Russland und die Levante

Der Westen im Zangengriff

| 15. November 2023
@midjourney

Das Pogrom der Hamas am 7. Oktober muss auch im Kontext des Ukraine-Krieges gesehen werden. Russlands Verbündete haben eine zweite Front eröffnet, die die westliche Allianz schwächt. 

1996 veröffentlichte der US-amerikanische Politologe Samuel Huntington das Buch Clash of Civilzations. Damals, kurz nach dem ökonomischem Kollaps des Comecon und dem politischem Ende des real existierenden Sozialismus war dies die Antwort auf die These seines Kollegen Francis Fukuyama, der 1992 in  The End of History and the Last Man das Ende der Geschichte herbei fabulierte. Huntington entwarf ein Szenario, in dem ein Bündnis des christlich-orthodox geprägten Russlands mit dem atheistischem China und dem theokratischem Mullah-Regime des Iran entworfen wurde. Zwar grenzen beide Staaten an Russland, hatten damals mit dem Land, das sich europäisch versteht, jedoch keine ideologische Berührung.

Im Rückblick stellt sich fast die Frage, ob Huntingtons Entwurf nun kluge Analyse war oder eine selbsterfüllende Prophezeiung, also erst Vorurteile in die Welt setzte, die seine Erwartung oder Befürchtung dazu brachte, sich zu erfüllen. Schaut man auf die Außenpolitik der USA im Folgenden, so scheint letzteres eher plausibel.

1997 tat Zbigniew Brzezińskis geopolitisches Traktat The Grand Chessboard ein übriges. Das Vorwort der deutschen Ausgabe, nun mit dem Titel Die einzige Weltmacht, schrieb Hans-Dietrich Genscher, ein bundesdeutscher Außenminister a.D. Das Schachbrett bezeichnete Eurasien, in dessen ukrainischen Kernland sich die Schlacht entscheide, wer künftig als Hegemon die Welt anführe. Jahre später korrigierte sich der Autor angesichts dessen, was er losgetreten hatte.

Heute sitzt der Westen in derselben Falle, die Brzeziński der UdSSR mit der Unterstützung muslimischer Terroristen in Afghanistan einst lustvoll bereitete. Der verlorene russische Afghanistan-Feldzug war neben der Reaktorkatastrophe im ukrainischem Tschernobyl eine der Ursachen, die das Ende des Sowjetimperiums einläuteten. „Was ist wohl bedeutender für den Lauf der Weltgeschichte? […] Ein paar verwirrte Muslime oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?“ sagte Brzeziński. Seiner Argumentation folgte Hillary Clinton, US-Außenministerin noch während der Präsidentschaft Barack Obamas, als sie in Libyen erbeutete Waffen nach Syrien verschiffen ließ und damit den „Islamischen Staat“ stärkte.

Die Kündigung diverser Abrüstungsverträge seitens der USA und die vielen NATO-Osterweiterungen taten ein übriges. Bereits kurz nach dem sowjetischem Zusammenbruch arbeiteten die USA weiter daran, Russland zu schwächen. Dies empörte Jeffrey Sachs, heute neben John Mearsheimer der profilierteste US-Dissident in Fragen der Ukraine, der damals als junger Weltbank-Ökonom die wirtschaftliche Sabotage des jungen Staates miterleben musste, die die Bevölkerung in Elend und Hunger stürzte.

Die strategischen Ziele der USA dürften auch unter US-Präsident Jo Biden unverändert geblieben sein, dessen Sohn in der Ukraine väterlich protegiert als Gas-Kaufmann agierte und dann wegen Korruption von einem ukrainischem Staatsanwalt verfolgt wurde. Biden brüstete sich öffentlich damit, als Vizepräsident Obamas die Einstellung der Verfolgung und Entlassung des Staatsanwalts erpresst zu haben, indem er in Kiew die Verweigerung eines Kredits androhte.

Die Kriegsziele der USA sind, so ist hinter den Kulissen zu hören, das Auseinanderbrechen der Vielvölkerstaaten Russland und China, also deren ethnische Aufspaltung, propagiert als nationale Befreiungen. 

Die amerikanischen Bemühungen blieben nicht unbemerkt. 2006 veröffentlichte der Publizist und vormalige Vietnamkriegs-Korrespondent Peter Scholl-Latour das Buch Russland im Zangengriff. Auch er widmete sich der Ukraine, hob die Begeisterung der Bevölkerung beim Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1941 hervor, die sich ihre nationale Befreiung von polnischer und sowjetrussischer Fremdherrschaft versprach und bei  Judenpogromen willig kollaborierte, teilweise diese auch erst initiierte. Neben der berüchtigten SS-Division Galizien, in deren Tradition sich das Asow-Regiment heute sieht, massakrierten ukrainische Milizen, die intern Juden und Minderheiten wie Polen verfolgten sowie der Wehrmacht weitere Bataillone Hilfswilliger beim Russlandfeldzug stellten. Die OUN kämpfte noch bis Mitte der fünfziger Jahre gegen die Rote Armee. Auf der anderen Seite kämpften im zweiten Weltkrieg ukrainische Einheiten auch in der Roten Armee.

Der Eklat in Kanada, als dort ein 98-jähriger SS-Veteran im Beisein Selenkyjs mit stehenden Ovationen im Parlament geehrt wurde, ist eines von vielen Beispielen von Geschichtsvergessenheit.  Antisemitismus ist virulent. Die sonst verdienstvolle Greta Thunberg missbraucht die Klimabewegung, indem sie einen „Friday for Future“ Gaza widmet, um einem „Genozid“ entgegenzutreten. Mit ihrer Multiplikatorwirkung unter Jugendlichen weltweit ist Greta gefährlich.

Derweil äußerte sich der Deutsche Bundestag noch vor dem Pogrom am 7. Oktober zum „Holodomor“, die große Hungerkatastrophe in der Ukraine 1932/33, die nunmehr als Völkermord anerkannt wurde und dessen Leugnung nun strafbewehrt ist. Der Abgeordnete Gregor Gysi sah in seiner Rede vor der Abstimmung darin eine Relativierung der Shoah und verweigerte die Zustimmung. Der Georgier Stalin griff mit der UdSSR-weiten Zwangskollektivierung, die zum Hungertod von Millionen führte, die frühe revolutionäre Politik Lenins wieder auf, die dieser mit der NEP (Neue Ökonomische Politik) gemildert hatte. Auch Lenin hatte zuvor tragische Misserfolge in Russland zu verantworten. Heute erfährt das Grauen eine nationale Instrumentalisierung durch ukrainische Nationalisten.

Die Frage, ob der Westen intervenierte, um nach dem Abzug der Russen aus der Nordukraine im März 2022 den Krieg zu verlängern, wird kontrovers diskutiert. Am ehesten, wenn auch nur mittelbar, überzeugt die Äußerung des damaligen Ministerpräsidenten Boris Johnson, der sich im Interview darüber empörte, dass anfangs die Deutschen den russischen Einmarsch zwar als Katastrophe ansahen, es aber dabei belassen wollten, ohne sich zu engagieren. Die Fernsehaufnahmen seines Besuchs in Kiew im März blieben im Gedächtnis: Er geht gemeinsam mit Selenskyj durch die menschenleere Stadt, als unvermittelt ein einsamer, einen Rucksack tragender junger Mann „BoJo, BoJo“ zu schreien beginnt, der Brite auf ihn zugeht, dessen Hand schüttelt, während Selenskyj feixend neben beiden steht.

In denselben frühen Märztagen besuchte auch Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission und vormalige Bundesverteidigungsministerin, Kiew.

Es heißt, die Massaker von Butscha und Irpin hätten die Ratifizierung eines Friedensvertrages verhindert, deren Paraphen Putin beim Besuch einer afrikanischen Delegation in die Moskauer TV-Kameras hielt. Der militärische Überfall selbst ist ein Verbrechen, die jeweiligen individuellen Gräueltaten der Soldaten erschreckend. Bei dem Massaker in Butscha hat es den Anschein, dass Provokateure der Wagner-Gruppe und des militärischen Geheimdienstes GRU die Friedensverhandlungen in Belarus und der Türkei hintertrieben. Einwohner, die zuvor von Russen verpflegt worden waren, berichteten, dass diese jungen Soldaten nach dem Eintreffen älterer sie vor diesen warnten. Das wahllose Morden von Zivilisten und Zurschaustellen ihrer Leichen in den Straßen, die nicht begraben werden durften, war Terror. Die Bilder, die zeigen, wie eine Mutter die Leiche ihrer zehnjährigen Tochter birgt, die sie mit einem Türblatt im Garten abgedeckt hatte, bleiben eingebrannt.

Dmitri Utkin und Jewgeni Prigoschin, die mit dem Marsch der Wagner-Söldner auf Moskau den Fall Putins anstrebten, sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Fraglich bleibt, ob ihr Terror dem Westen und der ukrainischen Führung zu einer Zeit, als Mariupol noch nicht gefallen war und Zehntausende noch lebten, als Vorwand diente, den Krieg zu verlängern. Ist dem so, so haben die westlichen Akteure ebenso viel Blut an ihren Händen wie Putin, und die pöbelnden Ausfälle eines Botschafters Andreij Melnyk, der nurmehr auf die Erfüllung von Versprechen drängte, würden zumindest plausibler.

Der Verlauf des Ukraine-Krieges änderte fragile Gleichgewichte, und so bildeten sich neue politische Fronten aus, die sich mit dem Pogrom des 7. Oktober endgültig enttarnen.

Mit der Aufgabe des russischen Schutzes der Armenier durch seine Friedenstruppen in Berg-Karabach ebnete Wladimir Putin den Weg zu einem Bündnis mit der Türkei. Die ethnischen Säuberungen wurden in unseren Medien seltsam nonchalant notiert. Die Vorfahren jener Armenier, die nun von Aserbaidschanern mit türkischer Hilfe vertrieben wurden, waren die ersten Opfer eines Genozids im 20. Jahrhundert, auf den sich Hitler bei der Planung der Endlösung explizit bezog. China gab den Friedensstifter und beendete mit seinem Verhandlungsgeschick den proamerikanischen gegen den Iran gerichteten Stellvertreterkrieg im Jemen, auf dass perspektivisch eine Allianz aus Persern und Saudis entstehen mag.

Recep Tayyip Erdogan etabliert sich als neuer Führer der islamischen Welt, hofiert die Hamas und bedroht Israel mit der zweitstärksten NATO-Armee. Seine Partei, die AKP, wiederum findet ihren stärksten Rückhalt vor allem in Deutschland bei auslandstürkischen Wählern. Auch der Iran bedroht Israel, das sich solchen Übermachten nur durch seine Kernwaffen erwehren wird. Die Hamas, die aus Israel Geiseln verschleppte und in Gaza die gesamte Bevölkerung als ihre Geisel instrumentalisiert, will ganz Palästina judenfrei, das heißt, den Staat Israel austilgen.

Der Schaden ist angerichtet. Urheber des Dilemmas sind nicht nur Putin und die Despoten der Levante, sondern auch der clowneske BoJo, den seine eigenen Tories aus dem Amt jagten, der greise Jo Biden mit seiner familiären Ukraine-Verstrickung, wahrscheinlich Ursula von der Leyen und wohl auch die junge Bundesaußenministerin, die angelsächsisch transatlantisch und nicht paneuropäisch tickt und dabei eine olivgrün gewendete Partei hinter sich weiß.