Ein Staatshaushalt ohne Zinsen?
Zinskosten sind aus berechtigten Gründen in großen Teilen des politischen Spektrums unbeliebt. Könnte man sie abschaffen?
Noch mehr als Staatsschulden selbst hat Ex-Finanzminister Christian Lindner die damit verbundenen Zinskosten im Bundeshaushalt verteufelt. Auch in der deutschen Ökonomenzunft sind sie verpönt: vom konservativen bis zum progressiven Lager. Zurecht?
Durchaus. Denn Zinsausgaben verkleinern den Spielraum für andere Ausgaben unter der Schuldenbremse. Und sie sind chronisch unproduktiv. Sie fließen eben nicht zu den Leuten, die das Geld zum Bäcker oder zum Friseur tragen; sondern zu denen, die damit nur wieder andere Finanzprodukte kaufen: Banken, Versicherungen, Fonds, die Zentralbank – und ein paar wohlhabende Privatanleger. Zinsausgaben landen anders als Sozialausgaben also nicht in der Realwirtschaft, erzeugen keine neuen Jobs und keinen neuen Wohlstand. Andererseits sollte man das Problem aber auch nicht überhöhen, denn auch andere Ausgaben aus dem Haushalt sind chronisch unproduktiv.
Zinskosten seit 2021 verzehnfacht?
Während seiner Amtszeit ist Christian Lindner mit einer Schreckensnachricht durch die Talkshows und Zeitungen gezogen. Die Zinslast im Bundeshaushalt habe sich verzehnfacht von vier Milliarden Euro im Jahr 2021 auf fast 40 Milliarden 2023. "Das ist Geld, das an anderer Stelle fehlt", sagte der FDP-Chef. Das allein würde gegen ein Aussetzen oder Aufweichen der Schuldenbremse sprechen. Immer und immer wieder hat er es so vorgetragen.
Dabei war das eine rhetorische Manipulation. Zu Nutze machte er sich eine weitgehend unbekannte Buchungsregel, nach der Auktionsverluste beim Verkauf von Anleihen vollständig als Ausgaben in das Verkaufsjahr gebucht werden. Und da die Bundesregierung trotz gestiegener Zinsen noch immer langjährige Anleihen zu kleinen oder gar keinen Zinsen verauktionierte, entstanden große Verluste bei den Auktionen. Andersherum war es bei seinem Vorgänger im Finanzministerium: Olaf Scholz. Der machte sogar Auktionsgewinne, weil die Banken wegen der Strafzinsen bereit waren, dem Finanzminister die Anleihen zu Preisen über dem Nennwert abzukaufen.
International ist es üblich, die Auktionsgewinne oder -verluste jeweils über die Laufzeit der Anleihen zu verteilen. Bei einer zehnjährigen Anleihe wird der Betrag also zu gleichen Teilen auf zehn Jahre aufgeteilt – genauso wie die jährlichen Zinskosten der Anleihen. Periodengerechte Verbuchung nennt man das.
Nur in Deutschland wurde anders gehandelt – zumindest bisher. Zum Jahreswechsel wird die Praxis geändert und Auktionsverluste gestreckt, statt in voller Höhe in das Verkaufsjahr zu buchen.
Um ein Gefühl für die Zahlen zu bekommen: Nach der neuen Buchungsregel hätten die Zinskosten 2021 nicht bei vier, sondern bei knapp unter 20 Milliarden Euro gelegen. Und wie das Ministerium auf Anfrage der Linken im Bundestag selbst antwortete, wären die Zinskosten 2023 mit einer periodengerechten Verbuchung 17 Milliarden Euro geringer gewesen:
"Die Bundesregierung hat die Zinsausgaben des Jahres 2023 für den Entwurf des Nachtragshaushalts 2023 mit 36,83 Milliarden Euro geschätzt. Würden die Zinsausgaben des Jahres 2023 periodengerecht abgegrenzt verbucht, läge dieser Wert um 16,99 Milliarden Euro niedriger bei 19,84 Milliarden Euro.“
Lindner hat die Buchungsregel nicht gefunden, aber für sich zur Verteidigung der Schuldenbremse genutzt. Denn hohe Schulden, so Lindner, führten zu hohen Zinskosten – und dann sei weniger Geld für andere Sachen im Haushalt übrig, was ja unverantwortlich sei.
Was stimmt: Jeder Euro für Zinsen fehlt unter der Schuldenbremse für andere Ausgaben. Was Lindner verschweigt: Deutschlands Zinskosten sind nicht gestiegen, weil die Schulden so hoch sind und alle Anleger Angst vor einer Pleite Deutschlands haben, sondern weil die Zentralbank in Reaktion auf die Inflation den Leitzins angehoben hat. Japans Staat hat vier Mal mehr Schulden als Deutschland, aber zahlt weniger Zinsen, weil die Zentralbank Leitzins seit drei Jahrzehnten nahe null hält – und ihn anders als die Europäische Zentralbank und die Federal Reserve Bank auch in der Energiepreiskrise nicht schlagartig erhöht hat.
Muss ein Staat wirklich Zinsen zahlen?
Was allerdings nie hinterfragt wird: Ist es unbedingt notwendig, dass der Staat Zinsen zahlt? Ja, lautet die Antwort, solange er Staatsanleihen an private Banken verkaufen muss, um sein Konto bei der Bundesbank aufzufüllen. Nach den heutigen Spielregeln also schon.
Das wiederum führt aber zu der Frage, ob es unbedingt notwendig ist, dass der Staat Staatsanleihen an private Banken verkauft. Nein, lautet hier die Antwort, zumindest aus ökonomischer Sicht.
Der Staat könnte die Anleihen auch direkt an die Zentralbank verkaufen und so sein Konto füllen. Und da alle Gewinne der Zentralbank an ihre Eigentümer (bei der EZB also die Euro-Länder) ausgeschüttet werden, würden alle Zinsausgaben des Staates später wieder als Gewinnausschüttung der Zentralbank zurückkommen – rechte Tasche, linke Tasche.
Verkauft die Zentralbank die Anleihen allerdings weiter, würden die Zinsausgaben wieder an Banken und private Anleger fließen – damit wäre also nicht viel gewonnen. Außer die Zentralbank würde dem Staat immer und ausnahmslos zinslose Anleihen zum Ausgabewert abkaufen. Dann gäbe es keine Zinskosten für den Staatshaushalt.
Wohlgemerkt: Rechtlich ist es in der Eurozone untersagt, Anleihen direkt an die Zentralbank zu verkaufen. Monetäre Staatsfinanzierung ist der Fachbegriff dafür. Untersagt hat man das, weil neoliberale Ökonomen ihre Dogmen in den EU-Verträgen verankern konnten.
Der Hintergedanke: Wenn Staaten ihre Anleihen an private profitorientierte Banken verkaufen müssen, dann haben diese Banken einen ökonomischen Anreiz, die Haushaltspolitik der Staaten zu kontrollieren und zu disziplinieren, indem sie hochverschuldeten Staaten die Anleihen nur gegen hohe Zinsaufschläge abkaufen. Deshalb musste Griechenland 2014 Anleihen verkaufen, die den Banken fast 30 Prozent Zinsen einbrachten.
Im Klartext: Banken sollen Staaten kontrollieren, das Profitmotiv soll also demokratisch gewählte Regierungen in Schach halten. Da die Zentralbank in Krisen aber immer große Anleihekaufprogramme auflegt und die Banken die Anleihen dann bei der Zentralbank abladen können, funktionieren die Anreize nicht einmal so, wie neoliberale Ökonomen es sich vorstellen.
In der Coronakrise musste Griechenland trotz mieser Wirtschaft, Massenarbeitslosigkeit und einem identischem Schuldenstand wie noch 2014 (180 Prozent vom BIP) nur ein Prozent an Zinsen zahlen (im Vergleich zu 30 Prozent in 2014). Warum? Weil die EZB den Banken garantiert hat, ihnen im Zweifel alle Anleihen abzunehmen.
Der ökonomische Anreiz für die Banken ist dann de facto tot. Sie haben in Krisen kein Risiko, dürfen aber in normalen Zeiten durch das Verbot monetärer Staatsfinanzierung enorme Profite einheimsen. Was ein Privileg!
Und wenn der Staat keine Anleihen mehr verkauft?
Aber, weiter gefragt, und jetzt wird es erst wirklich spannend: Ist es eigentlich unbedingt notwendig, dass ein Staat Anleihen verkauft? Nein, ist es nicht. Theoretisch könnte Christian Lindner sein Konto bei der Bundesbank (Geschäftsstelle der Zentralbank) ins grenzenlose überziehen. Dann stünden die 2,5 Billionen Euro von der Schuldenuhr auch auf seinem Bundesbankkonto. Das wäre, als wenn für jede Ausgabe neues Geld gedruckt und mit jeder Steuereinnahme das gedruckte Geld wieder zerrissen und im Papierkorb entsorgt würde.
Der Vorteil: Zinsen müsste Lindner nicht zahlen. Das Geld wäre im Haushalt frei für andere Ausgaben. Und Schulden – im umgangssprachlichen Sinne, dass man wem anderes eine Zahlung schuldet – wären es auch nicht. Denn der Bundesbank müsste Lindner das Geld nicht zurückzahlen, sie hat es auf Knopfdruck erzeugt und erwartet nichts zurück.
Für die Wirtschaft würde all das keinen großen Unterschied machen, denn ob vorher Anleihen verkauft werden oder nicht, ist für die Wirkung der Ausgaben egal. Jede Ausgabe – ob für Beamte, Rentner oder Brücken und Schulen – würde weiterhin auf dem privaten Konto der Zahlungsempfänger landen und dort für zusätzliche Kaufkraft sorgen. So wie heute auch.
Allerdings verlören die Banken eine Möglichkeit, ihr Geld anzulegen. Wären die Banken dann sauer? Ja. Ist das schlimm? Nicht wirklich. Müssen sie sich halt andere Anlage suchen.
Überhaupt stellt sich dadurch die Frage: Warum schenkt der Staat heute Anlegern Geld für eine de facto risikolose Anlage (Staatsanleihe)?
Was das für die Geldpolitik bedeutete
Die Zentralbank hätte allerdings ein Problem. Denn sie nutzt die Staatsanleihen für das Mikromanagement ihrer Geldpolitik. Mit dem Leitzins und dem Einlagezins, den sie festlegt, kann sie zwar direkt die Zinsen für Anlagen über kurze Fristen beeinflussen, allerdings nicht für solche über lange Fristen. Dafür kauft und verkauft die Zentralbank üblicherweise 10- oder 30-jährige Anleihen. Die gelten als risikolose Benchmark für alle langfristigen Kredite und Investitionen.
Beispiel: Eine Bank vergibt einen Immobilienkredit mit 20 Jahren Laufzeit niemals für einen geringeren Zins als eine Anleihe mit 20 Jahren Restlaufzeit bringen würde. Der Kredit ist riskanter als die Anleihe, würde aber weniger einbringen, das wäre unwirtschaftlich. Jeder Kredit und jede Anlage muss sich gegen die risikolose Alternative rechnen. Je höher (niedriger) die risikolose Benchmarkt (Anleihe), desto höher (niedriger) die Zinskosten auf lange Frist.
Dieses gewiss kleine Problem ließe sich aber einfach lösen. Man könnte der Zentralbank erlauben, eigene Anleihen herauszugeben. Über den Einlagezins, den Banken für ihre Guthaben bei der Zentralbank bekommen, würde sie dann das Zinsniveau am kurzen Ende steuern; und über eigene Anleihen mit selbstbestimmten Laufzeiten und Zinsen würde sie das Zinsniveau am langen Ende steuern können. Oder, noch langweiliger: Die Zentralbank ermöglicht Banken eigene Termineinlagen bei der Zentralbank, also Spar- statt Girokonten, und legt dafür die Zinsen so fest, wie sie es für ihre Geldpolitik braucht.
Beide Varianten wären für die Zentralbank besser als der Status quo. Denn die Logik, nach der der Finanzminister Anleihen verkauft, passt nicht zur Logik, die die Zentralbank für ihre Geldpolitik anwendet. Der Finanzminister verkauft Anleihen so, dass möglichst wenig Zinskosten entstehen. Der Finanzminister verkauft mehr einjährige Anleihen, wenn es danach mehr Nachfrage gibt und die Zinsen günstiger sind; und mehr 30-jährige Anleihen, wenn die gerade günstiger sind. Wenn dadurch aber zu wenige langlaufende Anleihen auf dem Markt sind, kann die Zentralbank auch weniger davon handeln und das Zinsniveau am langen Ende entsprechend schwieriger steuern. Für die Zentralbank wäre es also ein Segen, wenn sie eigene Anleihen nach eigenen Zielen ausgeben dürfte.
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Klaus Diekmann | 19. November 2024
Die Demokratie würde profitieren
Ein weiterer Vorteil, wenn der Finanzminister sein Konto überzieht, statt Anleihen zu verkaufen: Für Wähler wäre deutlich einfacher zu verstehen, wofür wie viel Geld da ist und wofür nicht. Vielleicht ließe sich so die irrationale Angst vor Staatsschulden kollektiv therapieren. Zumindest aber ließen sich all die konservativen Mythen leichter entlarven. Immerhin. Beides würde die Debatten ehrlicher und nachvollziehbarer machen. Ein Segen für die Demokratie!
Um einem Missverständnis vorzugreifen: Eine solche Reform wäre völlig unabhängig von der Schuldenbremse. Die könnte genauso weiter existieren und den Staat einschränken wie heute, auch wenn wenig dafürspricht. Wer gegen diese Vereinfachung der Staatsfinanzierung mit der Sorge vor „unendlichen Schulden“ agitiert, kämpft gegen selbst errichtete Strohmänner. Ob ein Staat Anleihen verkauft oder nicht, ist eine andere Frage als die, wie viele neue Schulden er machen darf – beziehungsweise machen soll.
Zum Schluss: Ist eine solche Reform realistisch? Nein, natürlich nicht. Dafür verstehen Bevölkerung wie Entscheidungsträger zu wenig vom Geldsystem und würden jeden, der das fordert, gleich vom Hof jagen. Bevor fortschrittliche Politiker so etwas fordern, muss viel Aufklärung geleistet werden. Auch bei den fortschrittlichen Politikern selbst. Bitter, aber wahr.