Radikaler Individualismus

Die Freiheit nehmen wir uns

| 27. Oktober 2020

Grenzenlosigkeit, freiwillige Selbstverpflichtungen, Gesetze und Regularien als gefühlte Bevormundung: Nie wurde der Freiheit so viel Anerkennung gezollt wie heute. Max Stirner hätte seine Freude mit uns: Denn unser Gemeinwesen lebt seine Ideen – und zerbricht daran.

»Freiheit – ist das Einzige, was zählt!« - Wer kann sich dieser Songzeile von Marius Müller-Westernhagen schon entziehen? Einprägsam ist die Melodie, unwiderlegbar wirkt der Satz. Nie hat diese Textzeile wohl so gestimmt wie heute. Die Freiheit ist in aller Munde, scheint als Sujet die einzig zählbare Größe zu sein. Ob nun Schlagbaumlosigkeit, Tempolimit oder Schwangerschaftsabbruch: diskutiert wird darüber nur unter dem Gesichtspunkt der Freiheitsberaubung.

Der Staat soll nach dieser Denkschule einfach nur freiheitliche Lösungen finden und seine Staatsbürger nicht belästigen – den Rahmen setzen, das sei sein historischer Auftrag. Verbote und Verpflichtungen haben es daher ziemlich schwer, denn sie sind von ihrem Naturell her Eingriffe in die persönliche Freiheit der Menschen. Die Industrie hat diesen Freiheitsdrang vorexerziert: Seit Jahren empfiehlt sich ihr die Politik lediglich als Ratgeber, der nur freiwillige Selbstkontrollen oder Transparenz anrät. Ob Lebensmittel- oder Autobranche: Politik tut hier bloß noch als ob, verweigert Gesetzesvorgaben und Sanktionen und hofft das Beste. Eine solche Freiheit nimmt gefangen.

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