Spotlight

Unplugged: Neoliberale Mythen

| 11. Juni 2021
istock.com/VachEv

Liebe Leserinnen und Leser,

unsere Identität, unser Sein, unsere Bildung, unser Leben und die Geschichten, die wir seit unserer Kindheit hören, sind geprägt von Mythen. Mythos bedeutet im Altgriechischen so viel wie „Laut, Wort, Rede, Erzählung, sagenhafte Geschichte oder Mär“. Im religiösen Mythos wird das Dasein der Menschen mit der Welt der Götter oder Geister verknüpft.

Eine eingängige Definition für die Moderne lieferte der französische Sozialphilosoph Georges Sorel. Für ihn waren Mythen Leitideologien, Bilder von großen Schlachten, die geschlagen werden müssen, um die Gesellschaft auf neue moralische Grundlagen zu stellen. Mythen haben also sowohl in positiver wie negativer Hinsicht eine Mobilisierungsfunktion.

Auch unsere Überlieferungen und Erinnerungen aus der jüngsten deutschen Geschichte sind durchsetzt von Mythen, die im Sinne Sorels eine identitätsstiftende oder mobilisierende Funktion haben: sei es das Wunder von Bern („Wir sind wieder wer“), die Währungsreform („Wunderwährung“), das Wirtschaftswunder („Wirtschaftsaufschwung aus eigener Kraft“), die Wiedervereinigung (eigentlich ein Anschluss) oder der Mythos „vom kranken Mann Europas“.

Wenn man so will, sind die neoliberalen Mythen, um die sich dieses Spotlight dreht, mit dem Mythos vom Wirtschaftswunder verknüpft und fangen mit diesem an. Die Geschichte geht in etwa so: Die harte Deutsche Mark, moderate (niedrige) Löhne, Fleiß und deutsche Wertarbeit als Exportschlager sollen der Garant des Wirtschaftsaufschwungs gewesen sein. Ordoliberale Ökonomen wie Ludwig Erhard legten dafür das Fundament. Die unabhängige Bundesbank sorgte mit ihrer Preisstabilitätspolitik nach traumatischen Inflationserfahrungen für Vertrauen in die neue Währung. Weil Sie darin so ungemein erfolgreich war, diente sie gleichsam als Vorbild für die Gründung der Europäischen Zentralbank.

Erst, als man sich seit Ende der 60er Jahre allmählich von den Prinzipien der „sozialen Marktwirtschaft“ ab- und „planwirtschaftlichen Experimenten“ (Stichwort Globalsteuerung) zuwandte, geriet der deutsche Musterschüler vom Weg ab. Die Bundesrepublik avancierte plötzlich zum Land des „Reformstaus“, aufgebläht durch ein fetten Wohlfahrtsstaat, verkrusteter Bürokratie, ineffizienter Daseinsfürsorge und starren Arbeitsmärkten. Deutschland, so der Tenor, sei nicht mehr wettbewerbsfähig. Nur wenige Stimmen stemmten sich dieser Erzählung entgegen, darunter Heiner Flassbeck oder auch Peter Bofinger mit seinem 2005 erschienenen Buch „Wir sind besser als wir glauben.“

Doch es war damals ein Kampf gegen Windmühlen und gegen den Zeitgeist. Ein Sturm des neoliberalen Reformeifers und der Liberalisierungen fegte durch die Republik. Mit der Agenda 2010 und dem Mantra des Gürtel Enger Schnallens wurde der Sozialstaat zersägt, privatisiert, was nicht niet- und nagelfest war, die Arbeitsmärkte – wie es so schön hieß – „flexibilisiert“, Flächentarifverträge geschreddert, die Finanzmärkte von der Leine gelassen, die Deutschland AG abgewickelt und die „Schuldenbremse“ ins Grundgesetz gedrückt.

Man war stolz darauf, Exportweltmeister zu sein, schlank, fit und weltoffen für die Zukunft. Mit der Fußball-WM 2006 im eigenen Land herrschte eine seltsame neoliberal-patriotische Euphorie, in den Medien wurde eine Symbiose aus neuem Wirtschaftswunder und Sommermärchen herbeigeschrieben – schließlich hatte es auch Jürgen Klinsmann geschafft, der Nationalmannschaft, die ebenfalls als reformbedürftig galt, mit einer neuen Agenda und einem neuen „brand“ zu versehen.

Erinnern Sie sich noch an die Social-Marketing-Kampagne „Du bist Deutschland“, die von 25 Medienunternehmen ins Leben gerufen und von Bertelsmann koordiniert wurde? Erklärtes Ziel der Kampagne war, „Initialzündung einer Bewegung für mehr Zuversicht und Eigeninitiative in Deutschland“ zu sein und die Bundesbürger zu „mehr Selbstvertrauen und Motivation“ ganz im Geiste der „Ich-AG“ anzustoßen.

Deutschland wurde wieder zum Vorbild. Und damit zur Blaupause für die gesamte EU. Wir waren wieder wer. Doch die „faulen Südländer“ zogen bei dem Prozess der Angleichung nur halbherzig mit und beharrten auf ihren nationalen Eigenarten. Das änderte sich mit der Finanz- und Wirtschaftskrise schlagartig. Erst jetzt wurde vielen Mitgliedstaaten und ihren Bevölkerungen klar – besonders dramatisch in Griechenland –, wie toxisch das Kleingedruckte in den EU-Verträgen war. Die neoliberale Verrechtlichung der EU, nah am und durch das deutsche Vorbild exerziert, entthronte Politik und Demokratie in den Nationalstaaten. Der Segen der Europäisierung – ein weiterer neoliberaler Mythos. Und hier beginnt unsere Geschichte.