USA und die Ukraine

Amerikanischer Exzeptionalismus und die liberale Bedrohung

| 22. Februar 2022
US-Außenminister Antony J. Blinken in Kiew

Der amerikanische Exzeptionalismus ist die gefährlichste Doktrin der Welt, und sie hat sich in der aktuellen Ukraine-Krise voll entfaltet. Schlimmer noch, ihre lautesten Verfechter sind die liberalen Eliten Amerikas. 

Die Doktrin des Exzeptionalismus besagt, dass sich die USA von Natur aus von anderen Nationen unterscheiden und ihnen überlegen ist. Diese Überlegenheit impliziert, dass für die USA ein anderer Maßstab für ihr Tun gilt als für andere Nationen. Ihre Handlungen werden als wohlwollend und über dem Völkerrecht stehend erachtet, und die USA haben das Recht, in der ganzen Welt nach Belieben zu intervenieren und ein globales Netz von Militärstützpunkten aufzubauen, das sie einem anderen Land niemals gestatten würden.

Die liberale Bedrohung

In den heutigen Vereinigten Staaten sind die Liberalen die extremsten Verfechter des amerikanischen Exzeptionalismus. Im Gegensatz zu den Liberalen neigen Republikaner und Konservative dazu, die Außenpolitik mit dem Verweis auf die rohe Macht zu rechtfertigen, der zufolge die USA tun, was sie wollen, weil sie es können.

Ich selbst bin schon lange misstrauisch gegenüber amerikanischen Liberalen. Ich nenne sie die "liberale Bedrohung". Das liegt daran, dass sie in den letzten vierzig Jahren ein großes Hindernis auf dem Weg zu einer sozialdemokratischen Gesellschaft waren.

In der Wirtschaftspolitik besteht die liberale Bedrohung darin, dass sie die Gesellschaft dauerhaft in die Zwangslage versetzt, zwischen "schlecht" und "noch schlechter" wählen zu müssen. In der Außenpolitik appelliert sie an ein moralisches Urteilsvermögen, das die moralischen Defizite der USA übersieht, den Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Länder verletzt und die Untauglichkeit der von ihr empfohlenen Politik für andere Länder ignoriert. 

Die liberale Bedrohung und die Ukraine

Die liberale Bedrohung ist im Zusammenhang mit der Ukraine in vollem Gange. Die liberalen Leitmedien haben sich an vorderster Front für eine militärische Konfrontation mit Russland, eine fortgesetzte Osterweiterung der NATO und die Ablehnung jeglicher Legitimität der russischen Interessen ausgesprochen. Außen vor bleibt eine kritische Reflexion des US-amerikanischen Handelns, angefangen bei der offensichtlichen Frage, was die USA an den Grenzen Russlands zu suchen haben.
 
Nicht nur haben die USA die ukrainische Gesellschaft und die ukrainische Politik grundlegend falsch beschrieben. Sie hat es zudem versäumt, sich mit der wechselhaften Geschichte der Region und den völlig berechtigten nationalen Sicherheitsinteressen Russlands auseinanderzusetzen. 

Heuchelei und die liberale Bedrohung 

Viele haben den Widerspruch zwischen der von den USA selbst verkündeten Monroe-Doktrin und der Zurückweisung des russischen Widerstands gegen die Osterweiterung der NATO durch die USA erkannt. Die Monroe-Doktrin besagt, dass die USA das Recht haben, jede ausländische Militärpräsenz in der gesamten westlichen Hemisphäre - und nicht nur an den Grenzen der USA - zurückzuweisen.
  
Die Heuchelei geht jedoch noch weiter. Die illegale US-Invasion im Irak 2003 ist nur der Anfang. Im Jahr 1998 bombardierten die USA Belgrad und trafen dabei die chinesische Botschaft. Danach unterstützten die USA die Abspaltung des Kosovo von Serbien. Das ist vergleichbar mit der Bombardierung Kiews durch Russland, bei der die britische Botschaft getroffen wurde, und der Abspaltung der Donbass-Region als unabhängige Republik.

Ein drittes Beispiel für die Heuchelei betrifft unseren NATO-Partner Türkei, die unrechtmäßig ein Drittel der Insel Zypern besetzt hält. Die US-Regierung und die liberalen Eliten der USA schweigen dazu, und es ist auch nicht die Rede von Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei.

Europa ist die Meisterin der Prinzipienlosigkeit. Einerseits wollen die europäischen NATO-Länder Sanktionen gegen Russland verhängen, wenn es seine berechtigten Befürchtungen mit Blick auf die Ukraine zum Ausdruck bringt, andererseits tun sie nichts Vergleichbares, wenn die Türkei das Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedsstaates an sich reißt.    
  
Ein viertes Beispiel betrifft die illegale Annexion palästinensischen Landes durch Israel. Auch dazu schweigen sowohl die US-Regierung als auch die liberalen Eliten der USA. 

Die liberale Bedrohung und das Problem mit der Wahrheit

Die USA haben ein Problem mit der Wahrheit. Donald Trump ist das Aushängeschild für dieses Problem. Aber auch die liberale Bedrohung ist Teil des Problems. Wenn man nur dann wahrhaftig ist, wenn es einem passt, dann wird der Wahrheit ein Bärendienst erwiesen.

Die Lügen, die Aggression und der Militarismus der liberalen Außenpolitik im Geiste des Exzeptionalismus sickern zurück in die amerikanische Gesellschaft. Wenn es den US-Liberalen ernst damit ist, den Aufstieg des Proto-Faschismus in den USA zu stoppen, sollten sie mit einer veränderten Außenpolitik beginnen. Eine Revision ihrer Ukraine-Politik wäre dafür ein guter Anfang.