Wer glaubt noch an die Phillipskurve?
In der goldenen Ära des Kapitalismus glaubte man, zwischen fünf Prozent Inflation oder fünf Prozent Arbeitslosigkeit wählen zu können. Das Gesetz der Phillipskurve brach schnell zusammen, Anhänger hat sie trotzdem noch.
Der auf den ersten Blick sperrige und trockene Titel "The Relationshiop between Unemployment and the Rate of Change of Money Wages in the United Kingdom, 1861-1957" passt so gar nicht zum bewegten und abenteuerlichen Leben des Autors. Und auch nicht zu den Konsequenzen, die der 1958 in der renommierten Fachzeitschrift Economia erschienene Artikel für die Weltökonomie haben wird.
Als junger Mann verdingte sich Alban William Housego Phillips noch als Bergarbeiter und Krokodilsjäger und verbrachte während des Zweiten Weltkriegs dreieinhalb Jahre in japanischer Kriegsgefangenschaft. Und jetzt macht sich der in Neuseeland geborene Brite in der Ökonomenzunft schlagartig einen Namen. Und was für einen – seine Publikation wird der meistzitierte makroökonomische Titel des 20. Jahrhunderts werden.
Denn im Grunde sagt der Titel schon alles: Phillips meint einen inversiven Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Nominallöhne und der Arbeitslosigkeit feststellen zu können: Je höher die Arbeitslosigkeit, desto niedriger die Löhne und umgekehrt. Er hält diese Korrelation für stabil, weil gesetzmäßig, indem er die durchaus plausible Hypothese vertritt, dass Arbeitnehmer bei einem hohen Beschäftigungsstand eine „höhere Verhandlungsmacht“ haben und dadurch höhere Löhne durchsetzen können.
Im Anschluss an seine Veröffentlichung glauben andere Wissenschaftler, den gleichen Effekt am Beispiel von diversen anderen Ländern nachweisen zu können. Ein Durchbruch. Doch die Karriere seiner Entdeckung verläuft anders, als es Phillips wohl ursprünglich im Sinn hatte. Denn er interpretierte den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Lohnhöhe ausdrücklich nicht so, dass ausgeprägte Lohnsteigerungen automatisch zu höherer Beschäftigung führen. Den kausalen Faktor sieht Phillips allein in der Größe der Arbeitsreserve und in der daraus folgenden Verhandlungsposition der Arbeiter.
Doch sein forschungsleitendes Interesse, das weder beschäftigungspolitische noch andere gesamtwirtschaftliche Aspekte einbezieht, also nicht den Anspruch hat, eine wirtschaftspolitische Handlungsanleitung für die Politik anzubieten, wird bald dementsprechend umgedeutet.
Allen voran durch Paul Samuelson und Robert Solow mit ihrem bahnbrechenden Aufsatz „Analytics of Anti-Inflation Policy“ im Economic Review zwei Jahre später. Mit einem modifizierten Modell, das die Lohnerhöhung von Phillips durch die Inflationsrate ersetzt – und von einer gleichgerichteten Beziehung zwischen Nominallohn- und Preisniveauänderungen ausgeht –, stellen Solow und Samuelson eine negative Beziehung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit für den amerikanischen Raum fest. Dieser Korrelation, in der folgenden Grafik dargestellt, geben sie – in Würdigung ihres Pioniers – den berühmten Namen „Phillipskurve“.
Dogma des Bastard-Keynesianismus
Die Phillipskurve wird nun zum politischen Baukasten verklärt, mit dem man, so die Annahme weiter, einen direkten Einfluss auf die Beschäftigung nehmen könne. Implizit sollen Regierungen eine Kombination aus Inflation und Arbeitslosigkeit gemäß eines präferierten Punktes auf der Phillipskurve wählen können. Je höher die Inflation, die sich mittels Geldpolitik steuern lasse, desto niedriger die Arbeitslosigkeit.
In den folgenden Jahren wird die Phillipskurve Teil der neoklassischen Synthese, die einige kritische Ansätze von John Maynard Keynes mit der alten neoklassischen Theorie verbindet, und damit zum Dogma des Bastard-Keynesianismus. Bis heute spielt sie für die Geldpolitik von Zentralbanken und die moderne makroökonomischen Mainstream-Theorie eine wesentliche Rolle. Sie fügt sich nahtlos in das sogenannte „IS-LM Modell“ ein, nachdem Investitionen allein vom Zins und der effektiven Nachfrage abhängig seien.
Demzufolge vertritt der Bastard-Keynesianismus die Trennung von Staat, der sich um seine Einnahmen und Ausgaben kümmern soll, und Zentralbank, die mit Zins- oder Geldpolitik die Wirtschaft steuert. Bis heute halten orthodoxe Keynesianer die Zinspolitik der Bundesbank – von der noch zu sprechen sein wird – für erfolgreich: hohe Zinsen wenn die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu hoch ist und eine Inflationsgefahr besteht; niedrige Zinsen wenn die Wirtschaft angekurbelt werden soll.
Für Keynesianer und die damals keynesianisch agierenden Regierungen ist die Aussicht, eine Wechselbeziehung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit nach ihren Wünschen ausnutzen zu können, verlockend. Heißt für Regierungen und ihre Zentralbanken, vermehrt Geld auf die Märkte zu bringen, dadurch zwar bedingt eine höhere Inflation zu generieren, so aber der Bevölkerung Arbeit zu beschaffen. Den damaligen deutschen Finanzminister Helmut Schmidt verleitet das im Wahlkampf 1972 zu dem berühmten Satz "Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit!" Umgekehrt wäre Preisstabilität beziehungsweise eine niedrige Inflation nur auf Kosten hoher Arbeitslosigkeit zu haben.
Ein Glaube, der Auftrieb erhält durch die bis zu ersten Wirtschaftskrise 1966/67 nur schwach ausgeprägten konjunkturellen Schwankungen und stetige Vollbeschäftigung, die die Instrumente der Geldpolitik zur Regelung der volkswirtschaftlichen Endnachfrage als ausreichend erscheinen lassen. Dass Keynes selbst oder Hyman Minsky bestritten, Zentralbanken könnten mithilfe des Zinses die Wirtschaft über die privaten Investitionen steuern, scheint vergessen.
Mehr Inflation als ihm lieb ist, bekommt Schmidt mit dem Beginn seiner Kanzlerschaft. Sie schnellt 1974 zum Amtsantritt, der schicksalshaft mit der ersten Ölpreiskrise zusammenfällt, auf 7,0 Prozent. Die Arbeitslosigkeit allerdings steigt – laut Theorie unmöglich – innerhalb eines Jahres von 1,6 im Januar 1973 auf 2,7 Prozent im Januar 1974, dann auf 4,7 Prozent 1975. 1982 bei Schmidts Abgang liegt sie – bei einer Inflation von immer noch 5,2 Prozent – bei ganzen 7,5 Prozent. Die historische Ära der Vollbeschäftigung ist vorbei und hinterlässt allgemeine Rat- und Orientierungslosigkeit.
Dass es für Schmidt nicht schlimmer kommt, sondern die Arbeitslosigkeit zwischenzeitlich immerhin auf 3,8 Prozent gesenkt werden kann, ist der Konjunkturpolitik der Bundesregierung zu verdanken. In der Rezession 1975 gelingt es ihr, mit zwei Konjunkturpaketen im Umfang von 12 Milliarden DM und einer Einkommensteuersenkung von fast 14 Milliarden DM den Anstoß zu einem Wirtschaftswachstum von 5,3 Prozent im Jahr 1976 zu geben. Es folgen weitere Konjunkturprogramme 1977, 1979 und noch einmal 1980.
Doch diese letzte keynesianische Phase fällt in eine Zeit, in der alte Gewissheiten nicht mehr gültig sind. Ein Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, wie von der Phillipskurve behauptet, ist plötzlich nicht mehr zu erkennen und stellt sich auch nicht wieder ein. Weder in den 8 Jahren unter Schmidt noch in der Folgezeit, weder in Deutschland noch in anderen westlichen Ländern. Im Gegenteil, erstmals etabliert sich der Begriff der bis dato unbekannten Stagflation – steigende Inflation selbst bei abnehmender konjunktureller Entwicklung.
Einfallstor für den Monetarismus
Die faktische Widerlegung der keynesianischen Phillipskurve ist das argumentative Einfallstor für den Monetarismus, der seinerseits eine eigene Interpretation der Kurve vorlegt, nicht ohne dabei gleichfalls daneben zu liegen.
Bereits in den späten 1960er Jahren greifen Milton Friedman und Edmund S. Phelps unabhängig voneinander die Fehlinterpretation der Phillips-Kurve an: Noch vor ihrem Zusammenbruch im Zuge der Ölpreiskrise behaupten sie, Geld- und Fiskalpolitik seien lediglich in der Lage, die Inflation zu beeinflussen – nicht jedoch den Beschäftigungsgrad. Grund dafür sei, dass expansive Geldpolitik mittelfristig keine realen Effekte habe, sondern lediglich Inflation bewirke.
Mit anderen Worten werde die Inflationsrate lediglich durch das nominale Wachstum der Geldmenge bestimmt, so die Quantitätstheorie der Monetaristen. Da Arbeitnehmer und Gewerkschaften mehr auf die Real- statt Nominallöhne achten würden und daher inflationäre Entwicklungen auf Lohnsteigerungen angerechneten sehen wollen, wäre eine Lohn-Preis-Spirale die Folge, die letztlich sämtliche Versuche des Staates, die Arbeitslosigkeit unter eine bestimmte Arbeitslosenrate zu drücken, zum Scheitern verurteilen. Konjunkturpolitik, so das aufkommende Credo, entfache nur ein Strohfeuer.
Diese Interpretation ist insofern folgenreich, als sich die Politik im Laufe der 70er Jahre vom Ziel der Vollbeschäftigung verabschiedet. Vollbeschäftigung wird nun gleichgesetzt mit einem orwellschen Euphemismus: Ganz so, als ob Arbeitslose ihre Lage als natürlich empfinden würden, geht man von einer „natürlichen Arbeitslosenquote“ oder auch „inflationsstabilen Arbeitslosenquote“ (NAIRU) aus, die auf einem bestimmten Punkt der Phillipskurve zu finden wäre.
Dass Inflationserwartungen bei der Lohnanpassung wichtig sind, war indes keine neue Erkenntnis der von Friedman 1968 eingeführten sogenannten „erwartungserweiterten“ Phillips-Kurve. Bereits 1955 sah der englische Ökonom Arthur Joseph Brown in seiner Publikation „The Great Inflation“ die Instabilität der Lohn-Arbeitslosen-Gleichung voraus. Dessen ungeachtet ist die monetaristische Phillipskurve der Höhepunkt einer langen Kampagne monetaristischer Ökonomen, um die Quantitätstheorie wieder die Bedeutung zu geben, die sie vor der keynesianischen Revolution hatte.
Die politischen Ereignisse der 1970er Jahre in Deutschland scheinen Friedman erst einmal Recht zu geben. Im Zuge der „Kluncker-Runde“ 1974 setzen die Gewerkschaften inmitten der Ölpreiskrise besonders starke Lohnerhöhungen durch. Im Herbst/Winter zuvor hatte sich der Rohölpreis vervierfacht; die Gewerkschaften argumentieren nun, dass der abzusehende Kaufkraftverlust der D-Mark schon vorab durch diese kräftige Lohnerhöhung kompensiert werden müsse.
Für die Monetaristen bestätigt sich damit, dass die Wirksamkeit staatlicher Nachfragepolitik allenfalls nur kurzfristig ist. Ein langfristiges Abweichen von der „natürlichen“ Arbeitslosenrate sei allenfalls möglich, wenn die Inflationsrate immer stärker und auf unhaltbare Weise zum Steigen gebracht werde. Das ist die Rückkehr zur neoklassischen Theorie des Arbeitsmarktes, nach der in einem sich selbst regulierenden, völlig freien Markt automatisch ein Vollbeschäftigungs-Gleichgewicht entstehe. Bedingung sei nur, dass der Staat nicht durch wirtschaftspolitische Maßnahmen in das Marktgeschehen eingreift und auch die Löhne sich im freien Spiel von Angebot und Nachfrage bilden können. So könnten in einer Konjunkturflaute nur Angebotspolitiken und Lohnsenkungen seitens der Unternehmen zur Vollbeschäftigung zurückführen.
Mit genau diesem Argument erteilt Franz Josef Strauß im November 1974 in seiner Sonthofener Rede der Globalsteuerung der sozialliberalen Koalition eine Absage. Strauß fordert eine „Schocktherapie“, da die Arbeitslosigkeit mit fiskalpolitischen Maßnahmen nur um den Preis einer sich verschärfenden Inflation bekämpft werden könne. Die Therapie heißt für ihn restriktive Geldpolitik in Kombination mit Deregulierung, Privatisierung und Kürzungen in den einzelnen Sektoren des Wohlfahrtsstaates.
Die Botschaft der monetaristischen Phillips-Kurve ist im Kern: Da die Geldpolitik erwiesenermaßen nicht zur Stimulierung des Wirtschaftswachstums genutzt werden könne, solle sie sich auf die Erhaltung der Preisstabilität konzentrieren. Die Aufgabe des Vollbeschäftigungsziels und die Kündigung des Nachkriegskonsenses ist der Preis, den man dafür zahlen zu müssen glaubt.
Und das versucht die Bundesbank nun. In den Jahren 1973, 1975 und 1982 tritt sie mit einer Hochzinspolitik auf die geldpolitische Bremse. Damit schränkt sie zwar die Wirksamkeit der fiskalpolitischen Programme der Regierung ein, die Inflation bekommt sie aber nicht in den Griff.
Genau das aber hätte nach NAIRU funktionieren müssen. Die Bundesbank hätte mit ihrer Zinspolitik Einfluss nehmen und die Inflation unter Kontrolle bekommen können.
Machtverhältnisse in ökonomischen Kategorien
Die Geldmengenpolitik der Bundesbank scheitert. Auch die Monetaristen haben keine Antwort auf die Stagflation. „Die empirischen Beweise haben das Konzept einer zyklisch invarianten NAIRU, das die monetaristische Politikverordnung untermauern soll, in Frage gestellt“, schreiben die Ökonomen Bill Mitchell, L. Randall Wray und Martin Watts in ihrem Lehrbuch „Macoeconomics“. Sie zeigen, dass das, was angeblich die „natürliche Arbeitslosenrate“ sein soll, über die Jahrzehnte ständig neu angepasst wurde und bei veränderten Bedingungen eben nicht unverändert, also invariant blieb.
Als etwa die Arbeitslosenzahlen aufgrund der großen Ölpreissteigerungen Anfang und Mitte der 70er Jahre wachsen, steigen ohne konsistente Erklärung auch die Schätzungen der natürlichen Arbeitslosenrate. „Es zeigte sich“, so Mitchell, Wray und Watts, „dass die besten Schätzungen einer Arbeitslosenquote, die mit einer stabilen Inflation zu jedem Zeitpunkt vereinbar war, sehr zyklisch waren, da sie der tatsächlichen Arbeitslosenquote folgten, die den Konjunkturzyklus widerspiegelt.“ Gut lässt sich das an der Definition des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erkennen: 1967 ist Vollbeschäftigung erst bei 0,8 Prozent Arbeitslosigkeit erreicht, heute soll sie das in Deutschland schon bei 5 Prozent sein.
Der Phillipskurve haben Mitchell, Wray und Watts ein ganzes Kapitel gewidmet und weisen für die Zeiträume 1948-69, 1970-80 und 1981-2015 am Beispiel der USA deren Instabilität nach. Zeigen die Daten für die Periode 1948-69 noch einen einfachen Zusammenhang zwischen Inflationsrate und Arbeitslosenquote, ändert sich dies in den folgenden Jahrzehnten.
Schon die Beobachtungen für 1970 bis 1980 stimmen nicht mehr mit einer stabilen Phillips-Kurve überein. War die scheinbare positive, die Stagflation abbildende, Verschiebung der Phillips-Kurve für die Monetaristen noch der Beweis, dass das keynesianische Modell fehlerhaft sei, wurde es dann in den 1980er Jahren, als die Inflation wieder nachließ, schwierig, überhaupt einen Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit in der US-Wirtschaft zu bestimmen.
Einmal mehr zeigt sich, dass sich vermeintliche ökonomische Gesetzmäßigkeiten mit den realpolitischen Gegebenheiten ändern. Und mit den politischen Machtverhältnissen, wie der polnische Ökonom Michał Kalecki erkannte. Bereits 1943 wies er darauf hin, dass die Einkommensverteilung zu einem wesentlichen Teil auch von den relativen Kräfteverhältnissen der Konfliktparteien bestimmt werden. Diese Kräfteverhältnisse, entscheidend von der Situation auf dem Arbeitsmarkt beeinflusst, finden bei Kalecki Ausdruck im sogenannten Monopolgrad. Ein Begriff, der bereits von Abba Lerner verwendet und von Erich Preiser als „die Übersetzung historischer Machtverhältnisse in ökonomische Kategorien“ bezeichnet wurde.
„Das Big Business“, schreibt Kalecki, „hat Bedenken gegenüber einer Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung durch Staatsausgaben. Es hat diese Haltung während der großen Depression der dreißiger Jahre klar zum Ausdruck gebracht, indem es sich Experimenten zur Beschäftigungserhöhung einhellig widersetzte – und zwar in allen Ländern mit Ausnahme Nazi-Deutschlands.“
Kalecki stirbt 1970 in Warschau und erlebt die „Schocktherapien“ nicht mehr mit, die bald darauf in der westlichen Hemisphäre die Macht der Gewerkschaften brechen. Die Arbeitsmärkte, die nun schrittweise flexibilisiert werden, und der Strukturwandel in den Industriestaaten schwächen die Fähigkeit der Arbeiter, hohe Löhne durchzusetzen.
Schon deshalb irrte Friedman, als er von einer statischen Gesetzmäßigkeit der Lohnpreisspirale ausging. Die Geschichte der Phillipskurve ist ein Lehrstück dafür, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung nicht anhand von wirklichkeitsfernen ökonometrischen Modellen beschreiben oder prognostizieren lässt. Wirtschaftswissenschaft ist keine Natur- sondern eine Sozialwissenschaft, die Machtverhältnisse berücksichtigen muss. Und die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass sich die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten genauso ändern wie die Wirklichkeit selbst.
Return of the living dead
Tot ist die Phillipskurve in der herrschenden Lehre dennoch nicht. Moderne Geldpolitik beruht darauf, durch die Wahl eines geeigneten Zinsniveaus eine niedrige Inflationsrate zu erreichen, bei der die Wirtschaft ansehnlich wächst. Bricht der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Inflationsrate allerdings zusammen, verliert in dieser Modellwelt die Zentralbank die Kontrolle über die Inflationsrate.
Genau das aber lässt sich nicht zuletzt an der Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008 belegen: Die EZB schafft es noch nicht einmal, das Inflationsziel von 2 Prozent per annum zu erreichen. Trotz Nullzinspolitik der EZB herrscht nicht Inflations- sondern Deflationsgefahr. Die Wirtschaft der Eurozone lässt sich durch die expansive Geldpolitik alleine nicht weiter stimulieren.
Noch 2017 hatte sich der damalige EZB-Präsident Mario Draghi überzeugt gezeigt, dass die Inflationsraten in der Eurozone wieder anziehen würden, wenn sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt verbessert. Allerdings machte Draghi die Rechnung ohne den Weltmeister des Niedriglohnsektors – Deutschland. Trotz niedriger Arbeitslosenzahlen lag die deutsche Inflationsrate seit der Finanzkrise meist unter 2 Prozent.
Ein Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Inflationsrate ist zwar nachzuweisen, jedoch in anderer Abhängigkeit als in der Modellwelt angenommen: Die Niedrigzinspolitik ist Reaktion auf das schwache Wirtschaftswachstum und nicht umgekehrt. Anders formuliert: Die Korrelation zwischen BIP und Zinssatz zeigt nicht, dass die Geldpolitik agiert, sondern dass sie reagiert. Diese Reaktion kann sowohl stabilisierende (Eurokrise) als auch destruktive Formen (Ölpreiskrisen) annehmen.
Daraus folgt nicht, dass Geldpolitik überflüssig oder sinnlos wäre. Aber sie muss neu gedacht werden. Vor allem lässt sich die Geld- niemals von der Fiskal- und Lohnpolitik lösen, sondern ist nur im Zusammenspiel mit dieser wirksam.