Die Grünen: Zusammen wachsen?
Die Grünen setzen auf eine „transformative Angebotspolitik“: ordnungspolitische Maßnahmen sollen mit langfristigen Investitionen des Staates verbunden werden. Doch dadurch geraten nachfrageseitige Faktoren der Krise aus dem Blick.
Zum zweiten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ist das Bruttoinlandsprodukt zwei Jahre in Folge geschrumpft – 2023 und 2024. Aufgrund der Energiepreiskrise sanken im Jahr 2022 die Reallöhne um vier Prozent; und trotz einer leichten Erholung in den Folgejahren liegen sie weiterhin unter dem Niveau von 2019.
Die Arbeitslosenzahlen gestalten sich noch dramatischer. Wie die Agentur für Arbeit in ihrem Monatsbericht für Januar 2025 berichtet, stieg die Arbeitslosigkeit von Dezember auf Januar um 186.000 Personen oder 7 Prozent auf fast drei Millionen Arbeitslose. Das waren 169.000 Personen mehr als noch im letzten Jahr. Die „Wirtschaftsschwäche hinterlässt immer tiefere Spuren“, betont die Bundesagentur für Arbeit. Die Chancen, einen Job zu finden, lägen auf einem „historisch niedrigen Niveau“. Den knapp drei Millionen Arbeitssuchenden standen im Januar 623.000 gemeldete Arbeitsstellen gegenüber – eine Quote von fast fünf zu eins.
Die Wirtschaftskrise ist den Grünen kein Begriff
Obwohl es sich um einen anhaltenden Trend mit dramatischen Ausmaßen handelt, der rechten Parteien die Wähler in die Arme treibt, findet sich dazu nichts im aktuellen Wahlprogramm der Grünen.
Würde man das Programm der Grünen zur Bundestagswahl am 23. Februar lesen, ohne die aktuelle Lage in Deutschland zu kennen, man käme nicht zu dem Schluss, dass sich Deutschland in einer seit zwei Jahren andauernden Wirtschaftskrise befände. Das Wort selbst taucht in den 160 Seiten nicht auf, „Arbeitslosigkeit“ nur ein einziges Mal. Die „Klimakrise“, selbstverständlich ein Thema von enormer Bedeutung, kommt als Wort dagegen 24-mal vor. Wer nach „Rezession“, „Konjunktur“ oder „gesamtwirtschaftliche Nachfrage“ sucht, wird ebenfalls nicht fündig, obwohl es sich um zentrale Begriffe der wirtschaftspolitischen Debatte handelt.
Dabei sprechen die makroökonomischen Daten der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt eine eindeutige Sprache. Wie die Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen, nimmt die ohnehin charakteristische Sparneigung privater Haushalte gemessen am Anteil der Ersparnisse am Einkommen seit 1,5 Jahren zu.
Was für ökonomische Laien zunächst wenig verwerflich klingen mag, wird für eine Volkswirtschaft schnell zum Problem: Wenn Unternehmen und Haushalte mehr sparen, müssen der Staat oder das Ausland in die Bresche springen und Mehrausgaben tätigen, andernfalls stockt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Heißt, Auftragsbücher von Unternehmen bleiben leer, Arbeitsplätze werden abgebaut.
Unternehmen investieren in der Regel nur, wenn es eine ausreichende Nachfrage für ihre Produkte gibt (oder diese erwartet wird). Bleiben mit sinkender Nachfrage Unternehmensinvestitionen aus, leiden darunter Branchen wie der Maschinenbau. Die unsichere wirtschaftliche Lage macht aber auch ganzen anderen Branchen zu schaffen – die Gastronomie hat laut Statistischem Bundesamt 2024 noch immer nicht das Umsatzniveau von vor der Corona-Pandemie erreicht.
Weder die Nachfrage nach deutschen Exportgütern durch das Ausland noch der deutsche Staat haben diese Nachfragelücke geschlossen. Da die deutsche Bundesregierung das Ausland nicht zwingen kann, deutsche Autos zu kaufen und auch Unternehmen in schweren Zeiten ungern investieren, bleibt nur das Mittel der Fiskalpolitik.
Deren Wirksamkeit zeigte sich während der Corona-Pandemie, als nach Aussetzung der europäischen Schuldenregeln und der deutschen Schuldenbremse die Arbeitslosigkeit innerhalb der EU auf den niedrigsten je gemessenen Wert sank. Gezielte Ausgaben, etwa in Form von Kurzarbeitergeld oder Energiepreisbremse brachten die aus der Bahn geworfene deutsche Wirtschaft wieder in die Spur.
Im November 2023 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass der zweite Nachtragshaushalt der Ampel verfassungswidrig ist. Die schlussendliche Weigerung der FDP, die Schuldenbremse erneut auszusetzen oder diese zu reformieren, endete im Bruch der Koalition.
Mehr Staatsausgaben nur für Investitionen
Man könnte meinen, die Grünen hätten aus diesem Desaster gelernt – immerhin fordern sie, wie auch die SPD, eine Reform der Schuldenbremse. Doch der Teufel steckt im Detail. Die Grüne Partei schreibt in ihrem Bundestagswahlprogramm für 2025: „Die Aufnahme von staatlichen Krediten soll […] in dem Umfang ermöglicht werden, wie es für staatliche Investitionen erforderlich ist.“
Eine weiterführende Einordnung findet sich im Programmentwurf vom Dezember 2024, die im finalen Programm ersatzlos gestrichen wurde. Dieser Entwurf, verfasst durch den Bundesvorstand, gewährt einen Einblick in das Herz der Partei. Dort erläutern die Grünen, welcher Logik sie mit ihrer Reform der Schuldenbremse folgen möchten:
„Bei sogenannten konsumtiven Ausgaben bleiben die derzeit strikten Regeln in Kraft. Das bedeutet etwa: Während die energetische Sanierung von Schulgebäuden kreditfinanziert werden kann, muss das Gehalt des Lehrpersonals aus dem regulären Etat bestritten werden.“
Doch was bringt eine Schule ohne genügend Lehrer? Zudem ist die Unterscheidung zwischen Investitions- und Konsumausgaben zu einem gewissen Grad willkürlich. So werden selbst zeitlich begrenzte Software-Lizenzen oft als ‚Investitionen‘ verbucht.
Schlussendlich schränkt diese Unterscheidung die Möglichkeiten ein, auf Wirtschaftskrisen nachfrageseitig gezielt zu reagieren. Statt direkt mehr Lehrer zu beschäftigen oder Transferleistungen wie etwa das BAföG nach realem Bedarf erhöhen zu können, bleiben Habeck und Parteigenossen mit einer derartigen Regelung weiterhin die Hände gebunden.
Immerhin: Im finalen Programm fordern die Grünen zusätzlich eine Ausweitung der Konjunkturkomponente der Schuldenbremse, was die Spielräume für die sogenannten konsumtiven Ausgaben im Falle einer Wirtschaftskrise erhöhen könnte. Im Entwurf des Programms war davon noch nichts zu lesen.
Was ist „transformative Angebotspolitik“?
Überhaupt spielt Konjunkturpolitik im Rest des finalen Programms keine weitere Rolle. Was Kanzlerkandidat Robert Habeck sich als wirtschaftspolitisches Credo vorstellt, erläuterte sein Ministerium 2023 in einem Papier mit dem Titel „Zeit für eine transformative Angebotspolitik“.
Einer angebotsseitigen Wirtschaftspolitik liegt der Gedanke zu Grunde, dass sich eine Volkswirtschaft nach externen Schocks (wie etwa der Corona-Pandemie oder dem Ukraine-Krieg) auf längere Sicht selbstständig stabilisiert und in einem Gleichgewicht mit Vollbeschäftigung einpendelt.
Fiskalische Interventionen, welche die Beschäftigung stabilisieren (zum Beispiel über das Kurzarbeitergeld) oder Preisschocks abfedern (zum Beispiel in Form der Energiepreisbremse), stören nach dieser Sichtweise die wirtschaftliche Entwicklung, da sie vermeintlich natürliche Preissignale verzerren. Im Glauben an die vermeintlichen Selbstheilungskräfte des Marktes wird daher bewusst auf solche Maßnahmen verzichtet.
Für Angebotspolitiker kommen lediglich solche Vorschriften, Institutionen und Handlungen in Frage, welche die Wirtschaft dabei helfen, sich entsprechend ihrer „natürlichen“ Funktionsweise im marktvermittelten Wettbewerb zu organisieren. Diese ordnungspolitischen Maßnahmen – etwa Bürokratieabbau oder Unternehmenssteuersenkungen – können die Wirtschaft jedoch nicht wiederbeleben, solange Unternehmen selbst keine steigende Nachfrage schaffen.
Im Gegensatz zur klassischen Angebotspolitik, die oft auf Deregulierung und Steuersenkungen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit setzt, geht es bei Habecks transformativer Angebotspolitik darum, notwendige Rahmenbedingungen für einen klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft zu schaffen. Dazu gehören gezielte Investitionen in Bildung, Forschung, Infrastruktur und erneuerbare Energien, aber auch regulative Maßnahmen wie die CO₂-Bepreisung.
Doch staatliche Investitionen wie Infrastrukturprogramme haben in der Regel einen längeren Zeithorizont als konsumtive Ausgaben und sind damit nur bedingt geeignet, kurzfristig mehr Geld in die Wirtschaft zu ‚pumpen‘. Angesichts der konjunkturellen Lage sollte aber gerade jetzt der Staatskonsum die steigenden Sparneigung privater Haushalte kompensieren.
Eine Therapie ohne passende Diagnose
Viele der von den Grünen geforderten Investitionen sind gut und wichtig. Deutschland braucht eine Sanierung und Erweiterung der Verkehrsinfrastruktur, die Sanierung von Schulen, eine klimaneutrale Strom- und Wärmeversorgung und eine bessere digitale Infrastruktur. Es braucht mehr bezahlbaren Wohnraum, bessere Radwege, mehr Orte für Begegnung genauso wie zusätzliche Ausgaben für Forschung und Entwicklung von Zukunftstechnologien.
Jedoch sind auch wirtschaftlichen Probleme offensichtlich, die nicht ausschließlich den Kapitalstock des Landes, also etwa die öffentliche Infrastruktur betreffen: Die Lebenshaltungskosten steigen, die Arbeitslosigkeit wächst, die Zukunftsängste der Menschen werden größer.
Doch die Grünen, die sich einst als Kraft für soziale Gerechtigkeit verstanden, bleiben erstaunlich still. Das Thema Arbeitslosigkeit wird in ihrem Programm etwa weitestgehend ignoriert. Das liegt nicht nur an politischen Prioritäten, sondern auch an einem blinden Fleck in ihrem wirtschaftspolitischen Denken. Wer die Bedeutung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage nicht sieht, kann zwangsläufig keine funktionierenden Lösungen für Beschäftigungs- und Wachstumsprobleme entwickeln. Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz sind nur dann langfristig wirksam, wenn kurzfristig genug Nachfrage existiert, um Arbeitsplätze zu sichern, Einkommen zu stabilisieren und den Menschen ermöglichen, wieder positiv in die Zukunft zu blicken.
Friedrich Merz hat das Thema Arbeitslosigkeit im „Kanzlerduell“ wieder auf die Agenda gesetzt. Die Grünen müssen sich die Frage stellen, warum sie dieses Feld kampflos räumen.
Dieser Artikel ist Teil einer Serie: Studentinnen und Studenten haben im Auftrag der MAKROSKOP-Redaktion die Wahlprogramme der Parteien kritisch analysiert.