Chevron und der kafkaeske Fall Donziger
Der Ölkonzern Chevron wird vom Beklagten zum Kläger, der Bundesrichter besitzt Aktien von Chevron, die Richterin ist eine Vorsitzende der von Chevron gesponserten Federalist Society – und Steven Donziger hat ein Problem.
Es klingt wie das gute Ende einer dramatischen Geschichte: Gerade hatte die UN-Arbeitsgruppe zu willkürlichen Inhaftierungen (UN working group on arbitrary detention) die US-Regierung dazu aufgefordert, den Anwalt für Menschenrechte Steven Donziger sofort freizulassen und ihn für das zugefügte Unrecht zu entschädigen. Doch es handelte sich nur um eine Etappe. Fast zeitgleich verurteilte die Richterin einer privaten Anwaltskanzlei, Loretta Preska, relativ unbeachtet von der Weltöffentlichkeit, Donziger nach über zwei Jahren Hausarrest wegen krimineller Missachtung des Gerichts zur Höchststrafe von sechs Monaten Gefängnis. Die Zeit des Hausarrestes wird nicht angerechnet. Man müsse Donziger mit der sprichwörtlichen Dachlatte zwischen den Augen Respekt vor dem Gesetz einbläuen, so die Richterin in ihrer Urteilsverkündung.
Was war passiert – und wie kann ein Anwalt für Menschenrechte wie Steven Donziger in eine solche Lage kommen?
Kennt man der Hintergrund dieser Geschichte, dann ist es noch nicht einmal überraschend, dass die Richterin das Verdikt der aus fünf angesehenen Juristen aus mehreren Ländern bestehenden UN-Arbeitsgruppe ignorierte. Wie die Arbeitsgruppe in ihrer Stellungnahme feststellt, tut dies die US-Regierung seit dem Beginn von Trumps Präsidentschaft 2017 ebenfalls. Sie befindet sich damit in bester Gesellschaft mit den Regierungen Großbritanniens und Schwedens, die im Jahr 2015 ebenfalls ein entsprechendes Urteil der Arbeitsgruppe im Fall Julian Assange komplett übergingen.
Alles beginnt mit einem lateinamerikanischen Tschernobyl
Als der frischgebackene Harvard-Absolvent Steven Donziger zu Beginn der 1990er Jahre den Regenwald Amazoniens besuchte, wurde er Zeuge des „Tschernobyls Lateinamerikas“ – einer der schlimmsten Umweltkatastrophen der Zeitgeschichte. Doch während die radioaktive Verseuchung in der Ukraine damals Folge eines Unfalls war, handelte der Verursacher Chevron (damals Texaco) im Amazonas im wahrsten Wortsinn mit berechnendem Kalkül.
Nach jahrelangem Rechtsstreit befand im Februar 2011 ein Gericht im ecuadorianischen Lago Agrio in einem bahnbrechenden Urteil den Energiekonzern für schuldig, schwere Umwelt- und Gesundheitsschäden im Amazonasregenwald und den Gemeinden verursacht zu haben, die im Zeitraum von 1964 bis 1992 in der Region lebten.
Unter anderem stellte das Gericht fest, dass Chevron über Jahrzehnte hinweg absichtlich Milliarden Liter Ölabfälle auf das Land der Ureinwohner abgeleitet hatte, um Kosten zu sparen. Die Verschmutzung floss ungehindert in Flüsse und Bäche, die von der indigenen Bevölkerung als Trinkwasser genutzt werden. Berichten zufolge traten verstärkt Magen-, Leber- und Kehlkopfkrebs sowie Leukämie bei Kindern in der Region auf. Chevron wurde zur Zahlung von 19 Milliarden Dollar zur Beseitigung der Schäden verurteilt, die jedoch später auf 9,4 Milliarden Dollar reduziert wurden.
Das Urteil gegen Chevron wurde laut Amnesty International inzwischen in der Sache und zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen von drei Berufungsgerichten in Ecuador und drei weiteren in Kanada, darunter die höchsten Gerichte beider Länder, bestätigt.
Donziger war einer der wichtigsten Anwälte, der in dem symbolträchtigen Fall die Opfer, etwa 30.000 indigene Bewohner und Kleinbauern, im Amazonasgebiet vertrat. Opfer, die jedoch bis heute keinen Schadensersatz bekommen haben – denn Chevron ging zum Gegenangriff über.
Ein übermächtiger Gegner
Der Chevron-Konzern verkaufte seinen gesamten Besitz in Ecuador und verhinderte gleichzeitig den Zugriff der Geschädigten auf den Firmenbesitz in anderen Ländern. Auch wenn die Geschädigten qua Gerichtsurteil dazu berechtigt waren, ermöglicht es in der Praxis die rechtliche Struktur, die der internationale Konzern über Hilfsunternehmen und Holdinggesellschaften aufgebaut hat, sich seiner Verantwortung und der Justiz zu entziehen.
Mehr noch: Chevron nutzte eine Klausel vieler Freihandelsabkommen, das Investor-Staat-Schiedsverfahren (ISDS), und verklagte Ecuador vor dem Ständigen Schiedsgerichtshof in Den Haag auf Schadensersatz: Das Land habe gegen den bilateralen Investitionsvertrag zwischen Ecuador und den Vereinigten Staaten von 1993 verstoßen, so die Behauptung. Und Chevron bekam im Jahr 2018 recht. Grundlage ist eine im Jahr 1998 geschlossene Vereinbarung zwischen Chevron und der Regierung Ecuadors über „die Durchführung von Umweltsanierungsarbeiten und die Befreiung von Verpflichtungen", mit dem die Regierung Texaco "für immer" von jeglicher Verantwortung entbindet.
Als eine scharfe Waffe gegen Umweltschützer sollte sich das Gesetz über organisierte Kriminalität und korrupte Organisationen, genannt "RICO", erweisen. Im Februar 2011 reichte Chevron eine Klage beim US-Bezirksgericht für den südlichen Distrikt von New York gegen alle Kläger des Amazonien-Falls, alle ihre Anwälte einschließlich Steven Donziger, die wichtigsten die Gemeinden vertretenden Nichtregierungsorganisation sowie eine Reihe von Experten und anderen Unterstützern ein. Chevron beschuldigte die Angeklagten, während des Prozesses in Ecuador betrügerische Methoden und Mittel der Korruption eingesetzt zu haben.
Damit drehte der Konzern den Spieß um, und suchte zu beweisen, die Kläger hätten aus betrügerischen Motiven die behaupteten Umweltschäden erfunden, um dem Konzern Schaden zuzufügen. In einem solchen Verfahren wird jedes Schriftstück, jede Äußerung, jede finanzielle Transaktion, jede Beziehung der auf diese Weise Angeklagten nach dem Motto „Dreck findet sich immer“ akribisch überprüft. Für die Rechtsvertreter der Konzerne sind solche Prozesse eine Goldgrube, ihnen stehen im Gegensatz zu den Überprüften nahezu unbegrenzte Mittel zur Verfügung.
Eine solche Klage ist kein Einzelfall. Es zeichne sich hier ein „beunruhigender neuer Ansatz“ für strategische Klagen gegen die Öffentlichkeit (SLAPP) ab, um "Interessengruppen und Aktivisten einzuschüchtern", stellte der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit Maina Kiai im Jahr 2017 besorgt fest.
Zwar lehnte der südliche Distrikt von New York eine öffentliche Anklage ab, aber das Zivilverfahren zog sich unter Vorsitz des Bundesrichters Lewis Kaplan über Jahre hin. 2014 entschied dieser, dass Donziger Handlungen begangen oder sich an Handlungen beteiligt habe, die unter die Definition von "Erpressung" fallen, einschließlich "erpresserischer" Bemühungen, Druck auf Chevron durch "prominente Fürsprache", Lobbyarbeit bei der Regierung, eine Deinvestitionskampagne und eine von NGOs betriebene Medienstrategie.
Inzwischen wurde laut Guardian bekannt, dass Chevron den ecuadorianischen Richter Alberto Guerra und seine Familie in die USA umsiedelte, dessen Krankenversicherung und ein Auto bezahlte und sich mehr als fünfzig Mal mit ihm traf, bevor dieser aussagte, dass Donziger ihn in einem Restaurant in Quito zu bestechen versucht habe. Inzwischen hat Guerra zugegeben, dass seine Aussage teilweise übertrieben und unwahr gewesen ist.
Doch Bundesrichter Kaplan untersagte die Vollstreckung des ecuadorianischen Urteils in den USA und beschlagnahmte präventiv jeden "Gewinn", den Donziger als Anwalt aus der Vollstreckung des Urteils erzielen könnte. Kaplan ordnete weiter an, dass Donziger Chevron alle Vermögenswerte zu übertragen hätte, die er besaß oder später erhalten könnte und die sich auf das ecuadorianische Urteil zurückführen ließen. Zudem verlor Donziger seine Anwaltslizenz.
Im Jahr 2018 erhob Chevron eine weitere Klage gegen Donziger, und der Richter Kaplan forderte diesen auf, ihm sein Laptop und sein Mobiltelephon auszuhändigen. Gegen diese Aufforderung legte der Anwalt Berufung ein mit der Begründung, er könne die dort gespeicherten, vertraulichen Daten nicht preisgeben, konzedierte „zivile Missachtung des Gerichts“ und bat um eine einvernehmliche Regelung zum Schutz der Daten. Für Kaplan war diese Berufung jedoch Anlass, eine Anklage wegen krimineller Missachtung des Gerichtes einzuleiten.
Da sich der Staatsanwalt des südlichen Distrikts von New York weigerte, ein solches Verfahren überhaupt zu eröffnen, beauftragte der Bundesrichter eine private Anwaltskanzlei mit der Anklagevertretung auf Staatskosten. Gegen die Gepflogenheit, Richter nach dem Zufallsprinzip auszuwählen, beauftragte Kaplan die Richterin Loretta Preska mit dem Vorsitz.
Preska zog Donzigers Pass ein und verfügte wegen Fluchtgefahr Hausarrest, obwohl er seit 25 Jahren mit seiner Frau und seinem Sohn in einem eigenen Appartement in Manhattan wohnt und völlig unbescholten ist. Seit dem 6. August 2019 trägt er eine Fußfessel und darf seine Wohnung nur in Ausnahmefällen wie Arzt- und Anwaltstermine, Schulangelegenheiten seines Sohnes und mit Genehmigung verlassen. Gleichzeitig wurde die Anklage zum Bagatellfall heruntergestuft, mit der Konsequenz, dass keine Jury den Fall entscheidet, sondern nur die Einzelrichterin.
Ein rein juristisches Prozedere?
All diese Vorfälle sind in ihrer völligen Unverhältnismäßigkeit ohne Beispiel. Das kritisieren auch die UN-Juristen mit Blick auf den Hausarrest, der inzwischen schon viermal so lang gedauert hat wie die mögliche Höchststrafe.
Steven Donziger konstatiert in seinen zahlreichen Interviews, die er online von seiner Wohnung aus gibt, er werde direkt von Chevron verfolgt. Eine nähere Betrachtung der Verbindungen der Beteiligten legt das nahe, auch wenn eine Expertin für Umweltrecht an der Universität von Indiana Verständnis für die Lage von Chevron äußert und meint, dass daraus nicht automatisch Voreingenommenheit folge. Auch Chevron verlautbart, es handele sich um ein rein juristisches Prozedere, auf das der Konzern keinen Einfluss nehme.
Jedoch: der unter Clinton bestellte Richter Lewis Kaplan besitzt Aktien der Firma Chevron, Richterin Loretta Preska ist eine der Vorsitzenden der von Chevron gesponserten Federalist Society, die Anklägerin Rita Glavin war bis zum Prozess Partner für die mit der Anklage beauftragten Kanzlei Seward & Kissel, die Chevron zu ihren Klienten zählt. Von Chevron mit einem Stundenlohn von 1.300 US-Dollar bezahlte Anwälte arbeiten der Anklagevertretung zu und treten als Prozesszeugen auf. Auch das Verhalten und viele Äußerungen der beteiligten Richter zeigten Voreingenommenheit, stellt die UN-Gruppe fest.
Donziger hat gegen das Urteil Berufung eingelegt, steht weiterhin unter Hausarrest und hofft auf seine baldige Freilassung. Seine Anwälte haben an Biden‘s Department of Justice und den obersten Staatsanwalt AJ Merrick B. Garland appelliert, die Anklage zu übernehmen. So ist Donziger wohl der erste Bürger, der die Behörde darum bittet, ihn anzuklagen.
Auch die indigenen Bewohner kämpfen mit weltweiter Unterstützung von ehemaligen Bundesrichtern, Nobelpreisträgern, Juristen, Amnesty International oder Pink-Floyd-Musiker Roger Waters weiter. Das Ergebnis dieses Kampfes David gegen Goliath ist offen.
Steven Donziger hofft, dass der Fall, den Chevron zur Abschreckung von Umweltaktivisten initiiert habe, vor den Augen der Weltöffentlichkeit am Ende als PR-Desaster für den Konzern nach hinten losgeht.