Deutschlands China-Politik: Wir müssen umdenken
Liebe Leserinnen und Leser,
hätte man sich vor 20 Jahren vorstellen können, dass ein deutscher Außenminister seine diplomatische Reise nach China aus Ermangelung an Terminen absagen muss? Wohl kaum. Aber dies war Ende Oktober der Fall, als sich kein hochrangiger Vertreter außer dem Amtskollegen Wang Yi mit Johann Wadephul treffen wollte.
Mittlerweile haben sich die Wogen ein wenig geglättet – man wolle das Treffen bald nachholen – aber ein bitterer Nachgeschmack bleibt. Ist Chinas Desinteresse an Deutschland ein Sinnbild für den neuen Status des Reichs der Mitte?
Alles spricht dafür. Die Handelsbeziehungen mit Deutschland haben sich in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten umgekehrt. Blieb Deutschland in den 2000er-Jahren noch vom „China-Schock“ verschont und profitierte weiter vom Exportboom, ist die Lage seit 2020 eine gänzlich andere: Die deutschen Exporte sinken, die Importe aus China steigen. Wie die Wirtschaftswissenschaftlerin Dalia Marin in dieser Ausgabe zeigt, erschüttert das die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Kernindustrie in ihren Grundfesten – insbesondere der Maschinenbau und der Automobilsektor geraten zunehmend unter Druck.
Den wesentlichen Erfolgsgaranten der Ostasiaten sieht Rui Ma, China-Expertin und Gründerin von Tech Buzz China, in der Struktur, Organisation und Infrastruktur des chinesischen Wirtschaftsmodells – und weniger in "kreativen Geistesblitzen". In China hat das Politische Primat vor dem Ökonomischen. Dazu zwei Beispiele: Bezirksregierungen agieren wie Produktmanager, koordinieren Start-ups, Forschung, Testfelder und Industrie. Und Kapital wird politisch knappgehalten, weshalb sich Gründer auf kleine, machbare Felder konzentrieren, während der Staat die langfristigen und hochriskanten Projekte übernimmt.
Innovation entsteht in China vor allem aus politisch kontrollierter Dynamik und erst in zweiter Instanz aus marktwirtschaftlicher Freiheit. Die Lektion für Europa ist klar: Wer wettbewerbsfähig bleiben will, muss China verstehen – und mit dem neuen wirtschaftlichen Nabel der Welt strategische Allianzen eingehen. Marin plädiert für Joint Ventures als Bedingung für chinesische Exporte: Wer in Europa operieren will, muss investieren und Know-how teilen. Sonst droht Deutschland, im Wettlauf um Schlüsseltechnologien den Anschluss zu verlieren.
Aber wie realistisch ist das? Bei zunehmenden geopolitischen Spannungen ist es alles andere als einfach, den Markt für chinesische Unternehmen zu öffnen. Aber der Druck steigt – in der deutschen Industrie stehen Millionen Arbeitsplätze auf dem Spiel. Im Gegensatz zu den chinesischen Konkurrenten drohen hiesige Unternehmen den Anschluss an die zukunftsträchtigen Schlüsseltechnologien zu verlieren.