Manifest für eine neue Ökonomik
Die Wirtschafswissenschaft müsse den Kapitalismus endlich so modellieren, wie er ist, schreibt der Ökonom Steve Keen: als komplexes, dynamisches und chaotisches System.
„Das, was wir über Wirtschaft zu wissen glauben, führt theoretisch wie praktisch in die Irre“, schreibt der australische Ökonom Steve Keen. Was wir brauchen, sei nicht weniger als „eine neue Ökonomik“ – so heißt es schon im Titel seines jüngsten Buchs, das im Oktober 2024 erstmals in deutscher Sprache in der Edition-MAKROSKOP beim Verlag ProMedia erschienen ist.
Wer ist dieser Keen, der mit seinem „Manifest“ beansprucht, die gesamte Wirtschaftslehre vom Kopf auf die Füße stellen zu wollen?
Der ehemalige Leiter des wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereiches der Kingston University in London wurde von John Maynard Keynes und dem postkeynesianischen Ökonomen Hyman P. Minsky geprägt. Er gehört zu den wenigen, die seit 2005 vor einer bevorstehenden globalen Finanzkrise warnten – und so überrascht es auch nicht, dass Keen ein scharfer Kritiker der neoklassischen Wirtschaftslehre ist, welche die Lehrstühle der Universitäten seit mehr als vier Jahrzehnten fest im Griff hat.
Die Finanzkrise wurde drei Jahre später zur Realität – und offenbarte jene Dysfunktionalität des Wirtschaftssystems, die nun Thema seines Buchs ist. Keen spricht von einer „neoklassischen Krankheit“, die im Kern zwei Ursachen habe: Zum einen entwickelte sich die neoklassische Volkswirtschaftslehre nicht weiter; ihre Theorie stoße an Grenzen stoße und könne die Realität nicht angemessen erfassen. Doch der überfällige Paradigmenwechsel fände allein in den etablierten Wirtschaftswissenschaften nicht statt. Das eklatanteste Beispiel: eben jene von den meisten Ökonomen nicht vorhergesehene globale Finanzkrise von 2008. Im Nachhinein sei die Krise mit einer zufälligen Störung von außen erklärt worden, einem „schwarzen Schwan“, die nichts mit den „normalen“ Wirtschaftsabläufen zu tun gehabt hätte.
Zum anderen sei die Neoklassik gegen Ende des 19. Jahrhunderts als kapitalismus-apologetische Gegenbewegung zur klassischen Ökonomik entstanden. Letztere hatte durch Marx – ungeachtet seiner Bewunderung für die außerordentliche Dynamik des Kapitalismus – einen kapitalismuskritischen Spin bekommen. Das kapitalistische Paradies der Neoklassik lässt sich jedoch nur als allgemeines Gleichgewicht jenseits aller gesellschaftlichen Widersprüche denken. So hielten die Neoklassiker der Einfachheit halber am zweckrationalen Agenten als Ausgangspunkt ihrer Wirtschaftstheorie fest.
Für Keen eine völlig unrealistische, ja absurde Annahme. Wie kann zum Beispiel eine Theorie der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage stimmen, die davon ausgeht, dass es keinen Unterschied macht, ob Elon Musk oder ein Obdachloser einen Euro mehr in der Tasche hätte? Trotzdem setzte sich Milton Friedman mit seiner Behauptung durch, dass unrealistische Annahmen kein Problem seien, weil es auf die innere Stimmigkeit der Theorien und die Richtigkeit der daraus entwickelten Prognosen ankomme (vergl. S. 124 f). Für Keen sind die Neoklassiker damit grandios gescheitert – mit verheerenden Folgen.
Um funktional und wissenschaftlich zu sein, so Keen, müsse ein neues Paradigma der Ökonomik mit realistischen Grundannahmen arbeiten und sich von den linearen Gleichgewichtsmodellen der Neoklassik lösen. Mit anderen Worten: Der Kapitalismus muss so modelliert werden, wie er ist: als komplexes, dynamisches und chaotisches System, in dem eine Vielzahl unterschiedlicher Variablen miteinander interagieren.
Keen plädiert – trotz der Vorbehalte vieler heterodoxer Ökonomen gegenüber mathematischen Modellierungen – für Techniken, die auf nicht-gleichgewichtsorientierten analytischen Ansätzen basieren. Der Informatiker Jay Forrester hatte 1956 mit System Dynamics ein erstes solcher Modelle für die Wirtschaft entwickelt. Die Anwendung solcher Methoden ist in der Meteorologie oder der Physik längst Standard. Anders als die Mainstream-Ökonomik, die sie noch immer ignoriert, hat Keen mit diesen system-dynamischen Ansatz die Finanzkrise von 2008 richtig prognostizieren können. Er zeigte, dass es – seit den Anfängen des Kapitalismus – immer der unkontrollierte Anstieg der privaten Schulden war, der zum Rückgang des Bruttosozialprodukts und zu Wirtschaftskrisen führte.
In Anlehnung an die Modern Monetary Theory (MMT) führt der Autor die Leserinnen und Leser durch die Prozesse der staatlichen Geldschöpfung „aus dem Nichts“ und die Geldschöpfung der Banken über die Vergabe von Krediten. Dabei widerlegt er anschaulich die neoklassischen Grundannahmen, nach der Geld nur eine Serviceleistung des Staates ist, die den Handel zwischen den Wirtschaftsakteuren erleichtert. Anders als in neoklassischen Modellen, die sich nur auf die Faktoren Kapital und Arbeit reduzieren, sei dieses alles andere als neutral. Im Gegenteil, Geldeffekte müssten im neuen Paradigma der Ökonomik eine zentrale Rolle spielen, fordert der Autor.
Keens Perspektive auf die Wirtschaft ist makroökonomisch im besten Sinne, weil er sie mit „ihren physikalischen Grundlagen“ in Beziehung setzt: mit den „mineralischen und biologischen Gaben der Biosphäre“, die wir in Industrieprodukte umwandeln und schließlich als Abfallprodukte wieder in die Biosphäre abgeben. Wolle man diesen Grundlagen gerecht werden, müsse man, so Keen, von einer „Cowboy-Wirtschaft“ des grenzenlosen Wachstums auf eine „Raumschiff-Wirtschaft“ der endlichen Ressourcen umsteigen.
Doch hier erweist sich Keens Optimismus als begrenzt. Der Autor zitiert den führenden Vertreter der mathematischen Dynamik John Blatt, der 1983 in seinem Buch Dynamic Economic Systems: A Post-Keynesian Approach schrieb: „In der Tat, man könnte denken, dass der Kapitalismus als soziales System verschwunden sein wird, bevor seine Dynamik von Ökonomen verstanden worden ist.“ (S. 148)
Keen spielt damit auf die Verharmlosung der wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels an, für ihn der folgenschwerste und unverzeihlichste Fehler der Neoklassik. Das krasse Missverhältnis zwischen den Vorhersagen der Klimaforscher und den der Ökonomen ist in den vergangenen Jahren immer deutlicher geworden. Die Ökonomen tragen für Keen eine Mitverantwortung dafür, dass die Menschheit wertvolle Zeit verloren hat. Er schließt:
„Im Angesicht der Rolle, die neoklassische Ökonomen dabei gespielt haben, dass die Menschheit bisher nur unbedeutende Antworten auf die Herausforderung des Klimawandels gefunden hat, wird das soziale System, das uns durch diese Herausforderung bringt, (…) eher eine Plan- als eine Marktwirtschaft sein. Deswegen betrachte ich die neoklassische Ökonomik nicht nur als eine schlechte Methode der ökonomischen Analyse, sondern als eine existenzielle Bedrohung für den Fortbestand des Kapitalismus – und der menschlichen Zivilisation im Allgemeinen.“ (S. 148 f)
Steve Keens Manifest hat das Potential, zu einem Standardwerk der heterodoxen Ökonomik zu werden. Bekanntes wird verständlich und anschaulich erklärt. Neue Perspektiven werden aufgeworfen, mit einleuchtenden Antwort-Ansätzen auf Fragen, die man schon lange hatte. Handwerkszeug, um mit diesen Ansätzen zu arbeiten, wird ebenso mitgeliefert wie konstruktive Vorschläge für dringende Probleme. Das Buch gibt Gewissheit, dass die Rede von Alternativen keine bloße Rhetorik ist.
Steve Keen: Für eine Neue Ökonomik. Ein Manifest, Promedia 2024. 176 Seiten.