Wie China zum globalen Zugpferd der Dekarbonisierung wird
Chinas CO2-Emissionen werden im Jahr 2024 erstmals sinken. Das Rekordtempo bei der Installation neuer kohlenstoffarmer Energiequellen könnte sogar zu einem strukturellen Rückgang führen.
Auf den ersten Blick sprechen die Zahlen nicht für eine Transformation: Die Emissionen aus fossilen Brennstoffen und Zement sind in den letzten zwei Jahrzehnten in China rapide angestiegen. Wenige Ausnahmen bildeten allein die Konjunkturabschwächung von 2015-16 und die Auswirkungen der Null-Covid-Beschränkungen 2022. Doch schon im dritten Quartal 2023 stiegen Chinas CO2-Emissionen wieder an – im Vergleich zum Vorjahr um schätzungsweise 4,7 Prozent. Chinas vierteljährliche CO2-Emissionen aus dem Energieverbrauch und der Zementproduktion sind in der folgenden Abbildung dargestellt (das dritte Quartal eines jeden Jahres ist orange hervorgehoben).
Die Gründe für den Anstieg der Emissionen in 2023 waren vorhersehbar. Am wichtigsten und offensichtlichsten: Die Ölnachfrage ist nach fast drei Jahren des Covid-Shutdowns wieder gestiegen. Auch die Nachfrage nach Strom erholte sich in Sektoren, die von dem Shutdown besonders betroffen waren. Entsprechend war der Kohleverbrauch im Stromsektor der zweitgrößte Treiber für steigende Emissionen im dritten Quartal des Jahres.
Das Wachstum der Investitionen in China hat die Nachfrage nach energieintensiven Rohstoffen gestützt, trotz der Krise des Immobiliensektors, der im Allgemeinen der Hauptabnehmer von Metallen ist. Beispielsweise stiegen die Investitionen in die Herstellung von Elektromaschinen 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 38 Prozent und die Investitionen in den Schienenverkehr um 22 Prozent.
Kohleförderung gefährdet Chinas internationale Verpflichtungen
Das chinesische Wirtschaftswachstum war sowohl während als auch nach der Covid-19-Pandemie energie- und kohlenstoffintensiv. Damit hat China die eigenen, 2021 aktualisierten Klimaziele verfehlt, die den CO2- und Energieverbrauch pro BIP-Einheit senken sollten. Es ist zugleich eine Abkehr von früheren Fortschritten. Denn während der elften (2006-2010) und zwölften (2011-2015) Fünfjahresplanperiode hat China seine Energie- und CO2-Intensitätsziele übertroffen (siehe folgende Abbildung). Doch die verlangsamte Reduktion begann bereits mit dem Ende der 13. Fünfjahresplanperiode (2016-2020).
Das bevorstehende Wachstum kohlenstoffarmer Energie könnte das Land wieder auf den richtigen Weg zum CO2-Intensitätsziel bringen – vorausgesetzt, es setzt sich in ähnlicher Größenordnung in den nächsten Jahren fort.
Anders beim Energieintensitätsziel: bei den derzeitigen Trends wird es nicht erreicht werden. Allein durch eine drastische Verlagerung hin zu einem konsumgetriebenen Wachstum könnte es noch erreicht werden. Die Regierung bevorzugt diese Strategie, aber die dafür erforderlichen Maßnahmen wären nicht leicht umzusetzen.
Entgegen dem politischen Versprechen von Präsident Xi Jinping auf dem Klimagipfel der Staats- und Regierungschefs im April 2021 wurde das Genehmigungsverfahren für neue Kohlekraftwerke fortgesetzt. Laut Polaris Network wurden im dritten Quartal wurden mindestens weitere 25 GW genehmigt. Und das State Council Development Research Center prognostizierte jüngst, dass Chinas Kohlekraftwerkskapazität im Jahr 2030 ihren Höhepunkt bei 1.370 GW erreichen wird.
Solar-, Wind- und Wasserkraft werden 2024 wichtiger
Hoffnung macht, dass es gleichzeitig zu einem historischen Ausbau kohlenstoffarmer Energieanlagen kam. Das auffälligste Wachstum verzeichnete die Solarenergie: Hier waren die Installationen 2023 mit etwa 210 Gigawatt viermal so hoch wie im Jahr 2020 und doppelt so hoch wie die gesamte installierte Solarkapazität in den USA. Allein die 2023 neu installierten Solar-, Wind-, Wasser- und Kernkraftkapazitäten werden schätzungsweise 423 Terawattstunden (TWh) pro Jahr erzeugen. Das entspricht dem gesamten Stromverbrauch Frankreichs.
Etwa die Hälfte der neuen Solarpaneele werden auf Dächern installiert. Mithilfe des sogenannten „Whole County Solar“-Modells wird ein bestimmter Anteil der Dächer in einem gesamten Landkreis auf einmal mit Solarpaneelen ausstatten. Dafür verhandelt der Entwickler mit Gebäudeeigentümern und arrangiert die Verträge mit Netz, Finanzierung, Beschaffung, Vertragsabschlüssen und Installationen. Was sich als zentralisierte Entwicklung dezentraler Solarenergie beschreiben ließe, hat den Einsatz von Solaranlagen auf Dächern in großem Maßstab ermöglicht. Die andere Hälfte der Solaranlagen soll in großen Kraftwerksprojekten entstehen, insbesondere durch „saubere Energiebasen“ im Gigawatt-Maßstab in West- und Nordchina.
Insgesamt werden in China in diesem Jahr voraussichtlich 210 GW Solarenergie, 70 GW Windkraft, 7 GW Wasserkraft und 3 GW Kernenergie hinzukommen.
Zusätzlich zu dem durch diese neu hinzugekommene Kapazität erzeugten Strom wird China 2024 wahrscheinlich einen starken Anstieg der Leistung seiner riesigen Wasserkraftwerke im Vergleich zum Vorjahr verzeichnen. Bedingt durch Dürren und Hitzewellen erreichte die Auslastung dieser Werke noch von August 2022 bis Juli 2023 historische Tiefststände. Hinzu kam, dass die Wasserkraftbetreiber im Frühjahr und Frühsommer 2023 Wasser sparten und die Wasserstände in ihren Stauseen für die Spitzennachfragezeit im August aufbauten.
In Chinas streng reguliertem Stromsystem haben Wasserkraftbetreiber keinen wirtschaftlichen Anreiz, ihre Produktion auf die Spitzennachfragezeit zu legen. Nach den Stromengpässen im Sommer 2022 scheinen jedoch administrative Eingriffe wirtschaftliche Anreize ersetzt und die Erzeuger gezwungen zu haben, für hohe Füllstände der Stauseen zu sorgen.
Bestätigen sich alle Prognosen, wird sich die Nutzung der Wasserkraft nicht nur erholen, sondern im Jahr 2024 über dem historischen Durchschnitt liegen. Zudem wurden von Anfang 2022 bis September 2023 weitere 29 GW Wasserkraft hinzugefügt, das entspricht einer Kapazitätssteigerung von 7 Prozent. Mit anderen Worten: Der Aufschwung der Wasserkrafterzeugung hatte bereits im August und September begonnen und wird dieses Jahr anhalten.
Insgesamt gingen die CO2-Emissionen zwischen dem vierten Quartal 2020 und dem vierten Quartal 2022 um 4 Prozent zurück, was eine sehr niedrige Vergleichsbasis für das letzte Quartal dieses Jahres darstellt.
Wachstum mit sauberer Energie: Peak der Emissionen in 2024
Angesichts der wachsenden Kapazität von Solarenergie und Wasserkraft ist es praktisch sicher, dass die Emissionen des Stromsektors im Jahr 2024 zurückgehen – zumindest sofern der Strombedarf nicht erheblich steigt.
Ab 2025 hängt die weitere Entwicklung der Emissionen im Stromsektor davon ab, ob der Ausbau kohlenstoffarmer Energien beibehalten oder sogar beschleunigt werden kann. Ein potenzieller Wendepunkt ist die zusätzliche jährliche Erzeugung aus kohlenstoffarmen Energieanlagen im Jahr 2023, die in Summe erstmals über dem durchschnittlichen jährlichen Anstieg des chinesischen Strombedarfs liegt. Aktuell überwiegt das Wachstum der kohlenstoffarmen Elektrizität das Gesamtwachstum der Stromnachfrage.
Bestätigt sich dieses Wachstum der kohlenstoffarmen Stromerzeugung – und sollte zugleich der Anstieg der Stromnachfrage seinem historischen Trend von 5 Prozent pro Jahr folgen und die Nutzung der Wasserkraft zu ihren historischen Durchschnittswerten zurückkehren –, könnte China den Höhepunkt des Kohleverbrauchs 2023 erreicht haben. Anders gesagt: Ab 2024 könnten die mit fossilen Brennstoffen erzeugte Strommenge – und die damit verbundenen Emissionen – sinken.
Die schnelle Elektrifizierung Chinas hat dazu geführt, dass fast der gesamte Anstieg der CO2-Emissionen im Energiesektor stattgefunden hat. Erreichen sie ihren Höhepunkt, werden wahrscheinlich auch die Gesamtemissionen folgen. Denn der sinkende Kohleverbrauch, der auch außerhalb des Stromsektors zu beobachten ist, gleicht die steigende Öl- und Gasnachfrage aus, die ebenfalls durch die Elektrifizierung abgeschwächt wird.
Warum die Investitionen in saubere Energien mit Covid sprunghaft anstiegen
Chinas Produktion von Solarzellen wird in diesem Jahr voraussichtlich 600 GW übersteigen, die Batterieproduktion wird von 550 auf 800 Gigawattstunden (GWh) anwachsen. Das ist genug, um 20 Millionen Elektrofahrzeuge anzutreiben. Die Produktion von Elektrofahrzeugen überstieg in den zwölf Monaten bis September 8 Millionen Einheiten, was mehr als 30 Prozent aller in China produzierten Fahrzeuge ausmacht. Die Produktion wird im Kalenderjahr voraussichtlich neun Millionen Fahrzeuge erreichen.
Und das ist nur der Anfang der Expansionspläne der Branche. Bis 2025 wird die Produktionskapazität für Solarmodule voraussichtlich 1.000 GW überschreiten und die Batterieproduktionskapazität 3.000 GWh erreichen.
Die Bekanntgabe des CO2-Neutralitätsziels für 2060 gab das politische Signal, aber die breiteren makroökonomischen Bedingungen haben zu einem CO2-armen Kapazitätswachstum geführt, das weit über den Zielen und Erwartungen der politischen Entscheidungsträger liegt. Das diesjährige Solar- und Windinstallationsziel wurde bis September erreicht und der Marktanteil von Elektrofahrzeugen liegt bereits deutlich über dem 20-Prozent-Ziel für 2025.
Zudem führte das harte Durchgreifen gegen den stark verschuldeten Immobiliensektor ab 2020 zu einem starken Nachfragerückgang nach Grundstücken, Rohstoffen, Arbeitskräften und Krediten für Wohnungen und die damit verbundene Infrastruktur. Dies hinterließ ein Loch in den Finanzen der Kommunalverwaltungen – die einen Großteil ihrer Einnahmen auf Landverkäufe stützen – und beeinträchtigte das Wirtschaftswachstum. Daher suchten die Kommunalverwaltungen nach alter-nativen Investitionsmöglichkeiten, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Gleichzeitig standen ihre Investitionsausgaben aufgrund von Schuldensorgen auf dem Prüfstand. Chinas hochgesteckte umwelt- und industriepolitischen Ziele machten saubere Energie zu einem akzeptablen Sektor für kommunale Investitionen.
Weiter erleichterte die Regierung privaten Unternehmen die Geldbeschaffung auf den Finanzmärkten und bei Banken, um die Wirtschaft während der Pandemie anzukurbeln. Der CO2-arme Energiesektor besteht im Gegensatz zu den fossilen Brennstoffen und der traditionellen Schwerindustrie größtenteils aus Privatunternehmen. Der Zugang zu Krediten war für sie zuvor ein großes Hindernis in einem Finanzsystem, das staatseigene Unternehmen stark begünstigt. Nun fließt ein Großteil der Bankkredite und -investitionen, die zuvor in den Immobiliensektor flossen, in die Cleantech-Fertigung und den Cleantech-Einsatz.
Dass die Kommunalverwaltungen Investitionen in ihre Regionen lockten, führte auch dazu, dass sie häufig größere Subventionen anboten. In China ist es üblich, dass die Kommunalverwaltung eine komplette Fabrik und die dazugehörige Infrastruktur errichtet, während das private Unternehmen das Gelände dann nur für die Maschinen- und Betriebskosten nutzt.
All dies geschah zu einer Zeit, in der technologisches Lernen und Subventionen dazu führten, dass viele kohlenstoffarme Energien durch sinkende Kosten gegenüber fossilen Brennstoffen wirtschaftlich konkurrenzfähig wurden. Die Kommunistische Partei Chinas hatte schon früher „grüne“ Investitionen favorisiert. Dennoch war der Sektor zu klein, um die enorme Menge an Krediten aufzunehmen, die im Rahmen der chinesischen Konjunkturzyklen mobilisiert wurden.
Das hat sich nun geändert. Der Bau von Produktionskapazitäten für kohlenstoffarme Energie und von Eisenbahnen waren 2023 wichtige Treiber der Rohstoffnachfrage und die einzigen Investitionsbereiche, die ein nennenswertes Wachstum verzeichneten. Diese Nachfrage erklärt unter anderem, warum Chinas Stahlproduktion trotz des stetig zurückgehenden Immobilienbaus weiter gewachsen ist. Umgekehrt erklärt der steile Nachfragerückgang nach Rohstoffen aus dem Immobilien- und konventionellen Infrastruktursektor, warum die rasante Expansion kohlenstoffarmer Energiesektoren – und deren Rohstoffnachfrage – nicht zu einem Preisanstieg geführt hat.
Die beispiellosen Investitionen in Lieferketten zur Herstellung kohlenstoffarmer Technologien bedeuten auch, dass China eine große ökonomische Wette auf den Erfolg der globalen Energiewende gesetzt hat.
Politischer Kampf um die Klimaziele
Jetzt, da der Ausbau kohlenstoffarmer Energien das erforderliche Ausmaß erreicht hat, um Chinas Emissionen zu senken, lautet die wichtigste Frage: Wird sich das Wachstum fortsetzen?
Chinas kohlenstoffarmer Energieboom resultierte aus dem Zusammentreffen zahlreicher Faktoren: Es gab und gibt ein klares politisches Bekenntnis und eine klare Richtung. Der schrumpfende Immobilienmarkt gab einen Schub und eine Chance für die Umlenkung von Kapital und Investitionen in den Sektor der erneuerbaren Energien. Technologisches Lernen und eine aggressive Industriepolitik verbesserten die Qualität und senkten die Kosten bis zu dem Punkt, an dem der Markt für kohlenstoffarme Energietechnologien schnell zu wachsen begann.
Zwar hat die Investitionswelle im verarbeitenden Gewerbe zu erheblichen Überkapazitäten unter anderem bei der Produktion von Solarpaneelen, Batterien und Elektrofahrzeugen geführt, wobei das Ausmaß dieses Überschusses vom Tempo der globalen Energiewende abhängt. Aber diese Überkapazitäten dürften durch Konsolidierungen und Ausfälle einzelner Akteure behoben werden. In der Zwischenzeit werden die Preise für CO2-arme Energieausrüstung weiter sinken.
Die größte politische Herausforderung wird sich erst dann stellen, wenn CO2-arme Energie die Nachfrage nach Kohle und Kohlestrom erheblich einschränkt. Dieser Strukturwandel bedroht die Interessen der Kohleindustrie und jener Kommunalverwaltungen, die stark mit den Kohlesektor verbunden sind. Von diesen Akteuren steht zu erwarten, dass sie sich dem Übergang widersetzen.
Als Nachfragerückgang und Kapazitätserweiterungen 2015 zu Überkapazitäten bei der Kohle-verstromung führten, argumentierte die Kohlelobby mit Erfolg, dass die Einführung kohlenstoffarmer Energie zu schnell erfolgt sei. Infolgedessen sank zwischen 2015 und 2019 die Rate der Kapazitätserweiterungen im Bereich CO2-armer Energie, wodurch mehr Platz für überschüssige Kohlekapazitäten zur Stromerzeugung geschaffen wurde.
Ein ähnliches Tauziehen droht auch jetzt, da sowohl Kohle als auch CO2-arme Stromerzeugungskapazitäten weiter ausgebaut werden und um die Befriedigung begrenzter Nachfragesteigerungen konkurrieren. Die chinesische Regierung und ihre Berater argumentieren, dass neue Kohlekraftwerke nicht zu einem Anstieg der Emissionen führen, da sie für einen flexiblen Betrieb bei geringer Auslastung genutzt werden.
Mit den chinesischen Klimazielen harmoniert diese Überzeugung nicht. Doch das ändert wenig daran, dass Chinas finanzieller Anteil an einer globalen Dekarbonisierung immer größer wird.
Übersetzung: Rainer Land. Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung der englischen Originalpublikation, die auch alle Links und Verweise enthält. Eine ausführlichere Studie: China's Climate Transition: Outlook 2023, 27 November 2023. Authors Lauri Myllyvirta, Qi Qin, Chengcheng Qiu, Xinyi Shen. CREA (Centre for Research on Energy and Clean Air) and Heinrich Böll Foundation.