Kriegsausgaben

Was wird aus Russlands Kriegskeynesianismus?

| 07. Januar 2025
IMAGO / ITAR-TASS

In Russland spitzt sich der Konflikt zwischen immer höheren Kriegsausgaben und den Prinzipien konservativer Geld- und Fiskalpolitik zu. Hat der Krieg eine strategische Wende der russischen Wirtschaft eingeläutet?

Seit Beginn des offenen Krieges in der Ukraine werden die massiven öffentlichen Ausgaben Russlands als „militärischer Keynesianismus“ beschrieben. Im Jahr 2024 erreichten die Militär- und Sicherheitsausgaben 40 Prozent des Staatshaushalts. Dazu gehören verschiedene Zahlungen an Soldaten und deren Familien. Doch die Diskussion über den russischen Kriegskeynesianismus unterschätzt bzw. verharmlost die Konflikte innerhalb der Elite, wobei insbesondere die Geldpolitik der russischen Zentralbank (ZB) im Fokus steht.

Eskalierende Meinungsverschiedenheiten über die Geldpolitik

Im Oktober 2024 erreichten der Streit über die russische Geldpolitik einen rhetorischen Tiefpunkt, als der Chef der Staatsbank VTB, Andrei Kostin, auf vermeintliche irrationale Stimmungsschwankungen der Gouverneurin der Zentralbank, Elwira Nabiullina, verwies und meinte: „Wo Frauen den Prozess anführen, gibt es wenig, was unmöglich ist.“ Die Gegner der ZB-Geldpolitik gerieten in Aufruhr, nachdem die Bank ihren Leitzins auf 21 Prozent angehoben hatte, ein Höchststand seit zwei Jahrzehnten. Darüber hinaus schloss die ZB eine weitere Zinserhöhung auf 23,0 Prozent oder 23,5 Prozent für Dezember nicht aus, auf die sie dann aber verzichtete. Bei einer Inflation von 8,6 Prozent im Oktober bedeutet der Leitzins von 21,0 Prozent einen Realzins von 12,4 Prozent, einen der höchsten der Welt. Der russische Aktienmarkt reagierte unmittelbar auf die Zinserhöhung im Oktober mit einem Verlust von mehr als 6 Prozent.

Die Zinsentscheidung der ZB signalisiert, dass ihre Geldpolitik die Ausgaben der Regierung nicht auf unbestimmte Zeit zu stützen bereit ist, wenn dies zu einem nachhaltigen Anstieg der Inflation führt. Zudem hält die Bank an ihrem Vorkriegs-Inflationsziel von 4 Prozent fest, dem sie zumindest nahekommen will. Ihre Führung rechtfertigt den hohen Leitzins damit, dass die Inflation anders nicht unter Kontrolle gebracht werden könne. Denn die gestiegene Nachfrage werde durch die Wirtschaft nicht gedeckt, die bereits am Rand einer Überhitzung stünde. Als Gründe für das unzureichende Angebot werden der massive Arbeitskräftemangel sowie „logistische Engpässe“ und „immer komplexere Lieferketten“ aufgrund westlicher Sanktionen genannt. Zudem hätte die frühere Lockerung der Regulierung es den Banken ermöglicht, die Kreditvergabe massiv zu erhöhen, ohne auf eine liquide Vermögensstruktur zu achten und entsprechende Rücklagen zu bilden.

Nabiullina wird bei ihren Einschätzungen von German Gref unterstützt. Gref war von 2000 bis 2007 Wirtschaftsminister unter Präsident Wladimir Putin und hatte die neoliberalen Reformen, die in den 1990er-Jahren ins Stocken geraten waren, als „Strategie 2010“ fortgesetzt. Nachdem Gref im Wirtschaftsministerium von Nabiullina abgelöst worden war, wurde der Ökonom zum Chef der staatlichen Sberbank[1] ernannt, heute das führende Kreditinstitut Russlands, das er zu einem Technologiekonzern umbaute. Rückhalt findet diese Geldpolitik aber auch bei Putin selbst, der von der Hyperinflation in den 1990er-Jahren geprägt ist. So gehört zu den wichtigsten Lehren aus dieser Zeit, Inflation als eine zentrale Bedingung für den Machterhalt unter Kontrolle zu halten (eine weitere Lektion lautet, keine hohe staatliche Verschuldung zuzulassen, ob nun gegenüber ausländischen Gläubigern oder heimischen „Oligarchen“, was zum Teil die extrem niedrige Staatsverschuldung Russlands erklärt).

Kritiker der ZB-Politik wenden dagegen ein, dass steigende Kreditkosten in Russland nicht die Ursachen der Inflation bekämpfen, sondern lediglich die Nachfrage der Haushalte dämpfen und Investitionen in die heimische Wirtschaft erschweren. Zu diesen Kritikern gehören Industrievertreter, Parlamentsabgeordnete, der stellvertretende Ministerpräsident Alexander Nowak sowie etliche Wirtschaftswissenschaftler in akademischen Einrichtungen und Denkfabriken. Das Center for Macroeconomic Analysis and Short-Term Forecasting warnt zum Beispiel vor einer Stagflation – dem gleichzeitigen Auftreten von wirtschaftlicher Stagnation und hoher Inflation – im Jahr 2025. Investitionen seien auch deshalb dringend nötig, so ein weiteres Argument, weil die damit verbundene Rationalisierung und Automatisierung lang hinausgezögerte Produktivitätssteigerungen ermöglichen und damit letztlich den Arbeitskräftebedarf senken. Kogan, Präsident des Stolypin Clubs, eine Vereinigung eher mittelständischer Unternehmen sagte wiederum auf dem Telegram-Kanal des Clubs voraus, dass die Ungleichheit zwischen den Unternehmen weiter zunehmen werde:

„Einige haben das Glück, staatliche Aufträge zu erhalten, andere erhalten Vorzugskredite, aber der Rest wird im vollen Umfang dafür bezahlen, dass die ZB die Inflation in Schach hält. Einige davon wandern in die Leichenhalle, um, wie man sagt, ‚die durchschnittliche Temperatur im Krankenhaus‘ aufrechtzuerhalten“.

Die jüngste Zinserhöhung ist Teil eines Maßnahmenpakets zur Eindämmung der Nachfrage, das durch drastische Lohnerhöhungen und großzügige Sozialleistungen für Soldaten und ihre Familien angeheizt wurde. Zu diesen Maßnahmen gehört die Aussetzung von staatlich geförderten Hypotheken, die während der COVID-19-Pandemie im Jahr 2020 eingeführt wurde, um Familien und ganz nebenbei auch den Wohnungsbau als Motor des Wirtschaftswachstums zu unterstützen. In Ermangelung eines effizienten Mietermarktes in Russland ist der Kauf eines Eigenheims für die Gründung einer Familie von entscheidender Bedeutung. Darüber hinaus kündigte Finanzminister Anton Siluanow einen Tag vor der Anhebung des Leitzinses durch die ZB im Oktober an, dass die seit 2022 gelockerten Fiskal- und Schuldenregeln im Jahr 2025 wieder verschärft werden.

Der Haushaltsentwurf für die Jahre 2025 bis 2027 zeigt, dass sich die ZB und das Finanzministerium nicht gegen die Kriegsfalken durchgesetzt haben und eine weitere Ausweitung der Militärausgaben nicht stoppen konnten. Der Druck, die Inflations- und Haushaltsziele zu erreichen, wird jedoch zu erheblichen Kürzungen der Ausgaben für zivile Bereiche führen – vor allem bei den Sozialausgaben, die nichts mit dem Krieg zu tun haben und deren Kürzung die Regierung bisher vermieden hat. Kurz gesagt, wir sehen immer mehr Anzeichen dafür, dass der Kriegskeynesianismus umstritten bleibt. Der Konflikt zwischen immer höheren Kriegsausgaben und den Prinzipien konservativer Geld- und Fiskalpolitik, die seit Putins Machtantritt verfolgt werden, spitzt sich weiter zu.

"Militärischer Keynesianismus": Strategische Wende oder kurzfristiges Krisenmanagement?

Die Meinungsverschiedenheiten über die Geldpolitik sind älter als der Kriegskeynesianismus, auf den die russische Regierung zurückgreift, seit die „Spezialoperation“ zur Absetzung der Führung in Kiew im Februar 2022 zu einem Krieg eskalierte. Die Meinungsverschiedenheiten gingen der Amtszeit von Nabiullina als Zentralbankchefin (seit 2013) voraus, mit der die ZB die gleichzeitige Verfolgung zweier Ziele – Wechselkurs- und Geldstabilität – zugunsten der ausschließlichen Bekämpfung der Inflation aufgab. Die Wurzeln der Meinungsverschiedenheiten reichen bis in die 1990er-Jahre zurück und waren lange Zeit von zwei grundlegend unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Ansätzen geprägt, die auf gegensätzlichen ideologischen Prämissen und geopolitischen Orientierungen beruhen.

Auf der einen Seite standen die liberalen Reformer um Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais, die sich in den 1990er-Jahren zwar nicht voll durchsetzen konnten, es aber schafften, die sowjetische Staatsbank in eine unabhängige Zentralbank zu verwandeln, die Kredite nicht mehr direkt an den Staatshaushalt und die Wirtschaft vergeben darf. Damit folgten sie dem westlichen Vorbild. Die ZB ist im heutigen Russland institutionell nur bedingt unabhängig, kann aber gegenüber der Regierung autonom agieren, solange sie die Unterstützung des Präsidenten hat.

Die Unabhängigkeit der ZB ging mit der schrittweisen Abschaffung der Kapitalverkehrskontrollen, dem Abbau von Zöllen und der freien Konvertibilität des Rubels einher. Ziel war die rasche Integration Russlands in die Weltwirtschaft – vor allem in die globalen fossilen Energie- und Finanzmärkte. Von denen profitierte Putins Umfeld persönlich, insbesondere mit dem Beginn des Ölbooms in den Jahren 1999 und 2000. Darüber hinaus betrachten die ehemaligen liberalen Marktwirtschaftler in der Regierung alle Elemente von Planwirtschaft als „Dirigismus“.

Auf der anderen Seite stand die illiberale Opposition, die den Washington Consensus seit den 1990er-Jahren bekämpft und argumentiert, dass die Versuche, in Russland eine liberale Marktwirtschaft nach westlichem Vorbild einzuführen, zu eben jenem (oligarchischen) Crony-Kapitalismus geführt haben, den sie verabscheut. Im Jahr 2012 schlossen sich führende Vertreter dieser Opposition im neu gegründeten Isborsker Klub zusammen. Er ist eng mit dem Fernsehsender Zargrad („Kaiserstadt“, das heißt Konstantinopel) verbunden, der seinerseits 2015 von dem neoimperialen Monarchisten Konstantin Malofeew gegründet wurde.

Auf wirtschaftlichem Gebiet ist Sergei Glasjew, Mitglied des Isborsker Klubs der ersten Stunde, die Schlüsselfigur der „Dirigisten“. Der heterodoxe Ökonom und Eurasier war in den 1990er-Jahren kurzzeitig Minister, später verfasste er das Wirtschaftsprogramm für die Kommunistische Partei Russlands (KPRF) und die Rodina-Partei, die er 2003 zusammen mit Dmitri Rogosin gründete. Glasjew ist seit 2008 Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften und in der Moskauer Wissenschaft gut vernetzt. Als politischer Berater des Präsidenten für die eurasische Integration in den Jahren 2012 bis 2019 war er eine der treibenden Kräfte hinter der Zollunion der Eurasischen Wirtschaftsunion. Im Jahr 2019 wurde er Mitglied der Eurasischen Wirtschaftskommission im Ministerrang, zuständig für Integration und Makroökonomie. Glasjew fordert seit langem eine Wirtschaftspolitik, die Geld-, Fiskal-, Industrie- und Arbeitspolitik sowie eine indikative Planung auf der Grundlage strategischer Kriterien nach sowjetischem und chinesischem Vorbild integriert.

In Bezug auf die Geldpolitik besteht das Hauptziel dieses Ansatzes darin, der Wirtschaft erschwingliche Kredite zur Verfügung zu stellen. Protektionistische Maßnahmen und staatliche Anreize sollen die Binnennachfrage in Richtung heimischer Produkte lenken; Kapitalverkehrskontrollen sollten eingesetzt werden, um den Kapitalabfluss zu stoppen. Dies setzt Restriktionen auf dem Finanzmarkt und bei Währungsspekulationen voraus. Lange vor den westlichen Einschränkungen bei der Mitgliedschaft russischer Banken im globalen Zahlungssystem SWIFT argumentierte Glasjew, dass Russland SWIFT nicht brauche und stattdessen ein alternatives Zahlungssystem mit China und anderen Ländern des globalen Südens aufbauen sollte. In einem Manifest aus dem Jahr 2020 , das er gemeinsam mit Malofeew verfasste, forderte er außerdem, dass Öl- und Gasexporte in Landeswährungen statt in Dollar abgewickelt werden sollten. Glasjew und Malofeew befürworten eine neue transnationale Währung, die mit dem Dollar und dem Euro konkurrieren soll, und haben sich für die BRICS-Währung ausgesprochen.

Die Unterordnung der Geldpolitik unter eine solche integrierte Wirtschaftspolitik impliziert eine radikale Veränderung der Rolle der Zentralbank (die ihres formell unabhängigen Status beraubt würde) sowie der Rolle der Geschäftsbanken, die bisher zwischen der Zentralbank und der Realwirtschaft vermitteln. Das Inflationsziel würde durch ein Wachstumsziel und die freie Preisbildung durch ein „Regime von Preisrelationen“ ersetzt, die sich an der Wirtschaftsentwicklung orientieren sollen. Mit anderen Worten: Die alternative Agenda zur aktuellen Geldpolitik besteht darin, die ZB wieder in eine Bank umzuwandeln, die den Staat direkt finanziert.

Viele der oben erwähnten Kritiker der ZB distanzieren sich von den radikalen Positionen des Isborsker Clubs mit seiner „Ideologie des Sieges“ (Ideologija Pobedy). Nichtsdestotrotz weisen ihre Vorschläge hinter ihrer beharrlichen Kritik an der ZB in die gleiche Richtung eines Entwicklungsstaates, der über den militärischen Keynesianismus hinausgeht.

Einige der Forderungen des Isborsker Clubs wurden seit 2022 verwirklicht, was auf mehrere Faktoren zurückzuführen ist: westliche Sanktionen, die sich entwickelnde Kriegswirtschaft und die strategische Neuausrichtung der russischen Eliten auf den globalen Süden. Den meisten Mitgliedern der politischen und wirtschaftlichen Eliten gehen deren Forderungen jedoch zu weit. Gleichwohl ist es bei der Analyse der russischen Kriegswirtschaft von entscheidender Bedeutung, die anhaltenden Meinungsverschiedenheiten über den militärischen Keynesianismus zu berücksichtigen. Während einige Elitemitglieder nach wie vor die expansive Geldpolitik lediglich als Instrument der kurzfristigen Krisenbewältigung akzeptieren, sehen Andere den Krieg als Beginn einer strategischen Wende.

Ein neuer Schritt in Richtung quantitativer Lockerung

Keynesianische Nachfragepolitik wurde zum ersten Mal in der postsowjetischen Zeit während der globalen Finanzkrise 2008-2009 eingesetzt. Bald darauf kehrte jedoch der sogenannte „Finanzblock“ – hauptsächlich die ZB und das Finanzministerium – zur Sparpolitik zurück, nicht zuletzt um den staatlichen Reservefonds für die nächste Krise wieder aufzufüllen. Deshalb hat Russland auch, anders als westliche Regierungen, während der COVID-19-Pandemie auf massive antizyklische Maßnahmen verzichtet. Wird sich das nun ändern?

Um die wachsenden Haushaltsprobleme der Regierung angesichts der anhaltenden westlichen Sanktionen zu lösen, schlug der russische Verband der Industriellen und Unternehmer (RSPP) vor, dass die ZB damit beginnen sollte, Anleihen der Russischen Föderation (OFZs) direkt vom Finanzministerium zu kaufen. Eine solche quantitative Lockerung, so die RSPP, werde seit vielen Jahren von der Bank of Japan, der US-Notenbank und der Europäischen Zentralbank (unter Mario Draghi) praktiziert. In Russland ist das (noch) gesetzlich verboten.

Vor diesem Hintergrund kündigte Nabiullina am 18. November Änderungen an, die sich auf die Strategie der Regierung zur Kriegsfinanzierung auswirken werden: Am 25. November begann die ZB damit, Rubelkredite an Geschäftsbanken zu vergeben, damit sie dafür Staatsanleihen kaufen. Auf diese Weise soll das Haushaltsdefizit bis Ende des Jahres 2024 gedeckt werden. Als Sicherheiten akzeptiert die ZB nur Staatsanleihen: OFZ oder Kommunalanleihen. Geschäftsbanken können sie kaufen, an die ZB verpfänden, Rubel erhalten und mehr Staatsanleihen kaufen. Diese Maßnahme wurde ergriffen, weil das Finanzministerium beim Verkauf von OFZ auf dem Markt weniger erfolgreich war als zuvor – die meist staatlichen Geschäftsbanken verlangten Zinssätze in Höhe des Leitzinses oder höher, wozu das Ministerium nicht bereit war. Für 2024 wollte das Finanzministerium Anleihen in Höhe von 4,1 Billionen Rubel auf dem Markt platzieren, konnte aber bis Anfang November nur 2,2 Billionen Rubel OFZ erzielen.

Der Schritt der ZB kommt der von der RSPP vorgeschlagenen quantitativen Lockerung sehr nahe. Allerdings vertieft die Art und Weise, wie der Vorschlag umgesetzt wird, die Ungleichheit zwischen Unternehmen, die Zugang zu staatlichen Aufträgen und Finanzmitteln haben, und solchen, die auf dem Markt leihen müssen. Die ZB mag dies wieder als kurzfristige Anpassung an den hohen politischen Druck und die Anforderungen einer Kriegswirtschaft betrachten. Sie könnte aber auch der nächste Schritt in Richtung eines neuen Modells für die russische Wirtschaft sein.

Dieser Artikel ist eine gekürzte Übersetzung des Originals, das auf PONARS Eurasia erschienen ist.

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[1] ПАО Сбербанк России, PAO Sberbank Rossii