Editorial

Freiheit, die gefangen nimmt

| 27. Oktober 2020
istock.com/Ryusei Kano

Liebe Leserinnen und Leser,

ein neuer Mittwoch, eine neue Ausgabe. Heute wollen wir wissen, was eigentlich in Italien los ist, ob zum Thema Arbeitszeitverkürzung schon das letzte Wort gesprochen wurde, wie der jüngste Lohnabschluss von ver.di zu bewerten ist und was es heutzutage mit unserem Verständnis von »Freiheit« auf sich hat.

Freies Italien

Einigen von Ihnen dürfte Leonardo Mazzei kein unbekannter sein. Er stand schon einmal für MAKROSKOP Rede und Antwort. Und auch heute gewährt uns der Exponent des italienischen Linkssouveränismus Einblicke in die Kämpfe, die derzeit in Italien toben. Zwar ist mit dem Kabinett Conte II politische Ruhe eingekehrt, das Kapitel von Lega und Fünfsterne als Trägerinnen des Anti-Euro-Kurses geschlossen. Die Lega befände sich in einem Normalisierungsprozess, glaubt Mazzei. Und Matteo Salvini, der den Euro längst akzeptiert hat, erscheint blass und ideenlos. Aber damit sind nicht die ökonomischen Probleme Italiens innerhalb der Währungsunion verschwunden. Ein Grund, warum sich Mazzei mit neuen Koalitionen weiter für einen Italexit einsetzt.

Befreit von der Arbeit

Im Jahre 2013 veröffentlichte die Universität Oxford eine Studie, der zufolge in den nächsten zwei Jahrzehnten 47 Prozent der US-amerikanischen Arbeitsplätze infolge der Digitalisierung wegfallen könnten. Die ING DiBa veröffentlichte zwei Jahre später eine Studie mit dem Titel »Die Roboter kommen – Folgen der Automatisierung für den deutschen Arbeitsmarkt«, die zu dem Ergebnis kommt, dass in Deutschland aufgrund des hohen Industrialisierungsgrades 59 Prozent der Arbeitsplätze vom technologischen Fortschritt bedroht sein könnten.

Es ist eine Glaubensfrage, ob man diese Szenarien, für realistisch hält, schreibt Daniel Deimling. Aber »bedrohlich« sind sie für ihn nicht, im Gegenteil: Wir »nutzen« das »Potenzial« der Rationalisierung noch gar nicht voll aus. Anstatt uns darüber zu freuen, dass 100.000 Arbeitsplätze in der Automobilindustrie wegfallen, führen wir eine Abwrackprämie und ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz ein. Es sei absurd, dass wir uns an Arbeitsplätzen festklammern, die wir nicht mehr brauchen, so Deimling, der damit die Kontroverse unseres letzten Spotlights noch einmal aufwärmt. Ziel jeder Ökonomie sei die gesellschaftliche Bedarfsdeckung mit dem geringstmöglichen Mitteleinsatz – das bedeute mit dem geringstmöglichen Einsatz von Material, Ressourcen, Energie und Arbeit.

Ob das die Gewerkschaften auch so sehen, ist eine andere Frage. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ist jetzt mit einer Forderung von 4,8 Prozent Lohnerhöhung für zwölf Monate in die Verhandlungen mit den Arbeitgebern von Bund und Kommunen gegangen und hat zur Untermauerung dieser Forderung Warnstreiks organisiert. Herausgekommen ist jetzt ein Abschluss mit einer Laufzeit von 28 Monaten (September 2020 bis Dezember 2022), der Tariferhöhungen von 1,4 Prozent ab April 2021 und nochmals 1,8 Prozent ab April 2022 vorsieht.

Zusätzlich gibt es Zuschläge und Einmalzahlungen, die so gestaffelt sind, dass die unteren Lohngruppen stärker profitieren, die Lohnstruktur also etwas flacher wird. Besonders bei der Entlohnung des Pflegepersonals konnten Verbesserungen erreicht werden. Sie bedeuten nicht nur ein kleines Stück Anerkennung für die Leistungen dieser Berufsgruppe in der Corona-Pandemie, sondern markieren endlich auch einen Einstieg in die Steigerung der Attraktivität dieses Berufsfelds, auf dem seit Langem ein großer Mangel an Arbeitskräften herrscht.

Dennoch ist das Gesamtergebnis, das ver.di erzielt hat, vollkommen unzureichend, so zumindest der Befund von Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker. Ein Abschluss von unter zwei Prozent, also ein Abschluss unterhalb des europäischen Inflationsziels, sei gerade zu dieser Zeit, in der die Konjunktur Corona-bedingt auf des Messers Schneide steht, das falsche Signal.

Frei von Zwang

Was heute »Kulturliberalismus« heißt, hieß früher »Anarchismus«. Eine Ideologie, die unter ihrem alten Namen noch immer einen schlechten Leumund hat, sich aber unter ihrem neuen Namen zum kulturellen Hegemon im Sinne Antonio Gramcis gemausert hat. Der Schlüsselbegriff dieser Ideologie ist die »Freiheit«, dessen inhaltliche Substanz vom bekannten Sozialphilosophen Isaiah Berlin auf den Punkt gebracht wird:

»Der positive Sinn des Wortes ›Freiheit‹ rührt von dem Wunsch des Individuums her, sein eigener Herr zu sein. Ich will, dass mein Leben und meine Entscheidungen auf mir selbst beruhen und nicht auf Mächten welcher Art auch immer. Ich will das Instrument meiner eigenen, nicht das der Tätigkeit des Willens eines anderen sein.«

Wer kann sich da dieser Songzeile von Marius Müller-Westernhagen schon entziehen? »Freiheit – ist das Einzige, was zählt!« Einprägsam ist die Melodie, unwiderlegbar wirkt der Satz. Nie hat diese Textzeile wohl so gestimmt wie heute, da sind sich Roberto De Lapuente und Paul Steinhardt einig. Die Freiheit ist in aller Munde, scheint als Sujet die einzig zählbare Größe zu sein. Ob nun Schlagbaumlosigkeit, Tempolimit oder Schwangerschaftsabbruch: diskutiert wird darüber nur unter dem Gesichtspunkt der Freiheitsberaubung.

Der Staat soll nach dieser Denkschule einfach nur freiheitliche Lösungen finden und seine Staatsbürger nicht belästigen – den Rahmen setzen, das sei sein historischer Auftrag. Verbote und Verpflichtungen haben es daher ziemlich schwer, denn sie sind von ihrem Naturell her Eingriffe in die persönliche Freiheit der Menschen. Die Industrie hat diesen Freiheitsdrang vorexerziert: Seit Jahren empfiehlt sich ihr die Politik lediglich als Ratgeber, der nur freiwillige Selbstkontrollen oder Transparenz anrät. Eine solche Freiheit nimmt gefangen.

Wirtschaft frei für Einsteiger

Zu guter Letzt ein kleines Schmankerl für alle, die mit Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik Neuland betreten. Alle Neuleser, Einsteiger aber auch Fortgeschrittene können sich ab heute wie Lukas von dem Philosophen Jakob auf eine Reise durch die zentralen Themen, Thesen und Irrtümer unserer Wirtschaftstheorien mitnehmen lassen. Jede Woche erklärt Jakob kritisch ein ökonomisches Theorem: Die Neoklassik und die vermeintliche Effizienz der Märkte; der Weg zum allgemeinen Gleichgewicht; der vollkommene Markt und die Realität; Postkeynesianismus; Arbeitsmarkt und Kartoffelmarkt; wie Geld entsteht und warum Schulden eine gute Sache sind; ob wir uns soziale Gerechtigkeit leisten können und vieles mehr.

Dieser Guide wird eine gebündelte Antwort vieler Fragen aus unseren Leserbriefen werden, eine Zentralstelle und Legende, ein kleiner Almanach, allgemeinverständlich und anschaulich erklärt und somit die Realisierung eines Projekts, das Sie, liebe Leserinnen und Leser, schon oft angeregt hatten.