Militärausgaben

Der Mythos der kaputtgesparten Bundeswehr

| 11. Februar 2025
IMAGO / Noah Wedel / IlluPics

Die Forderungen nach höheren Rüstungsausgaben basieren auf fragwürdigen Annahmen. Wie die immensen Summen aufgebracht werden sollen, ist aber klar: durch Sozialkürzungen.

Der aktuelle Überbietungswettbewerb in Sachen Militärausgaben sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Akteure aus Politik, Militär und Industrie schon lange vom selben Blatt singen: Eine angeblich kaputtgesparte Bundeswehr stehe „blank“ (Heeresinspekteur Alfons Mais) da und müsse dringend finanziell aufgepäppelt werden. Mit dieser Botschaft gelang es schon seit Jahren deutliche Etatsteigerungen durchzusetzen. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine kennen die Forderungen aber nahezu kein Halten mehr – und auch nicht die, dies über drastische Kürzungen der Sozialausgaben zu refinanzieren.

Realitätscheck: kaputtgesparte Bundeswehr?

2014, acht Jahre vor der von Scholz verkündeten „Zeitenwende“, rief das Verteidigungsministerium die „Agenda Rüstung“ aus. In deren Folge wurde der Mythos der kaputtgesparten Bundeswehr geboren und überaus erfolgreich in den Köpfen der Bevölkerung verankert. Dass dies wenig bis nichts mit den Realitäten zu tun hatte, tat augenscheinlich wenig zur Sache.

Tatsächlich stieg der Verteidigungshaushalt von (umgerechnet) rund 24 Milliarden Euro im Jahr 2000 bereits deutlich auf etwa 32,5 Milliarden Euro im Jahr 2014. Er lag damit auch drastisch über dem eigentlich verbindlich vereinbarten Sparziel vom Juni 2010. Damals war festgelegt worden, alle Ressorts müssten bis 2014 insgesamt 81,6 Milliarden Euro einsparen und die Bundeswehr solle dazu 8,3 Milliarden beitragen. Gemäß dem daran angelehnten Bundeswehrplan sollte der Rüstungshaushalt bis 2014 auf 27,6 Milliarden Euro reduziert werden – ein Beschluss, der augenscheinlich rasch wieder einkassiert worden war. Doch von da ab schoss der Verteidigungshaushalt mit dem Rückenwind der Agenda Rüstung erst richtig durch die Decke, um unmittelbar vor der Zeitenwende 50,4 Milliarden Euro (2022) zu erreichen, was auch inflationsbereinigt einen kräftigen Anstieg bedeutete.

Dennoch wurde der Mythos der kaputtgesparten Bundeswehr unermüdlich weiter bemüht, was neben dem Schock des russischen Angriffskrieges sicher erheblich dazu beitrug, dass Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 weitgehend kritiklos die militärische Zeitenwende ausrufen konnte. Sie beinhaltet zwei Kernelemente: Erstens, dass die Militärausgaben in Zukunft mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) umfassen sollen; und zweitens, dass ein Sondervermögen im Umfang von 100 Milliarden Euro ausgelobt wurde (wofür wegen der Schuldenbremse kurze Zeit später das Grundgesetz geändert werden musste).

Im Jahr 2023 pirschte sich die Bundesregierung mit Militärausgaben von rund 1,6 Prozent des BIP (2022: 1,51 Prozent) allmählich an das 2 Prozent-Ziel heran, das im Folgejahr dann übertroffen wurde. Laut Schätzungen der NATO beliefen sich die Militärausgaben im Jahr 2024 auf 90,58 Milliarden Euro (2,12 Prozent des BIP). Der Betrag setzt sich zusammen aus dem offiziellen Verteidigungshaushalt von 51,95 Milliarden Euro, hinzu sollten 19,8 Milliarden aus dem Sondervermögen und 18,83 Milliarden nach NATO-Kriterien (militärrelevante Ausgaben aus anderen Haushalten, vor allem für Waffenlieferungen an die Ukraine) kommen (weil ein zeitiger Mittelabruf teils nicht gelang, waren es real wohl rund 4,6 Milliarden Euro weniger).

Ausgabenziele und Nebelkerzen

Trotz dieser rasanten Ausgabensteigerungen scheint das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht. Den Aufschlag machte der frisch gewählte US-Präsident Donald Trump, der bereits kurz vor seinem Amtsantritt am 20. Januar 2025 mit seiner Forderung nach Militärausgaben von 5 Prozent des BIP gleich einmal so richtig auf den Putz haute. Die Reaktionen hierzulande ähnelten sich: An und für sich sei das alles ja recht unverschämt, aber im Kern werde man eben nicht um drastische Erhöhungen herumkommen, nur eben nicht in dem – ohnehin völlig unrealistischen – von Trump geforderten Ausmaß. Die USA selbst geben „lediglich“ 3,38 Prozent des BIP aus.

Seither setzte sich Grünen-Chef Robert Habeck einmal mehr an die militaristische Spitze, indem er Militärausgaben von 3,5 Prozent des BIP forderte. Aber zum Beispiel auch CSU-Chef Markus Söder gab zum Besten, die Verteidigungsausgaben müssten künftig "deutlich über drei Prozent" des BIP liegen. Unions-Spitzenkandidat Friedrich Merz äußerte sich wiederum: „Ob es nun zwei 2,5 oder 5 Prozent sind, ehrlich gesagt, das hat für mich nur eine zweitrangige Bedeutung.“ Es müsse sichergestellt sein, „dass wir das notwendige Geld haben, um die Bundeswehr wieder in die Lage zu versetzen, ihren Auftrag zu erfüllen“, wovon sie aktuell „ziemlich weit entfernt“ sei. Auf der anderen Seite erklärte Falko Droßmann, der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion:

„Es ist klar, dass wir mehr für Verteidigung ausgeben müssen. […] Das muss weitergehen. […] Natürlich muss der Verteidigungsetat strukturell erhöht werden, das ist ja überhaupt keine Frage. […] Ich glaube, dass es so ist, dass Donald Trump, wie er auch in der letzten Wahlperiode gezeigt hat, also er ist Kaufmann, er ist Händlermentalität, er fängt sehr hoch an und ich bin auch sehr sicher, dass wir auf dem nächsten NATO-Gipfel da was finden werden. Also ich finde durchaus, ja, dass die 2 Prozent erhöht werden müssen.“

Und tatsächlich wird aktuell der Stimmungsteppich ausgebreitet, um beim NATO-Gipfel im Juni 2025 deutlich höhere NATO-Ausgabenziele beschließen zu können. Bereits letzten Oktober wurde darüber berichtet, die NATO beabsichtige ihre Kapazitätsziele („Minimum Capability Requirements“, MCR), zu denen Deutschland knapp 10 Prozent beitrage, deutlich anzuheben. Gegenüber bisherigen Planungen wolle das Bündnis künftig insgesamt über 15 Armeekorps (Anstieg um 9), 38 Divisionen (+14), 131 Kampfbrigaden (+49), 1467 bodengebundene Flugabwehreinheiten (+1174) und 104 Hubschrauberverbände (+14) verfügen.

Für Deutschland bedeute das unter anderem „fünf bis sechs weitere Kampftruppenbrigaden“ mit je rund 5.000 Soldaten, wurde aus einem Dokument des Verteidigungsministeriums zitiert. Ende Januar 2025 stattete NATO-Generalsekretär Mark Rutte diese Ambitionen dann mit einem konkreten Preisschild aus: hierfür seien 3,6 oder 3,7 Prozent des BIP erforderlich, womöglich einige Zehntel weniger. Zuletzt versicherte eine DPA-Meldung, die breit in den Medien aufgegriffen wurde, die NATO habe berechnet, dass eine Umsetzung der neuen Fähigkeitsziele Mindestausgaben im Umfang von 3,6 Prozent des BIP bedürften.

Vor diesem Hintergrund belegen diverse Umfragen recht hohe Zustimmungswerte für weiter steigende Militärausgaben. Hierzu tragen sicher auch zwei sprachliche Nebelkerzen bei: Erstens handelt es sich selbstverständlich nicht um ein „Sondervermögen“ der Bundeswehr, mit dem die aktuellen Ausgabenziele erreicht werden, sondern um Schulden, die mit Zinsen zurückgezahlt werden müssen. Und zweitens verschleiert das Gerede von den 2 Prozent des BIP die tatsächlichen Dimensionen, um die es hier geht: Denn bei einem Gesamtbudget von 476,8 Milliarden Euro im Jahr 2024 sind das (ohne Berücksichtigung des nicht in diesem Betrag enthaltenen Sondervermögens) rund 19 Prozent des Haushaltes. Anders ausgedrückt: 2024 erhielten die Ministerien Bildung (21,5), Gesundheit (16,7), Entwicklung (11,2), Wirtschaft & Klima (11,1), Wohnen (6,7), Auswärtiges (6,7) und Umwelt (2,4) alle zusammen immer noch mehr als 13 Milliarden Euro weniger als das Militär.

Allerdings nimmt sich dies noch harmlos gegenüber den aktuell im Raum stehenden Beträgen aus. So hätten die von Robert Habeck geforderten 3,5 Prozent des BIP voriges Jahr Militärausgaben in Höhe von ziemlich genau 150 Milliarden Euro oder 32 Prozent des gesamten Haushalts bedeutet (erneut ohne Berücksichtigung eines Sondervermögens). Und auch wie diese immensen Summen aufgebracht werden sollen, wissen einige – wie im Übrigen schon seit Jahren – ebenfalls ganz genau: durch Sozialkürzungen.

Rüstung statt Rente – Kanonen statt Butter

Das Sondervermögen ist spätestens 2027 aufgebraucht. Berechnungen der Bundeswehr zufolge würden 3,5 Prozent des BIP im Jahr 2028 Militärausgaben in Höhe von 170 Milliarden Euro bedeuten. Ohne weiteres Sondervermögen klafft also zwischen dem aktuellen Haushalt (51,95 Milliarden Euro) und den dann anvisierten Beträgen – selbst wenn noch einige Milliarden aus anderen Haushalten hinzukommen – eine gigantische Deckungslücke. Vor diesem Hintergrund melden sich seit einiger Zeit arbeitgebernahe Einrichtungen, insbesondere das Institut für Weltwirtschaft Kiel (IfW) und das Ifo Institut für Wirtschaftsforschung München lautstark zu Wort.

So forderte ifo-Chef Clemens Fuest bereits im Februar 2024: „Kanonen und Butter – das wäre schön, wenn das ginge. Aber das ist Schlaraffenland. Das geht nicht. Sondern Kanonen ohne Butter.“ Rund einen Monat später bediente sich auch IfW-Präsident Moritz Schularick dieses in die Nazizeit zurückreichenden Spruchs.  Unter dem bemerkenswerten Titel „Wir müssen aufrüsten für den Wohlstand“ forderte er:

„Deutschland und Europa müssen aufrüsten, auch wenn die Konsequenzen für die Staatsfinanzen dramatisch sein werden. […] Wie viel mehr Geld müssten wir dafür ausgeben? Wenn wir uns an anderen Ländern orientieren, scheint eine Erhöhung der Militärausgaben bis zum Ende des Jahrzehnts auf 150 Milliarden Euro jährlich realistisch. […] Wie kann und wie sollte ein solches Paket daher finanziert werden? Mittelfristig wird kein Weg daran vorbeiführen, harte Budgetentscheidungen zwischen ‚Kanonen und Butter‘ zu treffen.“

Zuletzt machte sich Anfang des Jahres Niklas Potrafke vom ifo Institut mit ähnlichen Forderungen nach Sozialkürzungen bemerkbar:

"Kernaufgabe der Politik ist es, Prioritäten zu setzen. Deutschland wird nicht nach Belieben konsumtive und investive Ausgaben erhöhen können. […] Verteidigung ist eine Kernaufgabe des Staates und gehört deshalb in den Kernhaushalt. […] Der größte Posten im Bundeshaushalt sind Zuschüsse in die Rentenversicherung – alsbald 130 Milliarden Euro im Jahr. Das ist eine klassische konsumtive Ausgabe. Wir haben es über Jahre verschlafen, wesentliche Strukturreformen anzugehen. Ein prominentes Beispiel ist der Umgang mit dem demographischen Wandel. Wir sollten nun dringend zusehen, durch entschlossenes Anpassen des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung die Zuschüsse in die Rentenversicherung zu reduzieren."

Fragwürdige Annahmen

Im Wesentlichen basieren die Forderungen nach höheren Rüstungsausgaben auf drei weitgehend unhinterfragten, aber dennoch mehr als fragwürdigen Annahmen: Da wäre einmal die These von der kaputtgesparten Bundeswehr, auf die in diesem Artikel ausführlich eingegangen wurde. Eine ausführliche Beschäftigung mit den beiden weiteren Annahmen würde den Rahmen dieses Beitrags deutlich sprengen, deshalb hierzu nur einige wenige Bemerkungen: Auch die Aussagen, die Bundeswehr stehe mal wahlweise „blank“ (Alfons Mais, Heeresinspekteur) oder gar „blanker als blank“ (André Wüstner, Chef des Bundeswehrverbandes) da, sind zweifelhaft, wie ein Vergleich mit den militärischen Fähigkeiten Frankreichs und Großbritanniens ergab.

Doch selbst wenn dies der Fall wäre, wäre dies angesichts der massiven Ausgabensteigerungen der letzten Jahre eher ein Fall für den Rechnungshof und kein Argument für weitere Budgetsteigerungen. Und da wäre schließlich drittens noch die nie irgendwelchen nachprüfbaren Quellen zugeordnete Behauptung, Russland habe in wenigen Jahren sowohl die Fähigkeit als auch die Absicht (noch einmal ein großer Unterschied) NATO-Gebiet anzugreifen. Wie dies angesichts der Tatsache plausibel sein soll, dass Russland den NATO-Staaten aktuell militärisch drastisch unterlegen ist, vermochte bislang ebenfalls noch niemand auch nur halbwegs schlüssig zu erklären.

Dementsprechend hieß es in einer Greenpeace-Studie im November 2024: „Die Analyse der militärischen Kapazitäten der Nato und Russlands lässt keinen Zweifel an der allgemeinen militärischen Überlegenheit der Nato.“ Und weiter: „Die Notwendigkeit, in Deutschland die Militärausgaben weiter und dauerhaft zu erhöhen und dabei – in logischer Konsequenz – andere essenzielle Bereiche wie Soziales, Bildung oder ökologische Transformation nicht ausreichend zu finanzieren, lässt sich daraus nicht ableiten.“