Makroskop
Geldwirtschaft

Keynes 15-Stundenwoche und die Transaktionskosten-Analyse

| 25. November 2025

1930 hat der Ökonom Maynard Keynes seinen Enkeln eine 15-Stundenwoche prophezeit. Er dachte, die Wirtschaft diene dazu, unsere Bedürfnisse zu decken.

1930 betrug die wöchentliche Arbeitszeit in England etwa 48 Stunden. Seither ist die gemessene Produktivität pro Arbeitsstunde dort und auch anderswo um rund das 10-fache gestiegen. Rein rechnerisch könnten wir uns heute somit mit 15 Wochenstunden das Dreifache des damaligen Lebensstandards leisten. Was den Produktionsfortschritt betrifft hat Keynes wohl recht behalten. Sein Irrtum: Er glaubte, dass wir unsere produktiven Tätigkeiten auf die Bedürfnisse ausrichten wollen und können.

Die waren schon damals dieselben wie heute: Essen, ein Dach über dem Kopf, Fortpflanzung, Erziehung, Gesundheit. In zweiter Linie: Kultur, Unterhaltung, Erholung. Dafür stehen uns – vom Schlaf abgesehen, etwa 16 Stunden täglich zur Verfügung. Einen kleinen Teil davon verbringen wir mit bezahlter und hoch spezialisierter Arbeit. Mit letzter sind wir heute viel produktiver als einst. Dennoch reden wir heute davon, dass alle wieder mehr Erwerbsarbeit leisten sollen und immer mehr Menschen müssen sich im Winter fragen, ob sie lieber hungern oder frieren wollen. Wohin also ist all diese Produktivität verpufft?

Die Antwort liegt in drei Stichworten: Transaktionskosten, Globalisierung und Verteilung. Vor etwa 50 Jahren war unter Ökonomen die „Transaktionskostenanalyse“ groß in Mode. Es ging um die Frage, wie man effizienter produziert: Ob man wie Henry Ford am besten alle Lieferanten aufkauft und innerhalb einer Firm alles hierarchisch regelt, oder ob man den Wettbewerb spielen lassen soll. Einen klaren Sieger gab es nicht, aber Berechnungen ergaben, dass über 50 Prozent des BIP auf reine Transaktionskosten wie Transport, Werbung, Finanzindustrie, Vermögensverwaltung oder Rückverteilungsbürokratie entfallen.

Heute ist dieser Anteil wohl noch deutlich kleiner: In der Schweiz entfallen schon mal nur schwach 40 Prozent des BIP auf die direkt produktiven Branchen Industrie, Erziehung und Gesundheit. Und auch hier sind die Transaktionskosten sehr hoch.

Etwa bei der Nahrung: Von 100 Franken Umsatz bei Nestlé entfallen nur 54 auf die Herstellungskosten, wobei auch darin Transaktionskosten wie Transport enthalten sind.

Dito beim Wohnen: Die Wertschöpfung im Schweizer Wohnungsbau beläuft sich auf jährlich rund 20 Milliarden, das Drumherum des „Grundstücks- und Wohnungswesen“ mit 52 Milliarden mehr als das doppelte.

Gesundheit: Bei Roche entfallen von 100 Franken Pharma-Umsatz schwach 50 auf die Gewinnmarge und ein weiteres Viertel auf den Vertrieb. Zudem: Die Pharma-Multis haben kein Interesse daran, Probleme zu lösen, sie wollen sie vielmehr möglichst lange bewirtschaften.

Die wichtigste Frage haben die Ökonomen aber nicht gestellt: Wie hoch sind die Transaktionskosten der Geldwirtschaft insgesamt im Vergleich zu den unentgeltlichen produktiven Tätigkeiten in Familie, Sippe und Nachbarschaft? In dieser Bedarfswirtschaft profitiert die Menschheit von einem Millionen Jahre langen Lernprozess, der seine Spuren in unseren Genen und in unserer Kultur zurückgelassen und die Transaktionskosten minimiert hat. In der geldlosen Wirtschaft wird man in eine Produktions- und Konsumgemeinschaft hineingeboren. Man muss sich nicht bewerben und kann nicht entlassen werden. Die nötige Arbeitsdisziplin wird durch die Freude man gemeinsamen Tun und durch subtile Sanktionsmechanismen wie soziale Ächtung mit geringem Aufwand sichergestellt.

In der Geldwirtschaft können sich die Produktionsgemeinschaften die effizientesten Produzenten aussuchen und sie können deren Leistungsbereitschaft durch die Entlassungsdrohung sicherstellen. Doch die Arbeitsmarktbürokratie verursacht enorme und immer höhere Transaktionskosten.

So hat etwa der Personalvermittler Randstad festgestellt, dass die Generation Z in den ersten 5 Arbeitsjahren im Schnitt 4,5 mal die Stelle wechselt. Die durchschnittliche Verweildauer aller Alterskategorien liegt unter vier Jahren. Dabei kostet gemäß Gallup jeder Stellenwechsel die Firma 0,5 bis 2 Jahressaläre. Auf der anderen Seite müssen ältere Stellensuchende nicht selten 100 Bewerbungen schreiben und viele Interviews über sich ergehen lassen bevor sie (bis auf weiteres) in eine neue Produktionsgemeinschaft aufgenommen werden.

Im Vergleich zur Marktwirtschaft funktioniert die Bedarfswirtschaft in vielen Bereichen vier reibungsloser. Doch genau dieser hoch effiziente Teil der Wirtschaft ist durch die neoliberale Globalisierung stark beschädigt worden. Die Idee dahinter: Indem wir alle Grenzen öffnen und den Markt und die Multis anstelle des Staats entscheiden lassen, sorgen wir dafür, die Arbeitskraft weltweit punktgenau dann und dort eingesetzt wird, wo sie am meisten BIP generiert. Das hat nicht nur (etwa durch Umzugs- und Wegkosten) die Transaktionskosten der Marktwirtschaft weiter erhöht, sondern auch die Produktionskraft der Familien und Nachbarschaften so geschwächt, dass – um nur ein Beispiel zu nennen – Kleinkinder heute in Kitas betreut werden müssen. Dadurch hat sich der Zeit und Koordinationsaufwand drastisch erhöht. Dasselbe gilt für viele andere einst unentgeltliche Arbeit, die im Zug der neoliberalen Wende kommerzialisiert worden ist.

Und noch etwas kommt dazu: In der Bedarfswirtschaft koordinieren sich Konsum und Produktion praktisch von alleine. In der Marktwirtschaft braucht es dazu staatliche Hilfe. Zu Keynes Zeiten haben der Staat und die Nationalökonomie diese Aufgabe noch reflektiert und aktiv wahrgenommen. Ziel der Nationalökonomie war es, die nationale Nachfrage so zu steuern, dass die Vollbeschäftigung erhalten bleibt. Zu diesem Zweck wurde der grenzüberschreitende Austausch von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften noch staatlich reguliert.

Heute ist das nicht mehr der Fall und das wiederum hat weitreichende Auswirkungen auf die Verteilung. Der freie Handel entlang den globalen Wertabschöpfungsketten eröffnet die Möglichkeit, da zu produzieren, wo die Löhne tief sind die Produkte dort zu verkaufen, wo die Kaufkraft hoch ist. Das ermöglicht Gewinne und Saläre, die weit über dem Niveau des Binnenmarktes liegen.

0n-Schuhe etwa werden in Vietnam für 2 Franken pro Stunde hergestellt und in der Schweiz für 200 Franken und mehr verkauft. Ihre drei Gründer haben beim Börsengang je über eine halbe Milliarde kassiert. Das Vermögen des Finanzunternehmers Gantner wird auf 3,5 Milliarden Dollar geschätzt. Roger Federer und Christiano Ronaldo sind inzwischen beide Milliardäre. Hier ein paar Werberappen, dort eine paar Franken und schon reden wir von Milliarden. Doch die konzentrierte Kaufkraft der wenigen wären die Löhne der vielen gewesen.

So kommt es, dass unser Leben trotz der hohen Produktivität karger und für viele miserabel geworden ist. Um aus dieser Misere hinauszukommen, reicht es nicht, uns auf Keynes zu besinnen und die Wirtschaft wieder als Nationalökonomie zu organisieren. Wir müssen auch ein Optimierungsproblem lösen, das 1930 noch schwer zu erkennen war, und das auch von den Erfindern der Transaktionskosten-Analyse übersehen worden ist. Wir müssen uns überlegen, welche unserer Bedürfnisse und entsprechenden produktiven Tätigkeiten wir über den Markt koordinieren sollen und was wir mit Vorteil der Bedarfswirtschaft überlassen.

Die allgemeine Stoßrichtung ist jetzt schon klar: Wir brauchen weniger Markt und mehr Bedarfswirtschaft. Wenn diese Umkehr gelingt, haben wenigstens die Urur-Enkel von Keynes die Chance, die steigende Produktivität in einen hohen Lebensstandard umzuwandeln.

Keynes hat diese Misere nicht kommen sehen. Seine Urenkel sehen sie auch nicht mehr. Sie ist die neue Normalität, in die sie hineingeboren werden.