Grundsicherung in harten Zeiten: Psychisch Kranke als Simulanten?
Die Reformentwurf des Bürgergelds aus der Feder des Bundesarbeitsministeriums von Bärbel Bas ist in zwei Punkten politisch hochgradig brisant.
Nach Friedrich Merz können wir uns den Sozialstaat mit dem, was wir erwirtschaften, angeblich nicht mehr leisten. Damit meint er nicht die Steuerprivilegien der Reichen, etwa dass das Vererben großer Wohnungsbestände erbschaftssteuerfrei ist, oder selbst Milliardengeschenke wie das Aktienpaket von Friede Springer an Mathias Döpfner durch eine Verschonungsbedarfsprüfung steuerbegünstigt werden können, oder dass auch große Konzerne durch Briefkastenfirmen ihre Gewerbesteuer in innerdeutschen Steueroasen „optimieren“, wie in der Sendung „Böhmermann“ gezeigt.
Nein, damit meint Merz die Ausgaben für die sozial Schwachen. Die können „wir“ uns nicht mehr leisten. Ob das eine mit dem anderen zusammenhängt, wie Bert Brecht es in seinem Gedicht über den armen und den reichen Mann formuliert hatte, sei einmal dahingestellt.
Aus der Feder des Bundesarbeitsministeriums von Bärbel Bas, SPD, liegt nun der Entwurf zur im Koalitionsvertrag angekündigten Reform des Bürgergelds vor. Der Begriff „Bürgergeld“ verschwindet, es heißt künftig „Grundsicherung für Arbeitssuchende“. Die Leistungsvoraussetzungen für diese Menschen sollen, wie bereits angekündigt, erheblich verschärft werden. Ein Kernziel wird in „Teil A. Problem und Ziel“ des Entwurfs wie folgt formuliert:
„Menschen, die Sozialleistungen missbräuchlich in Anspruch nehmen, schaden der gesellschaftlichen Akzeptanz des Sozialstaats und missachten die Leistung all derer, die mit ihren Steuern und Beiträgen solidarisch das Sozialsystem tragen.“
Dazu gibt es eine Reihe von neuen Vorschriften, etwa zur Bekämpfung der Schwarzarbeit oder die vieldiskutierten Kürzungen für „Totalverweigerer“. Zwei Neuregelungen sind dabei aufgrund ihrer politischen Symbolik hochgradig brisant.
Der erste Punkt: Bei überhöhten Mieten sollen die Grundsicherungsempfänger Einspruch bei den Vermietern einlegen. Mit anderen Worten: Nicht der Staat sorgt für die Einhaltung des Mietrechts, die Mieter sollen es tun, und in dem Fall ausgerechnet die sozial Schwächsten. Überhöhte Mieten zahlen sie vermutlich oft an steuerbegünstigte Investoren. So schließt sich der Kreis.
Der zweite Punkt klingt wie ein verunglückter Versuch, Fördern und Fordern neu zu arrangieren. Psychisch kranke Grundsicherungsempfänger sollen sich vor der Entscheidung über eine Leistungskürzung beim Jobcenter zur Überprüfung ihrer Gesundheit vorstellen. Es heißt im Entwurf:
„Dabei ist wichtig, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht unverschuldet in Notlagen geraten. Deshalb sollen die Schutzmechanismen für diese besondere Gruppe gestärkt werden.“
Und in der Gesetzesbegründung heißt es ausdrücklich:
„Es wird klargestellt, dass eine psychische Erkrankung einen besonders schutzwürdigen Umstand darstellt und deshalb von besonderer Relevanz für die Entscheidung ist.“
Natürlich ist es gut, wenn dieser Gruppe nicht ungerechtfertigt Leistungen gekürzt werden. Aber warum eigentlich speziell die psychisch Kranken, nicht alle chronisch Kranken?
Wenn man nicht Gefahr laufen will, damit vor dem Hintergrund der Missbrauchsbekämpfung einen allgemeinen Simulanten-Verdacht gegenüber psychisch kranken Menschen zu befördern, müsste man die Überprüfung mit fachlich qualifizierten langfristigen Eingliederungshilfen für die Rückkehr in den Arbeitsmarkt verbinden. Dafür fehlen vermutlich Geld und Personal, zumal ja gespart und nicht etwa mehr ausgegeben werden soll.
Ob die Jobcenter die Überprüfungen mit ihrem gegenwärtigen Personalstand fachlich qualifiziert durchführen können, ist unklar. Ob dieses Verfahren zum Bürokratieabbau beiträgt, ist unklar. Wie es sich auf die angestrebte Entstigmatisierung psychischer Störungen in der Gesellschaft auswirkt, ist unklar. Wie sich das BMG zu diesem Vorschlag positioniert hat, ist nicht bekannt.
Das Ende des langjährigen deutschen Geschäftsmodells – Verteidigungskosten durch die USA, billige Energie durch Russland, Absatzmarkt China – hat die Wirtschaft in Deutschland in die Krise geführt, damit auch die bisherigen Sozialstaatskompromisse. Das gesellschaftliche Klima wird ersichtlich rauer, der Druck auf die „kleinen Leute“ größer, gesellschaftliche Solidarität herausfordernder.
In einer fundamentalen Krise müssten alle an den Lasten beteiligt werden, entgegen des lange gepflegten „Diktats der leeren Kassen“ (Herbert Giersch) auch die sehr großen Vermögen, auch die sehr großen Einkommen. Dazu wäre ein gesellschaftlicher Konsens nötig, an welchen „Werten“ man sich künftig orientieren will, welche Werte man übrigens auch durch eine neue Wehrpflicht im Ernstfall gegen Russland verteidigen will.
Dass die Regierung auf einen solchen Konsens hinarbeitet und das Gespräch mit der Zivilgesellschaft – auch mit den Kirchen, den Gewerkschaften und Sozialverbänden – sucht, ist bisher nicht zu erkennen.