Die Zeit läuft gegen die Ukraine
Die Stimmen für Friedensverhandlungen werden lauter. Denn die Perspektiven für die Ukraine verdüstern sich, je länger Verhandlungen hinausgezögert werden, sagen Beobachter.
Die Lage in der Ukraine ist düster. Die Sommeroffensive brachte nicht den erhofften Durchbruch zum Azowschen Meer und endete wieder im Stellungskrieg. Die ukrainische Armee ist ausgedünnt und erschöpft, wie viele Berichte darlegen. Neue Soldaten sind schwer zu rekrutieren, sodass nun auch Studenten und Frauen mobilisiert werden müssen. Im Interview mit The Economist erklärte der ukrainische Oberbefehlshaber General Saluschnyi, seiner Armee fehlten die Waffen, um die russische Seite wirksam in die Enge treiben zu können.
Während die Ukraine vollständig auf westliche Unterstützung angewiesen ist, müsse sich Putin keinerlei Sorgen machen, ob und wie lange er den Krieg weiterführen kann – denn die russische Wirtschaft sei wider Erwarten keineswegs eingebrochen. Die Rüstungsindustrie habe ihren Output erhöht, berichtete am 16. November das amerikanische Wall Street Journal. Es sei höchste Zeit, „magisches Denken“ aufzugeben, heißt es dort. Der Westen müsse sich dieser harten Realität stellen, forderte am gleichen Tag auch Svitlana Morenets im britischen Spectator. Unter Berufung auf den österreichischen Militärhistoriker Markus Reisner erklärt sie, die Ukraine und der Westen hätten nur noch die Wahl zwischen der vollständigen Mobilisierung und Aufrüstung in Vorbereitung auf eine Offensive im kommenden Jahr oder der Einleitung von Verhandlungen, was für die Ukraine angesichts ihrer momentanen Schwächeposition den Verlust ihrer Staatlichkeit bedeuten könne. Noch weiter ging am 17. November Richard Hass in Foreign Affairs, der die Biden-Administration dazu aufforderte, die Ukraine zu sofortigen Friedensverhandlungen zu drängen.
Bisher gibt es jedoch keine über militärische Unterstützung hinausgehende Initiative westlicher Politiker. Angesichts des in den USA wachsenden Widerstands gegen die Unterstützung der Ukraine scheinen nun die europäischen Staaten mehr oder weniger widerwillig in die Bresche zu springen. Insbesondere Deutschland wird die Militärausgaben für die Ukraine verdoppeln und damit nach den USA zum zweitgrößten Unterstützer des kriegsgebeutelten Landes werden. Laut SWR3 (14.11.2023) räumt Verteidigungsminister Pistorius allerdings ein, dass Europa angesichts unzureichender industrieller Kapazitäten nicht in der Lage sei, im geplanten Zeitraum die anvisierte Munitionsmenge zu liefern.
Die USA argumentieren, es sei an Präsident Selenskij, über mögliche Verhandlungen zu entscheiden. Der gesteht zwar die Angewiesenheit seines Landes auf westliche Unterstützung ein, setzt jedoch weiterhin auf Sieg und wirbt für einen maximalistischen 10-Punkte Friedensplan, der für Russland indiskutabel sein dürfte. Ebenso unrealistisch ist die Forderung von Bundeskanzler Olaf Scholz nach einen völligen Abzug russischer Truppen aus der Ukraine als Vorbedingung für Verhandlungen.
Forderungen nach Diplomatie
Anders die Staaten des Globalen Südens. Sie fordern – auch angesichts der gefährdeten Lebensmittel- und Energieversorgung – wiederholt eine Verhandlungslösung, so etwa im August die BRICS auf ihrem Gipfeltreffen in Johannesburg. Obgleich sie den russischen Einmarsch in die Ukraine mehrheitlich verurteilten, beteiligten sie sich weder an den Sanktionen noch an der diplomatischen Isolierung Russlands.
Im Westen erheben zivilgesellschaftliche Initiativen wiederholt die gleiche Forderung, so zum Beispiel Nikolai Petro und Ted Snider Ende Oktober. Anfang September hatten Professor Dr. Peter Brandt, Professor Dr. Hajo Funke, General (ret.) Harald Kujat and Professor Dr. h. c. Horst Teltschik der Bundesregierung einen ausführlichen Verhandlungsvorschlag vorgelegt. Gemeinsam mit anderen Persönlichkeiten rufen die Autoren zu einer Demonstration am 25. November in Berlin auf. Es sei „höchste Zeit für eine Friedenspolitik in der Ukraine, in Europa und weltweit“, schreiben sie. Man müsse „die Rutschbahn in Richtung dritter Weltkrieg und in ein soziales, ökonomisches und ökologisches Desaster stoppen.“
Alle erwähnten Initiativen argumentieren, dass die Fortführung des Ukraine-Krieges weder moralisch noch sachlich zu rechtfertigen sei. Die Ukraine sei wirtschaftlich ruiniert, die Bevölkerung stark geschrumpft. Auch Russland könne angesichts der eigenen Verluste vom Frieden nur profitieren, so die Befürworter der Verhandlungen. Zumal Russland mit einem Friedenschluss auch Ansehen bei den Staaten des Globalen Südens gewinnen könne, mit denen das Land wichtige Partnerschaften unterhält und entwickelt. Auch Europa leide wirtschaftlich stark unter dem Krieg und einer zunehmend unzufriedenen Bevölkerung, so das Argument. Petro und Snider zufolge können die Vereinigten Staaten unmöglich wollen, dass Russland immer stärker in Chinas Arme getrieben wird. Statt Russland zu isolieren, habe der Krieg die wirtschaftliche und politische Multipolarität vorangetrieben und die strategische Partnerschaft zwischen Russland und China gestärkt.
Verhinderte Friedenschancen?
Petro und Snider glauben, dass eine Verhandlungslösung für den Ukraine-Krieg am politischen Willen vor allem der westlichen Seite scheitere. Sie erinnern daran, dass es die ukrainische Führung war, die die Umsetzung des Minsk 2 Abkommens verhinderte. Das bestätigte unlängst der ehemalige ukrainische Präsident Petro Petroschenko. Die westlichen Staaten duldeten dies, trotz der Verabschiedung des Abkommens im UN-Sicherheitsrat. Auch das räumten die Mit-Architekten des Abkommens Angela Merkel und Francois Hollande sowie NATO-Chef Stoltenberg vor kurzem ein.
Funke, Kujat und der ehemalige Diplomat Michael von der Schulenburg argumentieren in einer kürzlich veröffentlichten Analyse ebenfalls, dass schon im Frühjahr 2022 die Chance auf einen Verhandlungsfrieden zum Greifen nahe war, jedoch durch das Einschreiten westlicher Regierungen zunichte gemacht wurde. Selenskij hatte den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennet und Altbundeskanzler Gerhard Schröder um Vermittlung mit Putin gebeten. In der Folge gab es mehrere Verhandlungsrunden, zuletzt in Istanbul. Als Ergebnis legte in der dritten Märzwoche 2022 die ukrainische Seite der russischen ein 10-Punkte-Papier als Basis für Friedensverhandlungen vor. Das berichteten nicht nur Bennet in einem Interview im Frühling 2023, sondern vor kurzem auch Schröder und im April 2022 der damalige türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu. Putin zeigte diesen Plan einer afrikanischen Politiker-Delegation zum Beweis, dass nicht er es sei, der diplomatische Lösungen verhindere.
Der Ablauf der Ereignisse, wie er von Funke et. al. dargestellt wird, zeigt: Nach anfänglicher Unterstützung der Verhandlungen wurden sich die westlichen Staatschefs bereits am 24. März auf einem NATO Gipfel unter Anwesenheit Joe Bidens darüber einig, dass ein sofortiger Friedensschluss nicht in ihrem Interesse sei. Noch am 27. März verteidigte Selenskij den Plan, ebenso wie auch Putin am 28. März. Am 29. März veröffentlichte die westliche Seite jedoch die Forderung nach einem vollständigen Abzug russischer Truppen als Vorbedingung für weitere Verhandlungen. Das endgültige Aus kam dann von Boris Johnson am 5. April, der bei einem Besuch in Kiew deutlich machte, dass der Westen unter den gegebenen Umständen nicht bereit sei, der Ukraine die nach dem 10-Punkte-Plan vorgesehenen Sicherheitsgarantien zu geben.
Am gleichen Tag schrieb die Washington Post, dass es einigen NATO-Staaten zufolge besser sei, wenn die Ukrainer weiterkämpften und stürben, als einen Frieden zu erreichen, der zu früh käme oder für Kiew und das übrige Europa zu hohe Opfer fordere.
Bei seinem zweiten Besuch in Kiew am 25. April 2022 sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin dann, die USA wollten die Gelegenheit nutzen, um Russland militärisch und wirtschaftlich dauerhaft zu schwächen. Nach Angaben der New York Times sei es der US-Regierung dabei nicht mehr um einen Kampf um die Kontrolle der Ukraine gegangen, sondern um einen Kampf gegen Moskau im Zuge eines neuen Kalten Krieges. Bei einem von ihm einberufenen Treffen der Verteidigungsminister der NATO-Mitglieder und anderer Länder am 26. April 2022 erklärte der Pentagon-Chef den militärischen Sieg der Ukraine über Russland zum strategischen Ziel der NATO und wurde darin von seinen europäischen Kolleginnen und Kollegen vorbehaltlos unterstützt.
Etwa eineinhalb Jahre später lässt sich konstatieren, dass sich die USA und Europa verschätzt haben; weder die Ziele der Ukraine noch die der NATO-Staaten wurden bisher erreicht. Nach Einschätzung des Politologen und Zentralasienexperten Eugene B. Rumer sei Putins Macht paradoxerweise durch den gescheiterten Aufstand von Jewgeni Prigozhin gestärkt worden: „Die Unterstützung der Bevölkerung für den Krieg ist nach wie vor solide, und der Rückhalt in der Elite für Putin ist nicht gebrochen.”
Eckpunkte einer möglichen Verhandlungslösung
Wie könnte eine Verhandlungslösung aussehen? Im Grunde geht es um drei grundsätzliche Fragen, zu denen schon bei den Istanbul-Verhandlungen Lösungsansätze gefunden wurden, wie Petro und Snider darlegen:
- Garantie der Souveränität und des wirtschaftlichen Potenzials des ukrainischen Staates.
Heute müsse die Ukraine anders als vor dem Krieg territoriale Zugeständnisse machen, die allerdings umfassender wären als die noch 2022 besprochenen. Die Krim und der Donbas seien aufzugeben, für die von Russland neu annektierten Oblaste Kherson and Zaporizhzhia müssten neue Regelungen gefunden werden. Russland sollte im wirtschaftlichen Interesse der Ukraine ausdrücklich zusichern, dass es keine weiteren Gebiete einnehmen wird.
- Garantie der legitimen Sicherheitsinteressen Russlands und der Ukraine.
Hier ginge es um die Umsetzung der auf der Außenministertagung in Kopenhagen am 6. und 7. Juni 1991 festgelegten eigenen Grundsätze der NATO, nach denen die NATO "keinen einseitigen Vorteil aus der sich verändernden Lage in Europa ziehen", nicht "die legitimen Interessen" anderer Staaten "bedrohen" oder sie "isolieren" und nicht "neue Trennlinien auf dem Kontinent ziehen" soll.
Bei den Verhandlungen in Istanbul 2022 versprach die Ukraine beispielsweise, „keine NATO-Mitgliedschaft anzustreben". Im Gegenzug stimmte Russland alternativen Sicherheitsvereinbarungen zu, die unter anderem vorsehen, dass die Ukraine die Instrumente erhält, die sie benötigt, um sich nach dem „israelischen Modell" zu verteidigen, und die bilaterale Sicherheitsgarantien von einer Reihe von Ländern umfassen, darunter möglicherweise die Vereinigten Staaten, Russland, das Vereinigte Königreich, Frankreich und China.
Im Sinne einer europäischen Friedensordnung wären eine entmilitarisierte Pufferzone einzurichten und Verhandlungen über eine gegenseitige strategische Rüstungsreduzierung aufzunehmen
- Rechtsschutz für die russischsprachige Bevölkerung im Donbas und die Ukrainer in den neuen russischen Gebieten.
Ausblick
Petros und Sniders Fazit: Russland könne niemals von der Verantwortung für Tausende Kriegsopfer und die Zerstörungen freigesprochen werden. Besonders tragisch für die Ukraine sei jedoch, dass viele dieser Verluste hätten vermieden werden können, wenn der Westen die zum Greifen nahe Einigungschance im Frühjahr 2022 nicht vereitelt hätte.
Die Autoren sind sicher, dass jede weitere Verzögerung von Verhandlungen die Konditionen für die Ukraine weiter verschlechtern werden. Putin sei weiterhin verhandlungsbereit, glauben Petro und Snider und Verweisen auf Putins Äußerungen im Juni 2023. Damals sagte er, an den russischen Kriegszielen habe sich seit 2022 nichts verändert.
Verlassen kann man sich darauf nicht. Die grundsätzlichen von Russland genannten Kriegsziele – „Demilitarisierung“ und „Denazifizierung“ der Ukraine sowie Schutz der russischsprachigen Ukrainer – mögen sich vielleicht nicht verändert haben. Ob aber Russland angesichts seiner aktuellen Position nicht doch beabsichtigt, die Gebiete um Kharkov, Odessa und die Schwarzmeerküste bis hin nach Transnistrien zu annektieren, bleibt abzuwarten. Putins jüngster Hinweis deutet darauf hin. Demnach sei die „Verteidigung der russischen moralischen Werte, Geschichte, Kultur und Sprache“ der Schlüssel zu den heutigen Ereignissen, auch „indem wir unseren Brüdern und Schwestern im Donbass und in Noworossija helfen, das Gleiche zu tun.“ Putin betonte auch die „historische Tatsache“, dass die Bezeichnung Noworossija „die südrussischen Gebiete – die gesamte Schwarzmeerregion und so weiter“ umfasse.
Das wären düstere Aussichten für den übrig gebliebenen „disfunktionalen Rumpfstaat“, wie John Mearsheimer, die Ukraine ohne Schwarzmeerzugang bezeichnete.