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Make America Great Again?

| 02. Dezember 2022

Liebe Leserinnen und Leser,

keiner weiß genau, wie es so weit kommen konnte. Alles schien so klar. Bis vor wenigen Jahren noch folgte ein Freihandelsabkommen dem anderen und die Welt dem Washington Konsensus ‒ ein Wirtschaftsprogramm nach dem Leitbild eines liberalen Kapitalismus mit den Vereinigten Staaten als Vorbild und Schrittmacher. Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank oktroyierten Kreditbedürftigen Ländern Reformen auf, die den US-Kapitalismus zum global gültigen Betriebssystem machen sollten.

Das Ende der Geschichte schien gekommen in einer immer enger zusammenwachsenden Welt. Wir alle, so hieß es, seien ein globales Dorf ‒ mit einem gütigen und zugleich mächtigen Hegemon an der Spitze. Das Internet und die Digitalisierung sorgten für eine Überwindung des Raums und eine Beschleunigung der Zeit, der Zirkulation, des Handels und des Lebens. Eine Öffentlichkeit, die den sprichwörtlichen Sack Reis in China fallen hörte und global dachte und fühlte, sorgte für den unaufhaltsamen Vormarsch des westlichen Werteuniversalismus. Dieser Siegeszug war zugleich der Triumph der einzigen Weltmacht – der USA.

Doch jetzt klingt all das wie Schall und Rauch im Weltenlauf. Die Dynamiken einer globalisierten Welt bestehen zwar weiterhin, doch sie setzen ihrerseits Entwicklungen in Gang, die diese Ordnung in ihrem Kern erodieren lassen. Die Erfolge der Globalisierung sind zugleich ihr Totengräber. Ihre Schattenseiten ließen jenseits kosmopolitischer Blütenträume neue Realitäten entstehen. Im größten Erfolg liegt die Saat des Niedergangs. Neue Flieh- und Beharrungskräfte sind im Entstehen, die gegen die Globalisierung in ihrem Zentrum, den westlichen Industrieländern, aufbegehren lassen. Neuartige Viren und im 21. Jahrhundert für unmöglich gehaltene Kriege lassen selbstverständlich geglaubte globale Lieferketten reißen. Der Glaube an einen unaufhaltsamen Fortschritt hat nicht zuletzt im Antlitz der Klimakrise einen Kipppunkt erreicht und weicht Zweifeln, die die westliche Psyche in ihrem Mark erschüttern.

Zuvor sind durch Wissenstransfers und Verlagerungen ganzer Industrien neue Shootingstars entstanden, allen voran in Asien, mit China als neuer Weltmacht einer ungewissen Zukunft. Dazu aufstrebende Schwellenländer mit Großmachtpotential, allen voran Indien. Westliche Technologie ermächtigt neue Mächte, eigene Wege zu gehen. Mit neuem Selbstbewusstsein setzen sie westlichen Werten eigene Ordnungsideen entgegen. Für sie ist der Washington Konsensus ein Relikt längst vergangener Zeiten, die Gegenwart ein Zeugnis westlicher Hybris.

Entscheidend aber sind auch die Verlierer der Hyperglobalisierung – nicht nur im Globalen Süden, sondern ausgerechnet in ihrem Reaktor: Im „Heartland“ des großen Hegemons, im Rustbelt des mittleren Westens einer taumelnden Weltmacht. Hier sorgt die Unzufriedenheit der „deplorables“ (Hillary Clinton) für einen Kulturkrieg, der das Potenzial hat, zu einem zweiten Bürgerkrieg zu werden. Die USA haben für ihr eigenes globales Regelwerk einen hohen Preis gezahlt: ein ausgewachsenes Handelsbilanzdefizit, stagnierende Reallöhne der unteren Dezile und eine voranschreitende Deindustrialisierung, die ganze Städte, Regionen und Infrastrukturen verrotten lässt.

Die Kernschmelze der Globalisierung, sie findet ausgerechnet in ihrem amerikanischen Kraftwerk statt. Und jetzt tritt der große Hegemon auf die Bremse und ändert die Richtung: Gewahr der neuen weltpolitischen Realitäten, der eine Vorgängergeneration neokonservativer Politiker aus dem Weißen Haus selbst Vorschub geleistet hat, heißen die Schlagworte für das zweite Jahrzehnt des neuen Jahrtausends: Investitionen, Reinindustrialisierung, Protektionismus und Wirtschaftskrieg ‒ Jobs, Industrie und militärische Stärke. Oder kurz: „Make America Great Again“.

Was das für die Welt und auch für Deutschland bedeutet, soll das Thema dieses Spotlights sein.