Arbeitsmarkt

„Fachkräftemangel“ durch Ausbildungsmangel

| 22. Februar 2024
IMAGO / Westend61

Der „Fachkräftemangel“ scheint wie ein Naturereignis über Deutschland gekommen zu sein. Die angebliche Lösung: Fachkräfteeinwanderung. Doch das Problem ist systembedingt.

Klagen der Wirtschaft über den Fachkräftemangel sind so alt wie der Kapitalismus. Die Wirtschaft kann nie genug gut ausgebildete Fachkräfte bekommen. Mit anderen Worten: einen friktionellen Fachkräftemangel wird es immer geben. Schon Karl Marx schrieb im „Kapital“, die „Überbevölkerung“ werde „zu einer Existenzbedingung der kapitalistischen Produktionsweise. Sie bildet eine disponible Reservearmee, die dem Kapital ganz so absolut gehört, als ob es sie auf seine eignen Kosten großgezüchtet hätte.“

Die Ursachen des Fachkräftemangels in Deutschland sind systembedingt, werden aber kaum diskutiert. Und wer meint, dass die Betriebe angesichts des „Fachkräftemangels“ ihre Ausbildungsanstrengungen steigern würden, der täuscht sich, wie empirische Daten zeigen.

Eine mangelhafte Ausbildungsversorgung

Nach der aktuellen Ausbildungsmarktstatistik der Bundesagentur für Arbeit von Anfang November 2023 gab es in diesem Berufsberatungsjahr 422.059 gemeldete Bewerber und 545.039 gemeldete Berufsausbildungsstellen. Dieser Angebotsüberhang von über 100.000 Ausbildungsstellen deutet auf den ersten Blick auf eine gute Ausbildungssituation hin. So behauptet denn auch die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, laut Tagesschau: „Noch nie seit der Wiedervereinigung waren die Chancen auf eine Ausbildungsstelle so gut.“

Begründet wird dies zum einen mit dem Angebotsüberhang von über 100.000 gemeldeten Ausbildungsplätzen und zum anderen damit, dass Ende September „noch 68.900 Stellen unbesetzt und 22.700 junge Leute noch unversorgt“ waren.

Wenn man indessen genauer hinschaut, tun sich eine Reihe von Ungereimtheiten auf, von denen drei hervorzuheben sind:

1.  Die wichtigste Zahl der Ausbildungsmarktstatistik wird verschwiegen 

Erstens, die wichtigste Zahl der Ausbildungsmarktstatistik wird zumeist verschwiegen. Nur 201.615 oder 48 Prozent der gemeldeten Bewerber sind auch tatsächlich in eine Ausbildung „eingemündet“ (siehe Abbildung). Mithin sind 52 Prozent der Bewerber nicht eingemündet.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

2. Vernebelung der mangelhaften Ausbildungsversorgung

Die zweite Ungereimtheit: Obwohl 52 Prozent der Bewerber nicht in eine Ausbildung eingemündet sind, werden in der Ausbildungsmarktstatistik nur 6 Prozent als „unversorgt“ ausgewiesen. Wie geht das? Nur dadurch, dass laut Ausbildungsmarktstatistik auch arbeitslose, erwerbstätige und die in Warteschleifen – offiziell „Übergangsbereich“ genannt – abgeschobenen Jugendlichen als „versorgt“ erklärt werden. Dieser „Übergangsbereich“ ist viel größer, als in der Ausbildungsmarktstatistik erfasst.

In Hamburg waren bei der Schulabgängerbefragung 2023 der Schulbehörde 44,4 Prozent der Schulabgänger in die einjährige Warteschleife „Ausbildungsvorbereitung“ geschickt worden – angeblich damit sie die Ausbildungsreife erlangen, obwohl sie bereits 10 Jahre die Schule besucht hatten. Und nur 44,3 Prozent hatten den direkten Übergang in eine Berufsausbildung geschafft, davon lediglich 32,8 Prozent in eine betriebliche Ausbildung.

Der Begriff der „Versorgten“ ist die mächtigste Waffe zur Vernebelung der mangelhaften Ausbildungsversorgung, wie die Aussage von Andrea Nahles zeigt. Das geht so weit, dass selbst Politiker und andere Würdenträger durch ihn in die Irre getrieben werden. So behauptete die Arbeitsagentur Hamburg anlässlich der gemeinsamen Bilanz-Pressekonferenz der wichtigsten „Akteure“ des Hamburger Ausbildungsmarktes in einer gemeinsamen Presseerklärung, es seien nur 768 der gemeldeten Bewerber „am 30.09. noch ohne Lehrstelle“ geblieben.

Was alle nicht bemerkt haben, ist, dass dies die Zahl der „Unversorgten“ ist. Tatsächlich sind laut Ausbildungsmarktstatistik für Hamburg 3.601 (oder 58 Prozent) der 6.246 gemeldeten Bewerber nicht in eine Ausbildung eingemündet. Wie man sieht, macht die irreführende Bezeichnung der Unversorgten selbst die „Ausbildungsakteure“ irre. Wenn es einen Fachkräftemangel gibt, dann offensichtlich bei ihnen.

3. Versteckte Selektion

Die dritten Ungereimtheit ist die zu niedrige Bewerberzahl. Mit dem Stellenüberhang ist es nicht weit her. Wenn nur 68.900 Stellen unbesetzt sind, wie Nahles betont, heißt dies, dass (545.039 minus 68.900 = ) 459.691 Stellen besetzt worden sind. Von den gemeldeten Bewerbern haben aber nur 201.615 einen Ausbildungsplatz erhalten. Daraus ergibt sich, dass genau 258.076 Jugendliche, die nicht bei den Arbeitsagenturen als gemeldet registriert waren, einen gemeldeten Ausbildungsplatz erhalten haben. Zählt man diese zu den gemeldeten Bewerbern hinzu, erhält man eine Zahl von 680.135 Ausbildungs­platz­bewerbern, was erheblich mehr ist als die 545.039 gemeldeten Ausbildungsstellen.

Die Bundesagentur für Arbeit rechnet denn auch mit einer Meldequote der Ausbildungsinteressierten von nur „gut 60 %“. Insbesondere Jugendliche mit einer Hochschul- und Fachhochschulberechtigung dürften sich direkt – ohne Einschaltung der Arbeitsagentur – bei einem Ausbildungsbetrieb beworben haben.

Umgekehrt werden zu wenig Schulabgänger ausgewiesen, die keinen oder nur einen Hauptschulabschluss erworben haben. So schreibt die Bundesagentur für Arbeit: „Von den aktuellen Schulabgängern aus Haupt- und Realschulen melden sich rund 30 %.“ Dies ist vermutlich falsch oder irreführend formuliert. Denn gerade Jugendliche ohne bzw. mit Hauptschulabschluss dürften sich wegen ihrer schlechten Bewerbungsperspektive an die Arbeitsagenturen gewandt haben. Sie werden aber nur dann als Bewerber registriert, wenn sie als „geeignet“ befunden werden. Alle Jugendlichen, die sich an die Arbeitsagenturen wenden, werden von diesen zunächst als „Ratsuchende“ und danach daraufhin überprüft, ob sie „geeignet“ sind für eine Ausbildung. Erst dann, wenn diese „Eignung“ festgestellt worden ist, gelten sie als „Bewerber“ bzw. „Bewerberin“.

Die Ungeeigneten werden als „Ratsuchende“ erfasst. Deren Zahl wurde noch bis 2004 ausgewiesen, danach wohl zur Beschönigung der Ausbildungssituation nicht mehr. Das heißt: Gerade Jugendliche ohne oder mit Hauptschulabschluss tauchen in der Ausbildungsmarktstatistik nicht als Bewerber auf, obwohl sie sich dort eigentlich gemeldet haben. Hier findet, wie durchgängig im deutschen Bildungssystem, eine versteckte Selektion statt.

All diese Ungereimtheiten der Ausbildungsmarktstatistik dienen dazu, die Ausbildungssituation zu beschönigen und von dem wichtigsten Indikator, der Zahl der Eingemündeten, abzulenken, die nur 48 Prozent betrug. Es gibt aber noch zahlreiche weitere Indikatoren, die das Bild des Ausbildungsmangels bestärken, hier nur eine Auswahl:

  • Von den Bewerbern sind 37 Prozent Altbewerber. Das heißt, sie haben in den letzten fünf Jahren mindestens einmal bei den Arbeitsagenturen um Unterstützung bei der Ausbildungsplatzsuche nachgefragt. Nur 39 Prozent der Altbewerber, aber 53 Prozent der Bewerber, die im Berichtsjahr die Schule verlassen hatten, sind in ein Ausbildungsverhältnis eingemündet.
  • Genau 40 Prozent der Bewerber kommen von berufsbildenden Schulen, was in diesen Fällen zumeist bedeutet, dass sie zuvor Warteschleifen (wie das Berufsvorbereitungsjahr, teilqualifizierende Berufsfachschule) besucht haben. Nur 38 Prozent der Bewerber aus berufsbildenden Schulen, aber 59 Prozent derjenigen aus allgemeinbildenden Schulen konnten in eine Berufsausbildung einmünden.
  • Eine ausländische Staatsangehörigkeit haben genau 19 Prozent der Bewerber. „Nur 37 Prozent der ausländischen Bewerberinnen und Bewerber haben 2023 eine Ausbildungsstelle gefunden (Deutsche 50 Prozent)“, berichtet die Bundesagentur für Arbeit. Angesichts dieser niedrigen Einmündungsquote von Ausländern bleibt es unverständlich, warum man deshalb „händeringend“ noch mehr Jugendliche aus dem Ausland für eine Ausbildung im „hochgelobten, deutschen dualen System“ begeistern will.
  • Die Ausbildungschancen der Jugendlichen hängen von der Postleitzahl ihres Wohnsitzes ab. Es gibt große regionale Unterschiede in der Ausbildungsversorgung. Die rote Laterne bei der Einmündungsquote trägt Berlin (mit 35,3 Prozent), gefolgt von Bremen (39,2 Prozent) und Schleswig-Holstein (mit 41,7 Prozent). Die höchsten Einmündungsquoten weisen dagegen Bayern (mit 59,5 Prozent), Thüringen (mit 59,0 Prozent) und Sachsen-Anhalt (mit 58,6 Prozent) auf. Gründe für diese Unterschiede dürften in der jeweiligen wirtschaftlichen Lage (siehe Bayern und Schleswig-Holstein), der niedrigen Nachfrage (siehe Thüringen und Sachsen-Anhalt) und dem Nachfragedruck von Jugendlichen aus dem Umland in Großstädten zu suchen sein.
  • Nur die wenigsten Betriebe bilden aus. Im Jahr 2021 taten dies nur noch 19,1 Prozent aller Betriebe. Die Ausbildungsbeteiligung ist seit Jahren rückläufig. Im Jahr 2007 belief sie sich laut Bundesinstitut für Berufsbildung noch auf 24,1 Prozent. Besonders niedrig ist die Ausbildungsbeteiligung in Berlin (mit 11 Prozent) und im Wirtschaftszweig „Beherbergung, Gastronomie“ (mit 8,5 Prozent).
  • Im Frühjahr dieses Jahres musste die deutsche Presselandschaft überrascht die hohe Zahl junger Erwachsener ohne Berufsausbildung zur Kenntnis nehmen. So schrieb das Handelsblatt im Mai vergangenen Jahres: „Mehr als 2,6 Millionen Menschen zwischen 20 und 35 Jahren sind ungelernt – ein neues Rekordhoch.“ Zurück gehen diese Zahlen auf den Berufsbildungsbericht 2023 der Bundesregierung. Danach verfügten 18,5 Prozent der 25- bis 34-Jährigen im Jahr 2021 über keine abgeschlossene Berufsausbildung, im Jahre 2017 waren es noch 14,5 Prozent. Besonders hoch ist der Anteil der Ungelernten in dieser Altersgruppe bei Jugendlichen mit Hauptschulabschluss (mit 39 Prozent) gegenüber Studienberechtigten (mit 7,4 Prozent) und Ausländern (mit 37,4 Prozent) gegenüber Deutschen ohne Migrationshintergrund (mit 8,5 Prozent). „Das wiegt umso schwerer, als parallel dazu der Fach- und Arbeitskräftemangel immer größere Dimensionen annimmt“, so das Handelsblatt, wobei es auf 630.000 offene Stellen beim Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (Kofa) beim Institut der deutschen Wirtschaft hinweist. Also: Angebliche 630.000 offene Stellen gegenüber 2,6 Millionen Ungelernten zwischen 20 und 35 Jahren und fast 40 Prozent Ungelernte unter den jungen Menschen mit Hauptschulabschluss.
  • Wie sich der Ausbildungsmangel aus der Sicht der Jugendlichen darstellt, wird kaum noch in den Medien oder der Wissenschaft thematisiert, wohl weil dies dem Gerede widerspricht, wonach die Betriebe „händeringend“ Auszubildende suchen. Hier ein seltenes Beispiel aus Hamburg.
  • Die Ausbildungsqualität ist so gut wie kein Thema der offiziellen Berufsbildungspolitik und Wissenschaft. Das wundert nicht, denn Indikatoren wie die Abbruch- und Durchfallquoten bei der Prüfung sind wenig erfreulich: Der Ausbildungsabbruch ist über die Jahre beständig gestiegen und betrug im Jahr 2021 genau 26,7 Prozent. Besonders hoch ist der Ausbildungsabbruch bei Jugendlichen mit ausländischer Staatsangehörigkeit (35,3 Prozent), Jugendlichen mit Hauptschulabschluss (38,5 Prozent) und in Berlin (34,2 Prozent). Besonders niedrig ist der Prüfungserfolg in Berlin (84,4 Prozent), bei Ausländern (74,5 Prozent), Jugendlichen mit einem Hauptschulabschluss (77,2 Prozent) sowie in den üblichen Berufen wie Koch/Köchin (77,3 Prozent), Friseur/-in (81,6 Prozent), Maler/-in und Lackierer/-in (81,9 Prozent) und Verkäufer/-in (84 Prozent).

Zusammengefasst: Nur weniger als die Hälfte der Bewerber für eine Ausbildung haben das Glück, einen Ausbildungsplatz zu erlangen. Besonders benachteiligt sind dabei die ohnehin schon Benachteiligten: Jugendliche mit Hauptschulabschluss und aus abgehängten Regionen sowie Jugendliche mit Migrationshintergrund bzw. ausländischer Staatsangehörigkeit. Vieles deutet darauf hin, dass die schlechte Ausbildungsversorgung mit der niedrigen Ausbildungsbeteiligung der Betriebe von unter 20 Prozent zu tun hat.

Tendenz zur Nichtausbildung

Allgemein wird angenommen, dass ein hoher Fachkräftebedarf zu großen Ausbildungsanstrengungen der Betriebe führen würde. Oder andersherum: Wenn ein Betrieb einen hohen Fachkräftebedarf hat, müsste er besonders viel ausbilden. Dagegen spricht zweierlei: Erstens, dass die Entscheidung für eine Ausbildung nicht nur vom Fachkräftebedarf, sondern von einer Vielzahl von Faktoren abhängt. Zweitens – und das ist die Generalthese –, dass, wenn die Ausbildung einzelbetrieblich finanziert wird, kein rational handelnder Betrieb die Kosten dafür übernehmen wird. Dies lässt sich mit zwei unterschiedlichen theoretischen Ansätzen begründen.

Der Humankalitalansatz ist ausgerechnet von Vertretern der marktradikalen neoliberalen Schule entwickelt worden. Danach bringt eine bessere Qualifikation von Arbeitskräften zwar höhere Erträge, sie erfordert aber auch entsprechende Investitionen.

Dazu wird ein Unternehmen aber nur bereit sein, wenn es die Arbeitskraft nicht generell, sondern spezifisch ausbilden kann. Da die generelle Qualifizierung einer Arbeitskraft ihre Produktivität in zahlreichen Betrieben verbessert, werden sich bei vollständiger Konkurrenz alle Firmen um den Ausgebildeten bemühen und ihm ein Lohnangebot unterbreiten, das durch den Markt bestimmt wird. Ein Unternehmen allerdings, das die Kosten der Qualifizierung teilweise oder ganz übernommen hätte, könnte ihm nur den Ausgebildetenlohn zahlen, also den Marktlohn abzüglich der Ausbildungskosten. Wenn es ihm jedoch den Marktlohn zahlen würde, könnte es keinen Vorteil mehr aus der generellen Qualifizierung ziehen.

Genauso wenig Erfolg hätte der Ausbildungsbetrieb, wenn er dem Beschäftigten den Ausgebildetenlohn zahlen würde. Die Arbeitskraft würde in diesem Fall zu einer Konkurrenzfirma wechseln, die den Marktlohn zahlen könnte, da sie die Qualifizierung nicht finanzierte. Der Ausbildungsbetrieb hätte dann nicht nur einen Wettbewerbsnachteil zu erleiden, indem er die Kosten für die Ausbildung getragen hat, sondern auch dadurch, dass ein Konkurrent die Erträge aus seinen Qualifizierungsanstrengungen erzielen würde. Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass rational handelnde Unternehmen bei vollständiger Konkurrenz nur dann generelle Qualifizierung durchführen, wenn sie die Kosten nicht zu tragen haben.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt man nach der Arbeitskrafttheorie von Marx. Danach ist die Arbeitskraft im Kapitalismus doppelt frei: frei von Produktionsmitteln, aber auch frei, jederzeit das Unternehmen zu wechseln. Die Arbeitskraft gehört nicht dem Unternehmen. Ein Unternehmen wird aber nicht in etwas investieren, das ihm nicht gehört.

Zusammenfassen ließe sich das in ein Nichtausbildungsgesetz: Wenn die Ausbildung einzelbetrieblich finanziert wird, wird kein ökonomisch rational handelnder Betrieb in eine generelle Ausbildung investieren.

Nun aber bilden 19,1 Prozent der Unternehmen dennoch aus. Wie kann das sein? Offenbar gibt es zwei Ausnahmen.

1. Nutzungsthese

Die erste Ausnahme ist die Nutzungsthese: Bei der Ausbildung fallen keine Kosten an, vielmehr werden bereits während der Ausbildung (Netto-)Erträge erwirtschaftet. Das Interesse an der Arbeitskraftnutzung der Auszubildenden bereits während der Ausbildung steht insbesondere bei Kleinbetrieben im Vordergrund, führt zu Fehlausbildung in wenig zukunftsorientierten Berufen und geht zulasten der Ausbildungsqualität. So sind Indikatoren der Ausbildungsqualität wie der Ausbildungsabbruch und wie die Durchfallquoten in der Abschlussprüfung bei Kleinbetrieben am höchsten (siehe oben).

Weiterhin haben Kleinstbetriebe mit einen bis neun Beschäftigten im Jahr 2020 nur 55 Prozent ihrer Ausgebildeten nach Beendigung der Ausbildung in eine Beschäftigung übernommen, bei Großbetrieben (mit 500 und mehr Beschäftigten) waren es indessen 88 Prozent. Versuche, die Ausbildungsqualität zu heben, haben regelmäßig zu quantitativen Problemen in der Ausbildungsversorgung geführt, weil weniger Betriebe ausbildeten.

2. Betriebsbindungsthese

Die zweite Ausnahme ist die Betriebsbindungsthese: Die Betriebe versuchen, die Ausgebildeten an den Betrieb zu binden. Das wichtigste Mittel der Betriebsbindung ist die betriebsspezifische Ausbildung, die verhindern soll, dass die Ausgebildeten nach dem Ende der Ausbildung den Betrieb verlassen. Konkurrierende Betriebe könnten mit den Qualifikationen der Ausgebildeten wenig anfangen. Wohl aber der Betrieb, der die betriebsspezifische Ausbildung durchgeführt hat. Eine betriebsspezifische Ausbildung und betriebliche Gratifikationen können insbesondere Großbetriebe realisieren.

Ob Betriebe eine dieser beiden Ausnahmen praktizieren, hängt von den jeweiligen konkreten inner- und außerbetrieblichen Bedingungen ab. Genannt seien hier nur: die sachlichen und personellen Voraussetzungen für eine Ausbildung, die Branchenzugehörigkeit, die Berufsstruktur, die Betriebsgröße, die Konkurrenzsituation, der regionale Arbeitsmarkt, die Konjunkturlage, gesetzliche Bestimmungen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass der Fachkräftebedarf für die Ausbildungsentscheidung eines Unternehmens nur eine untergeordnete Rolle spielt. So bilden einerseits sehr viele Betriebe nicht aus, obwohl sie einen Fachkräftebedarf haben, während umgekehrt Betriebe ausbilden, obwohl sie keinen Fachkräftebedarf haben. Generell wird kein ökonomisch rational handelndes Unternehmen in etwas investieren, das ihm nicht gehört.

Fachkräftemangel durch Ausbildungsmangel

Generell gibt es zwei  Möglichkeiten, um der Nichtausbildungstendenz zu begegnen: Entweder bezahlen die Auszubildenden die Ausbildung selbst, oder die Ausbildung wird teilweise oder vollständig vergesellschaftet (Vergesellschaftungsthese). Das Berufsbildungsgesetz (BBiG) von 1969 war ein Versuch zur teilweisen Vergesellschaftung der Berufsbildung. Damals hatte die sozialliberale Koalition – auch in Reaktion auf Lehrlingsproteste, investigative Presseartikel und kritische wissenschaftliche Studien – das Berufsbildungsgesetz und danach eine Reihe von Verordnungen (wie die Modernisierung der Ausbildungsordnungen oder die Ausbilder-Eignungsverordnung) erlassen. Ziel war eine Qualitätsanhebung der Ausbildung. Die Lehrlinge sollten von nun an nicht nur Auszubildende heißen, sondern auch sein.

Schon damals wurde ein Rückgang der Ausbildungsbereitschaft befürchtet. Dagegen sollte eine überbetriebliche Finanzierung der Ausbildung bzw. ein Ausbildungsfonds geschaffen werden. Die Wirtschaft wollte dies nicht und hat versprochen, dass es nicht zu einem Lehrstellenrückgang käme. Die Politik hat sich darauf verlassen. Wie vorausgesagt, kam es zu dem „Lehrstellenboykott“ genannten Lehrstellrückgang. Die Politik reagierte darauf mit dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz von 1976. Es enthielt die Drohung einer Umlagefinanzierung der Berufsausbildung. Die gesetzliche Regelung sollte in den Jahren umgesetzt werden, in dem ein von der Bundesregierung vorzulegender Berufsbildungsbericht weniger als ein Überangebot von 112,5 pro 100 nachgefragten Ausbildungsplätzen feststellte. Dieses Gesetz ist 1980 durch eine Klage des Landes Bayern vorm Bundesverfassungsgericht wegen der fehlenden Zustimmung des Bundesrates zu Fall gebracht worden. Der Ausbildungsplatzmangel wurde zu einer Dauereinrichtung in Westdeutschland.

Ab den 1980-er Jahren bis in die 2000-er Jahre wurde er mit den „geburtenstarken Jahrgängen“ begründet, später mit der mangelnden Ausbildungseignung der Jugendlichen. In der Berufsbildungspolitik ist es seitdem zu einem Reformstau und einer hilflosen Appellpolitik an die Betriebe gekommen. Es kam nur noch zu einer teilweisen Vergesellschaftung der Ausbildung. Zu nennen seien hier: die Verlagerung von Teilen der Ausbildung in überbetriebliche Ausbildungsstätten, die Verlängerung des Berufsschulunterrichts oder Ausbildungsprämien.

Grundsätzlich geändert hat sich am Ausbildungsmangel nichts. Im neuen Koalitionsvertrag versprechen nun die Ampelparteien:

„Mit den Ländern bauen wir die Berufsorientierung und Jugendberufsagenturen flächendeckend aus. Wir wollen eine Ausbildungsgarantie, die allen Jugendlichen einen Zugang zu einer vollqualifizierenden Berufsausbildung ermöglicht, stets vorrangig im Betrieb.“

Und weiter:

„In Regionen mit erheblicher Unterversorgung an Ausbildungsplätzen initiieren wir bedarfsgerecht außerbetriebliche Ausbildungsangebote in enger Absprache mit den Sozialpartnern“.

Außerbetrieblich sind Ausbildungsverhältnisse, die überwiegend öffentlich finanziert sind. Laut Ausbildungsmarktstatistik der Bundesagentur für Arbeit waren 2023 nur 3 Prozent der gemeldeten Ausbildungsstellen außerbetriebliche Angebote.

Die von den Ampelparteien und der Bundesregierung beschlossene Ausbildungsgarantie ist indessen an zahlreiche Bedingungen geknüpft, sodass man kaum noch von einer „Ausbildungsgarantie“ sprechen kann. Sie soll sich keineswegs auf alle Jugendlichen erstrecken, sondern – neben dem Nachweis „hinreichender Bewerbungsbemühungen“ – nur für diejenigen gelten, die „in einer Region wohnen, in der die Arbeitsagenturen eine erhebliche Unterversorgung an Ausbildungsplätzen festgestellt haben“. Danach soll eine Unterversorgung erst dann vorliegen, wenn auf 100 gemeldete betriebliche Berufsausbildungsstellen mehr als 110 gemeldete Bewerber kommen. Das aber trifft nur auf 19 der insgesamt 150 Agenturbezirke zu. Somit garantiert die Ausbildungsgarantie nur einem geringen Teil der bei der Ausbildungsplatzsuche leer ausgegangenen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz.

Damit wird sich am Ausbildungsmangel nichts Wesentliches ändern. Hinzu kommt, dass in den Parteien, Ministerien, Behörden und den Medien kaum noch Leute anzutreffen sind, die sich mit dem Ausbildungssystem auskennen. Sie glauben daran, dass die Betriebe „händeringend“ Auszubildende suchen. Die Betriebe aber denken hauptsächlich einzelbetrieblich. Sie werden nicht ausbilden, es sei denn, sie können Netto-Ausbildungserträge schon während der Ausbildung erwirtschaften oder nach der Ausbildung die Ausgebildeten an ihren Betrieb binden. Ansonsten verlegen sie sich lieber auf eine Abwerbestrategie im In- und Ausland.