Ein UFO ist gelandet: Der Libertarismus kommt nach Europa
Alles, was in den USA entsteht, landet mit einiger Verzögerung auch auf dem alten Kontinent. An Bord von Elon Musks Raumschiff befindet sich der Libertarismus, der sich jetzt anschickt, Deutschland und Europa aufzumischen.
Commander Musk hat mit seinem Gastbeitrag in der WELT, der einen Wahlaufruf für die AfD enthielt, für erheblichen Wirbel in der politischen und journalistischen Klasse in Deutschland gesorgt. Unstatthafte „Wahleinmischung“, so echauffiert man sich allerorten. Lassen wir beiseite, dass man sich in Deutschland vor der US-Wahl wochenlang in jeder Talkshow, in allen möglichen Interviews, in allen Kommentaren mächtig in die Wahl „eingemischt“ hat und vor dem Gruselkandidaten Donald Trump gewarnt hat. Lassen wir beiseite, dass in einer globalisierten Welt nationale Innenpolitik zu internationaler Innenpolitik wird, wenn schon Globalisierung, dann richtig. Lassen wir auch beiseite, dass man sich in Europa und Deutschland ständig in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten „einmischt“ und sie für ungebührliches Verhalten be- und abstraft, sanktioniert und ächtet.
Dabei könnten dem verbalen Geschäume einfache praktische Taten folgen. Die Grünen könnten zum Kaufboykott von Tesla-PKWs aufrufen. All die Tesla-Fahrer könnten Aufkleber und Fähnchen an ihren Autos anbringen, auf denen steht „Ich verurteile Musk“ oder „Ich verurteile Musks Wahleinmischung“ oder gar „Ich schäme mich, einen Tesla zu fahren“. Die SPD in Brandenburg könnte sich daran machen, Schritte zum Abbau des Tesla-Werks in Grünheide einzuleiten und sich im Gesicht röten, dass man noch vor wenigen Jahren die Ansiedlung als grandiosen industriepolitischen Erfolg gefeiert hat. Und all die X-Nutzer – voran der Kanzler – könnten eine gemeinsame Erklärung verfassen, in der sie erklären, aus der X-Gemeinde auszutreten. – Aber, wie so oft in diesen Zeiten, Nutzen schlägt im Zweifelsfall Moral.
Mit der Landung von Commander Musk in Deutschland und Europa kündigt sich etwas an, das in den bisherigen Aufgeregtheiten gänzlich untergangen ist. An Bord des UFOs befindet sich ein Import aus den USA, der noch weit über die politischen und makroökonomischen Probleme, die Europa mit den USA hat, hinausgehen dürfte. Es soll ja ein Gesetz geben – nicht mathematisch-physikalischer oder juristischer Art –, das da lautet, alles, was in den USA entsteht, landet mit einiger Verzögerung auch auf dem alten Kontinent. An Bord von Elon Musks Raumschiff befindet sich der Libertarismus, der in den USA eine beachtliche Ausbreitung gefunden hat und sich jetzt anschickt, Deutschland und Europa aufzumischen.
Es gibt hiesige Erdenbewohner, die bei der Ankunft von Musks Raumschiff nicht wie die Hühner aufgeschreckt waren, sondern ganz im Gegenteil den bekannten-unbekannten Ankömmling fähnchenschwingend und euphorisch willkommen geheißen haben. Diese Erdenbewohner gehören zwei Stämmen an, der eine Stamm sammelt sich unter der Fahne der Freiheit (FDP), der andere Stamm unter der Fahne des Nationalismus (AfD).
Die einen, die Freiheitlichen, haben schon im Vorfeld von Musks Ankunft für ideologischen Girlandenschmuck gesorgt. Der Parteivorsitzende der FDP bekundete in den Wochen nach seinem persönlichen Desaster bei der Regierungsauflösung, dass in Deutschland „mehr Musk und Milei“ – gegenwärtig international die beiden prominentesten Libertären – gewagt werden müsse. Was genau Christian Lindner mit diesem Vorschlag meinte, der wohl Disruption hinauslief, blieb im Dunkeln. Konkreter war ein zweiter Vorschlag, die Europäische Zentralbank (EZB) möge doch das Lieblingsgeld der Libertären und Musks, den Bitcoin, in ihre Reserven nehmen, schließlich sei dessen „Wert“ in den letzten Wochen geradezu explodiert. Die EZB als profitmaximierendes Unternehmen. Lindner hätte auch vorschlagen können, die EZB solle wöchentlich, statt europäische Staatsanleihen zu kaufen, beträchtliche Summen im spanischen Lotto und im Spielcasino von Monaco „investieren“.
Der andere Stamm, die Nationalisten, predigt schon seit Jahren eine libertäre Botschaft, die Auflösung der Europäischen Union (EU), dem Gedanken folgend, dass die Sezession das Allheilmittel für die Ausbreitung des Libertarismus sei. Auch das wird Commander Musk wohlgefällig gewesen sein.
Libertarismus, weil der Liberalismus versagt habe
Auch den etwas profunderen Kommentaren zu Musks Intervention in der WELT merkte man an, dass der Begriff des Libertarismus – im Selbstverständnis seiner Vertreter synonym mit Paläolibertarismus, Anarchokapitalismus und Privatrechtsgesellschaft u.a. – hierzulande im Thesaurus noch ein Exot ist. Selbst Experten haben nicht den Hauch einer Ahnung, für was Libertarismus steht. Deshalb hier einige geraffte Informationen. Der Begriff ist in der Tat sperrig, er geht darauf zurück, dass sich seine Vertreter in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vom Liberalismus abgrenzen wollten, da der in eine ideologische und politische Moorlandschaft geraten wäre. Das galt nicht nur dafür, dass in den USA liberal weitgehend mit sozialdemokratisch konnotiert wurde, sondern auch für aufkeimende theoretische Differenzen innerhalb der liberalen Gemeinde.
Zunächst zur ideengeschichtlichen Genealogie. Ausgangspunkt ist die nutzentheoretische Revolution, eingeleitet von Carl Menger mit der subjektivistischen Wertlehre Ende des 19. Jahrhunderts. Wert entstand nicht mehr in Fabriken, sondern am Markt. Mit ihr wurde der Ricardianischen und Marxschen Wertlehre, so die Libertären, der „Todesstoß“ versetzt. Menger folgten Eugen von Böhm-Bawerk, der die Kapitaltheorie hinzufügte, und Ludwig von Mises, der die neubegründete Volkswirtschaftslehre in seinem opus magnum, Human Action (1949), auf tausend Seiten zu einer umfassenden Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie (Eigentum als Zentral- und Ausgangsaxiom, Logik des Handelns und Praxeologie) weiterführte. Das Dreigestirn Menger-Böhm-Bawerk-Mises bildet den zentralen Baumstamm der sogenannten Österreichischen Schule.
Nach Mises‘ Auswanderung in die USA (1940) begann in den fünfziger Jahren die Entstehungsgeschichte des Libertarismus. Sie ist eng mit dem Namen Murray N. Rothbards (1926-1995) verbunden, der an Mises‘ Seminar an der New York University teilnahm. Rothbard gilt als der „Meister“ oder „Godfather“ des Libertarismus. Die entscheidende Weiterentwicklung der (wirtschaftstheoretischen) Österreichischen Schule zum (politischen) Libertarismus durch Rothbard bestand aus dem Grundaxiom, dass eine Gesellschaft auch ohne Staat funktionieren kann (deshalb auch Anarchokapitalismus).
Das Axiom geht von dem Eigentumsbegriff, schon für Mises der Zentralbegriff (vgl. seine Schrift Liberalismus aus dem Jahr 1927), aus und leitet daraus alle Bestandteile, Schlussfolgerungen und Maßnahmen einer politischen Theorie ab. Rothbards opus magnum, Man, Economy and State (1962), stellt in gewisser Weise das Gründungsmanifest des Libertarismus dar. Der Liberalismus habe versagt und sei in eine Sackgasse geraten, weil er an der These festhielt, dass die Marktwirtschaft eines Minimalstaates als Gewaltapparat bedürfe, um zu funktionieren. Auch Mises tat dies noch, insofern ist die Abschaffung des Staates und der Übergang zu einer reinen Eigentums- und Marktgesellschaft der qualitative Sprung zur libertären Theorie. Rothbard und seine Gefolgsleute „wiesen nach“, dass sich selbst die Staatsfunktionen der Rechtsetzung, des inneren Gewaltmonopols und der äußeren Verteidigung privatisieren ließen und als profitorientierte Unternehmen funktionieren könnten.
Nach Rothbards Tod Mitte der neunziger Jahre übernahm sein Adlatus Hans-Herrmann Hoppe, ein Deutscher, ehemaliger Promovend von Habermas und Rothbard-Schüler, den Staffelstab und trug das Banner des Libertarismus weiter. In seinem opus magnum, Demokratie. Der Gott, der keiner ist. Monarchie, Demokratie und natürliche Ordnung (Englisch erstmals 2001), historisierte und politisierte er den Rothbardschen Libertarismus weiter, zog umfangreiche geschichtsrevisionistische Schlussfolgerungen und radikalisierte die politischen Aussagen. Nur zwei seien davon benannt:
1) Die Demokratie sei eine verabscheuenswerte Staatsform mit einem territorialen Monopol auf Rechtsetzung und Diebstahl an Privateigentum durch Besteuerung, die selbst der Monarchie unterlegen sei, da ein Monarch sein Reich privat (wie ein Unternehmen) führe und auf Erweiterung seines Eigentums und Reichtums aus sei. Die Konsequenz könne nur daraus bestehen, die Demokratie zu delegitimieren.
2) Die politische Umsetzung des Libertarismus läge in der Sezessionslogik. Hoppe: „Wie ihre Vorgänger streben die neuen Liberalen (vulgo die Libertären, d. Verf.) nicht nach Regierungsübernahme.“ Durch innere Zellteilung von Staatengemeinschaften wie dem etatistischen Projekt der EU oder bestehender Nationalstaaten könnte via Sezession „die Vision einer Welt aus Zehntausenden freier Länder, Regionen, Kantone, von Hundertausenden freier Städte (…) wirtschaftlich integriert durch freien Handel (…) und einen internationalen Gold-Warengeld-Standard“ wahr werden.
Bis zu dieser Stelle mag es verwundern, dass der Name einer anderen österreichischen Magnifizenz, der Friedrich August von Hayeks, nicht aufgetaucht ist. Das hat seine Gründe. Des Geheimnis Lüftung: Hayek wurde von den Libertären aus der Österreichischen Schule exkommuniziert, und das in ganzer Hinsicht. Geschichtsphilosophisch, weil er mit seiner Theorie der Spontanen Ordnung von einem diffusen, instinktgetriebenen Menschenbild ausgegangen sei. Erkenntnistheoretisch, weil er die axiomatisch-deduktive Methode Mises‘, die Wirtschaft aus wenigen Faktoren ableitet, abgelehnt habe. Und politisch, weil er ein Vertreter der Minimalstaatstheorie gewesen sei, die den Armen, den aus dem Markt Ausgeschiedenen, ein Mindesteinkommen gestatten wollte und das Zwangsmonopol auf Besteuerung sowie innere und äußere Gewalt für sinnvoll hielt. Greifen wir das Politische heraus und hören Hoppe: Hayek ist nur ein „moderater (rechter) Sozialdemokrat“ – eine Qualifizierung, die den einen (Sozialdemokraten) wie den anderen (Freidemokraten) zu denken geben sollte.
Der Libertarismus hat einen beachtlichen Aufschwung erfahren
Kommen wir zurück zu Commander Musk. Ob Musk all das soeben Skizzierte gelesen und zur Kenntnis genommen hat, sei dahingestellt. Jedenfalls hat der Libertarismus in den USA seit den achtziger Jahren einen beachtlichen Aufschwung erfahren. Ein Meilenstein war die 1982 erfolgte Gründung des Ludwig von Mises Institute for Austrian Economics durch Lew Rockwell, einen Libertären der ersten Stunde, unterstützt von Murray Rothbard; es folgten weltweit weitere Gründungen, auch in Deutschland. Mächtig in Mode gekommen in den USA ist das bekennerhafte Outing zum Libertarismus durch High-Tech-Oligarchen wie Elon Musk und Peter Thiel und Finanzenmagnaten wie den Koch-Brüdern. Und schließlich: Seit 1971 gibt es in den USA eine libertäre Partei, die allerdings bislang wenig beachtet wird und politisch im Niemandsland dümpelt.
In Deutschland kann der Libertarismus, wie erwähnt, an zwei Parteien andocken. Die AfD qualifiziert sich durch ihre Sezessionsphilosophie, hat aber ein stinkiges nationalistisches Etatismus-Problem. Bei der FDP hängen ausweislich von Pressefotos gerne Hayek-Plakate in den Bürostuben. Sie sollten ersetzt werden durch – wahlweise – Mises- oder Rothbard-Plakate. Hoppe dazu:
„Der Übergang vom Liberalismus zum Privateigentumsanarchismus (ist, d. Verf.) nur ein kleiner intellektueller Schritt. (…) Privateigentumsanarchismus ist lediglich konsequenter Liberalismus, Liberalismus bis zur letzten Konsequenz durchdacht oder zu seiner ursprünglichen Absicht zurückkehrend.“
In Rechnung zu stellen ist, dass der Libertarismus – wie alle Großtheorien, Ideologien und Utopien – ein Monumentalmosaik darstellt, aus dem man sich, wie aus einem Steinbruch, politisch passende Teile herausbrechen kann. Staatsfeindlichkeit und Entstaatlichung sind allemal geeignet dafür, der Ton wäre aber zu schärfen und über die bisher so flauschigen Forderungen nach Entbürokratisierung hinauszutreiben.
An seinem Ursprungsort, auf dem amerikanischen Kontinent (Norden und Süden), ist dem Libertarismus neuerdings ein Problem zugewachsen, das seine bisherige Sezessionsstrategie, wenn nicht in Frage stellt, so doch ergänzungsbedürftig macht. Vertreter der Bewegung haben die Zinnen der Macht erklommen. Was Commander Musk in seiner Funktion als Regierungsbeauftragter für Staatsabbau alles in den Sinn kommt, wird man sehen. Auch wird man sehen, was der Militärisch-Industrielle Komplex, dessen Kind er selbst ist, davon halten wird. Einige tausend Kilometer weiter südlich lässt sich schon die Praxis des Libertarismus beobachten. Javier Milei hat die Staatszerstörung schon ein ganzes Stück vorangetrieben, vertrackte Aufgaben wie die Zerstörung der Zentralbank – Zentralbanken sind die geldpolitischen Hauptfeinde der Libertären – warten aber noch. Bis zur Renaissance des Goldstandards, dem für die Libertären idealen Geldsystem, wird es noch ein langer Weg sein.
Prognose: So abenteuerlich der Libertarismus auch erscheinen mag, in seinen Theoretisierungen wie in seinen praktischen Vorschlägen, er dürfte noch nicht am Ende sein.