„Der Shareholder ist zum Gemeingut geworden“
Wir brauchen Institutionen, die uns als Menschen gerecht werden, sagt Armin Groh. Dazu gehöre auch eine Demokratisierung der Wirtschaft. Ein Gespräch zu seinem Buch „Die blinden Flecken der Demokratie“.
Das Wort „Demokratie“ birgt seit jeher große Versprechungen: Freiheit, Menschenrechte, Mitbestimmung, Gerechtigkeit, Wohlstand und Frieden sollen sich mit ihr einstellen. Doch ihr Glanz ist verblasst, schreibt der Autor und Pädagoge Armin Groh in seinem Buch „Die blinden Flecken der Demokratie“, erschienen in der Edition MAKROSKOP. Die westlichen Gesellschaften seien gespalten, der Autoritarismus sei auf dem Vormarsch, die soziale Ungleichheit nehme zu und das Vertrauen in die politischen Institutionen sei geschwunden. Mit ihm sprach MAKROSKOP-Redakteur Sebastian Müller.
Herr Groh, als Sie angefangen haben, Die blinden Flecken der Demokratie zu schreiben, an wen hatten Sie da als Zielgruppe gedacht?
An die meisten Schulabgänger, die nur eine sehr vage Vorstellung haben, wofür unsere Parteien stehen und somit kaum in der Lage sind, eine verantwortliche Wahlentscheidung zu treffen. Und an die 40 Prozent der Bundesbürger, die sich nicht mehr erinnern können, was sie letztes Mal gewählt hatten.
Das Buch liest sich wie ein Roman, und ist aus der Perspektive eines Kindes, Lukas, geschrieben. Lukas ist mit einem Jungen befreundet, der zwar ein Nachbar ist, dennoch aus einer anderen, weit weniger privilegierten Welt kommt als Lukas selbst. Finden sich hier auch Erinnerungen aus ihrer eigenen Kindheit wieder?
In meiner Grundschule in Stuttgart gab es Kinder aus allen Einkommensklassen. Die Schule lag zwischen einem ärmeren Viertel mit einem hohen Anteil an Migranten und dem Hasenberg, wo Villen stehen. Wie in meinem Buch als Motiv aufgegriffen, gab es tatsächlich Versuche der Wohlhabenderen, ihre Kinder in eine Klasse zu bekommen. Die Vermögensunterschiede habe ich damals selbst aber nicht wahrgenommen. Es kam auf Mut, Schlagfertigkeit und Sportlichkeit an. Erst viel später habe ich in meinem persönlichen Umfeld aus direkter Nähe miterlebt, was es bedeutet, in Deutschland durch das Raster der Leistungsgesellschaft zu fallen.
Haben Sie mal als Leiharbeiter gejobbt, bevor Sie Lehrer wurden?
Nein, nur als Aushilfe. Um mein Studium zu finanzieren, bin ich häufig in metallverarbeitenden Betrieben am Fließband gestanden. Sicherlich habe ich mich in meinem Buch deshalb für einen solchen Betrieb entschieden. Leiharbeiter waren damals aber eher die Ausnahme. Um ein realistisches Bild zu zeichnen, musste ich recherchieren, wobei mir ein Freund, der Industriemechaniker ist, geholfen hat.
In dem Kapitel „Wirtschaft und Demokratie“ geht es auch um Mitbestimmung in Unternehmen. Das war bis weit in die 1970er Jahre hinein ein großes Thema der Gewerkschaften. Ihre Forderungen wurden von wilden Streikwellen begleitet. Die durchgesetzten Lohnerhöhungen befeuerten in der Ölpreiskrise die Inflation. Zugleich war es auch die Epoche der anti-autoritären Revolte.
Von den Gewerkschaften wurde bereits in der Weimarer Republik nicht nur Mitbestimmung, sondern eine umfassende Demokratisierung der Wirtschaft gefordert. Dieses Anliegen ist viel älter als die 68er-Bewegung und ihre antiautoritären Ideen. Die 68er-Bewegung war nicht zuletzt eine Reaktion auf den Faschismus, Kolonialismus und Rassismus und hat vor diesem Hintergrund nach Alternativen gesucht. Obwohl Gewerkschaften nach wie vor für mehr Demokratie in Unternehmen sind, ist dieses Thema in der Öffentlichkeit hinter Tarifverhandlungen aber in der Tat stark zurückgetreten.
Allerdings soll auch in den Unternehmen die Arbeitsdisziplin abgenommen haben. Es war von einer „Regierbarkeitskrise“ die Rede. Hatten die Gewerkschaften in diesem Klima den Bogen nicht auch überspannt?
Demonstrationen und Streiks sind eine legitime Form demokratischer Willensbildung. Daraus folgt nicht, dass die gewünschte Neuordnung von Willkür gekennzeichnet ist. Aus den Protesten von 1848 folgt nicht, dass Unruhen und Disziplinlosigkeit kennzeichnend für eine etablierte Demokratie sind. Demokratische Unternehmen wie Genossenschaften können heute gerade auch in wettbewerbsintensiven Branchen mithalten. Mit dem Vorwurf mangelnder „Regierbarkeit“ ist zudem eine problematische Vorstellung von Gesellschaft verbunden: Die Bürger müssen von oben regierbar sein. Dabei ist es ein genuiner Grundsatz von Demokratie, dass die Bürger selbst der Souverän sind. Es ist nicht legitim, Freie und Gleiche einer autoritären Regierung zu unterwerfen. Das ist auch ein zentraler Gedanke demokratischer Unternehmen. Warum sollte das bei der Arbeit, wo wir einen Großteil unseres Lebens verbringen, anders sein? Das haben auch Liberale wie John Stuart Mill in Frage gestellt und das wird heute von liberalen Philosophen unter dem Stichwort „workplace democracy“ diskutiert.
Kennen Sie das Buch „Die unregierbare Gesellschaft“ von Grégoire Chamayou?
Mir sind einige seiner Thesen bekannt.
Chamayou legt eine ‚Geschichte von oben‘ vor, geschrieben aus der Sicht der Unternehmer und Politiker, die sich fragten, wie sie angesichts von zunehmenden Disziplinlosigkeiten und Streiks die Kontrolle über diese Entwicklungen zurückerlangen können.
Wie gesagt: Gerade in der republikanischen Tradition eines Rousseau und Kant ist der demokratische Kerngedanke, nicht die Bevölkerung von oben zu kontrollieren, der demokratische Souverän muss vielmehr umgekehrt die Staatsapparate kontrollieren und durch die Gesetzgebung programmieren. Hierarchien tendieren leider dazu, sich selbst zu verstärken. Das zeigt gerade auch die Reaktion von Unternehmen und Politikern auf die 68er-Bewegung und die Gewerkschaften. Ihre Antwort war die „Disziplinierung durch den Markt“. Chamayou bezeichnet das als autoritären Liberalismus und tatsächlich schwächte er nicht nur die Ansätze von Demokratie in Unternehmen, sondern auch insgesamt. Privatisierungen, Deregulierungen und die Politik der leeren Kassen schränkten den Spielraum öffentlicher Entscheidungen erheblich ein.
Im Kontrast dazu schreibt Ingar Solty, Referent am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin, über die Freiheit, „fick dich, Chef“ zu sagen. Sollte das in der modernen Arbeitswelt mit flachen Hierarchien selbstverständlich sein?
Meinen Sie das ernst? Wenn Angestellte von ihren Vorgesetzten Anstand erwarten und wie Menschen behandelt werden wollen, sollten sie selbst Anstand zeigen. Physische und verbale Gewalt bieten nur Anlässe, demokratische Emanzipationsbewegungen zu verunglimpfen.
Solty meinte das metaphorisch: Die keynesianische Vollbeschäftigungspolitik hätte für die materielle Grundlage gesorgt, sich frei zu fühlen, sich die Haare langwachsen zu lassen, in Jeanshosen auf der Arbeit aufzutauchen und „to let the spirit run free“. Mehr vom Leben zu wollen und zu erwarten als „9 to 5“-Jobs, entfremdende Arbeitsroutine und den immergleichen Job bis zum Lebensende. Ist das nicht auch die Botschaft ihres Buches?
Diese Beschreibung erweckt den Eindruck eines Luxustrips ‒ tatsächlich geht es bei Suche nach einem anderen Wirtschaften aber um viel mehr. Mir scheint, Gabor Maté hat sehr recht, wenn er unsere Kultur und unsere Art zu wirtschaften als traumatisierend bezeichnet. Das Leistungsdenken und der radikale Individualismus wirken sich zerstörerisch auf das aus, was wir am meisten brauchen: Verbundenheit und ein Selbstwert, der nicht von Leistung abhängt.
Ist aber Leistung nicht im gewissen Maße notwendig und auch vom Menschen intrinsisch gewollt?
Aktivität oder Kreativität sind in diesem Zusammenhang weniger belastete Begriffe. Der ökonomistische Leistungsbegriff ist hingegen äußerst problematisch, weil er suggeriert, dass der individuelle Beitrag zum Gemeinwohl quantifiziert werden kann, was nicht möglich ist. Wie bei einer Maschine soll sich beim Menschen ablesen lassen was sein Output ist und was seinen Wert ausmacht. Das reißt den Menschen aus dem sozialen Zusammenhang und reduziert ihn zur Maschine, die überflüssig wird, wenn der Output nichtmehr stimmt. Der Wert des Outputs wiederum wird alleine durch den „Nutzen“ bestimmt, der auf instrumentelle Weise hergestellt werden soll. Das gute Leben und Sinn lassen sich aber nicht wie ein Produkt herstellen. Sie haben etwas Unverfügbares – wie bei einem Musiker, der die Melodie am ergreifendsten spielt, wenn er gerade nicht auf darauf abzielt, sondern in Resonanz mit etwas Übergreifendem gerät und sich selbst vergessen hat.
Was bedeutet das für die Gesellschaft?
Diese einseitige Fokussierung auf „Nutzen“ führt in unserer Gesellschaft gerade zum Verlust von Sinn. Das entwetende Leistungsdenken droht, wie von Michael Sandel unterstrichen, unsere Gesellschaft zu zerreißen. Traumatisierte tendieren zudem zu sozial destruktiven Verhaltensweisen, wodurch das Trauma über Generationen weitervererbt werden kann. Darüber hinaus haben wir natürlich auch ein Bedürfnis nach kreativer Entfaltung, dem die extreme ökonomische Rationalisierung gleichfalls entgegensteht. Für unsere Zukunft sollten wir deshalb über Institutionen nachdenken, die uns als Menschen gerecht werden. Dazu gehört auch eine Demokratisierung der Wirtschaft.
Wohlstand und Vollbeschäftigung schufen auch die materielle Grundlage für das Experimentieren mit Drogen als einem Mittel, „sich selbst zu finden“, für ein Leben, das jeden Tag so leben will, als wäre er der letzte. Es war das Streben nach der großen Freiheit. Für die Nachkriegsgeborenen war es eine goldene Epoche. Heute würde man sagen, dass genau dies der Beginn des von Ihnen kritisierten Hyperindividualismus war. Lag darin vielleicht auch schon der Keim des Niedergangs des Keynesianismus und kollektiver Organisationen?
Mein Buch enthält keine Nostalgie der 68er-Bewegung. Obwohl sie in meinen Augen im Ganzen wie gesagt einen wichtigen Beitrag geleistet hat, erwähne ich sie nur am Rande. Das Anliegen eines demokratischen Wirtschaftens, aber auch von Vollbeschäftigung ist viel älter und viel internationaler. Ich sehe weder eine direkte Verbindung zum Hyperindividualismus noch zum Drogenkonsum. Der indigene Widerstand gegen eine Ökonomisierung ihres kommunalen Wirtschaftens ist alles andere als hyperindividualistisch. Die weltweit größte Genossenschaft ist Mondragon, die 1956 im Geist der katholischen Soziallehre gegründet wurde. Die 68er-Bewegung entstand in einer spezifischen historischen Konstellation unserer Moderne.
Woher kommt dann der Hyperindividualismus?
Tatsächlich scheint mir der Hyperindividualismus eine Ursache vieler Probleme der Gegenwart zu sein, auch unseres atomisierten Wirtschaftens. Seinen tieferen Ursprung hat er aber nicht in den 70ern, sondern in den radikal individualistischen und mechanistischen Ideen von Thomas Hobbes, René Descartes und anderen. Wie zuletzt von Hartmut Rosa dargestellt, war das Streben nach Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit in der Moderne mit einem gewaltigen Resonanzverlust verbunden. Dieser Resonanzverlust betrifft auch die Natur und das Transzendente.
Wie meinen Sie das?
Wenn Gesellschaft, Natur und Universum nur aus letztlich toten, isolierten Substanzen bestehen, ist Verbundenheit mit einem übergreifenden Sinn, der Natur und selbst meinem Nächsten letztlich eine Illusion. Ich werde zum Einzelkämpfer in einer sinnentleerten Welt. Der autoritäre Liberalismus hat diesen Resonanzverlust noch einmal erheblich verschärft. Während die 68er eine singende Bewegung waren, starren wir heute auf den „Black Friday“.
Die Protagonisten ihres Buches sympathisieren mit einer Wirtschaftsdemokratie und genossenschaftlich organisierten Unternehmen. Sie haben eben schon angerissen, dass das ihrer Meinung nach ein flächendeckendes Modell sein könnte.
Die Frage, die wir uns vor allem stellen müssen, ist heute leider sehr bescheiden geworden: Mit welchem Arrangement von Institutionen hat die Menschheit eine Chance zu überleben? Gibt es ein Arrangement, das weniger traumatisierend, weniger konfliktträchtig und weniger schädlich für die Natur ist? Der autoritäre Liberalismus der Shareholder ist zum Gemeingut geworden. Er bestimmt nicht nur die Unternehmen, sondern ist auch ein einflussreicher Faktor in der Politik, nach innen wie nach außen. Deshalb ist es gerade in der Bildung wichtig, darüber nachzudenken, wie wir in Zukunft weiter machen wollen. Lernende mit einem hohen Risiko für ein Arbeitsleben in prekären Beschäftigungen haben ein Recht, das zu diskutieren.
Groh, Armin: Die blinden Flecken der Demokratie. Eine Entdeckungsreise in die politische Ideengeschichte. Promedia 2023. 264 Seiten.