzt der finanzielle Abstand.

Hinzu kommt: Gerechnet wird stets mit Vollzeit. Die Realität im Niedriglohnbereich sieht aber oft anders aus – Teilzeit, Minijobs, prekäre Beschäftigung. Auch hier schmilzt der rechnerische Vorsprung gegenüber Bürgergeld schnell zusammen. Und selbst wenn sich Arbeit objektiv lohnt, bleibt die Frage, ob sich das für die Betroffenen auch subjektiv so anfühlt. Bürgergeldempfänger erhalten ein umfassendes Sicherheitspaket mit Krankenversicherung, Mietübernahme und Befreiungen von Gebühren. Wer hingegen trotz harter Arbeit jeden Cent umdrehen muss, empfindet die Unterschiede nicht unbedingt als „deutlich“.

Das erklärt, warum in der arbeitenden Bevölkerung ein Gefühl der Ungerechtigkeit wächst. Nicht, weil das WSI falsch rechnen würde, sondern weil Zahlen allein die Lebenswirklichkeit nicht erfassen. Wer tagtäglich für 40 Stunden im Niedriglohnjob steht, vergleicht nicht Excel-Tabellen, sondern die eigene Belastung mit der vermeintlichen Absicherung anderer. Die Politik täte also gut daran, weniger Rechenbeispiele vorzulegen und mehr die Frage zu stellen, wie sich Arbeit nicht nur lohnt, sondern auch gerecht anfühlt.

Einwanderung in die Sozialsysteme – ein unterschätztes Pulverfass

Zum anderen gibt es noch den Elefanten im Raum: Die Einwanderung in die Sozialsysteme ist eine nicht mehr wegzudiskutierende Realität. Doch auf Dauer verträgt sich der Wohlfahrtsstaat nicht mit offenen Grenzen und Personenfreizügigkeit.

Die nackten Zahlen sind kein Geheimnis: Ende 2024 bezogen 5,4 Millionen Menschen in Deutschland Bürgergeld, darunter rund 2,6 Millionen ohne deutschen Pass. Das sind fast 50 Prozent aller Empfänger (64 Prozent, wenn man einen Migrationshintergrund hinzuzieht) – ein überproportional hoher und seit 2014 deutlich steigender Anteil. Für den Staat bedeutete das Ausgaben in Höhe von rund 22 Milliarden Euro – knapp die Hälfte der insgesamt 46,9 Milliarden Euro Bürgergeldleistungen.

Wie gesagt: Im Verhältnis zu den gesamten Sozialausgaben, die in Deutschland Jahr für Jahr weit über eine Billion Euro ausmachen, ist dieser Anteil vergleichsweise klein. Renten, Pflege oder Krankenversicherung sind ungleich größere Posten. Rein fiskalisch sind die Aufwendungen also überschaubar.

Doch politische Brisanz entsteht nicht nur in Haushaltsbudgets, sondern in Köpfen. Viele Beschäftigte, die selbst mit Arbeit kaum über die Runden kommen, sehen, dass ein erheblicher Teil der Bürgergeldleistungen an Nicht-Deutsche fließt, die zuvor kaum oder gar nicht in die Sicherungssysteme eingezahlt haben. Verstärkt wird dieser Eindruck durch Schlagzeilen über steigende Missbrauchsfälle, auch wenn sie statistisch selten bleiben.

Hinzu kommt: Migration belastet auch das Gesundheitssystem. Bürgergeld-Empfänger und Migranten mit legalem Aufenthaltstitel sind grundsätzlich krankenversichert, hinzu kommt die Grundversorgung für jene ohne Titel – die Beiträge übernimmt der Staat, wenn die Betroffenen selbst nicht zahlen können. In Ballungszentren und Aufnahmeeinrichtungen für Geflüchtete führt dies zu spürbarem Mehraufwand für Kliniken und niedergelassene Ärzte, nicht zuletzt durch Notfallversorgung, Sprachbarrieren und bürokratische Anforderungen.

Auch das bekommen die Einheimischen zu spüren. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung von 2024 erwarten 78 Prozent der Befragten, dass Zuwanderung zu Mehrkosten für den Sozialstaat führt. 74 Prozent befürchten eine Verschärfung der Wohnungsnot in Ballungsräumen, und 71 Prozent sorgen sich um Probleme in den Schulen.

All das abzutun und stattdessen das Mantra zu bemühen, dass Deutschland von „der Migration“ ja langfristig profitieren würde, nützt der SPD wenig. Im Gegenteil ist es angesichts der aktuellen Migrationsstruktur fraglich, ob sie irgendwann Fachkräftebedarfe deckt und über Steuern oder Sozialbeiträge die Kosten für soziale Leistungen und Integrationsmaßnahmen „ausgleicht“.

Studien des Ifo-Instituts und des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung zeigen, dass die fiskalische Bilanz vieler Zuwanderergruppen negativ ist und nur hochqualifizierte Zuwanderung einen klar positiven Beitrag bringt. Ein Großteil der heutigen Zuwanderer aber kommt aus dem ruralen Raum, mit geringer Bildung und Qualifikation. Anders als die Gastarbeiter der 1950er und 1960er Jahre, die einen relativ gut bezahlten Arbeitsplatz hatten, können sie meist nicht direkt für die Industrie angeworben werden. Viele arbeiten gar nicht oder nur im Niedriglohnsektor.

Das Resultat ist ein schleichender Akzeptanzverlust für den Sozialstaat. Wer den Eindruck hat, dass Solidarität einseitig erfolgt oder ausgenutzt wird, beginnt an der Legitimität des Systems zu zweifeln. Trotz einer positiven Grundhaltung zum Sozialstaat ergab eine Studie der Uni Konstanz, dass mehr als 70 Prozent der Deutschen ein geringes Vertrauen in seine Leistungsfähigkeit und langfristige Finanzierbarkeit haben. Bürgergeldzahlungen an Millionen Nicht-Deutsche werden so zur Projektionsfläche für Sorgen um Fairness, Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Nach einer Forsa-Umfrage sprechen sich ebenso 70 Prozent für strengere Zugangsvoraussetzungen beim Bürgergeld aus.

Es wäre ein Fehler, diesen Unmut als bloße Stimmungsmache abzutun. Auch wenn die tatsächlichen Kosten im Vergleich zu anderen Sozialleistungen gering erscheinen, birgt das Thema Sprengkraft. In einer Gesellschaft, die ohnehin zwischen Wohlstandsangst, Migrationsdebatte und Vertrauensverlust in die Institutionen zerrieben wird, kann aus diesem Pulverfass schnell ein Flächenbrand werden.

Wollen CDU und SPD den weiteren Aufstieg der AfD stoppen und den Fortbestand ihrer Koalition sichern, brauchen sie einen für beide Seiten schmerzhaften Kompromiss – der sich am Ende aber als Win-Win-Situation erweisen könnte: Die SPD muss der CDU Konzessionen abringen – für einen angemessenen und dynamischen Mindestlohn und einen Sozialstaat, der nicht kahlgeschlagen sondern zielgenauer gestaltet wird.

Im Gegenzug muss die SPD – auch im Eigeninteresse – der CDU bei ihrem Ziel, die Migration zu begrenzen und zu regulieren, endlich entgegenkommen. Weil überfordernde Migration die Ungleichheit in all ihren herben Konsequenzen verstärkt. Und weil Deutschland nicht nur humane Verpflichtungen in der Welt, sondern auch gegenüber den eigenen Bürgern hat. Nur wenn beides in Balance gebracht wird, lassen sich der Sozialstaat – und mit ihm die Sozialdemokratie – retten.