Memo

Chance für Europa: Das Undenkbare tun

| 06. März 2025
Kishore Mahbubani - IMAGO / Belga

Ein singapurischer Diplomat fordert die Europäer auf, „das Undenkbare zu tun“. Aber ist die real existierende EU zu einem großen strategischen Wurf in der Lage? Oder wird sie die Fassade der transatlantischen Einheit trotz offener Demütigung aufrechterhalten?  

Mit Recht sind die Europäer stolz auf ihre lange Tradition der Gedankenfreiheit. Wer jedoch die folgenden drei Axiome der europäischen Politik hinterfragt, denkt das „Undenkbare“ und stößt auf massive Gegenwehr. 

Axiom Nummer 1 ist das unverbrüchliche transatlantische Bündnis. Die USA ist die den Europäern wohl gesonnene Schutzmacht, die sie mithilfe der NATO militärisch vor äußeren Feinden schützt und das konfliktreiche Verhältnis der europäischen Staaten untereinander befriedet. Im Gegenzug tragen die Europäer die amerikanische Politik weitgehend – mit einigen Ausreißern – mit, auch wenn sie nicht immer den eigenen Interessen entspricht. Unterm Strich ist das Ergebnis für beide Seiten positiv.

Axiom Nummer 2 ist die russische Gefahr. Putins Absicht ist es, ein autoritär geführtes großrussisches Reich zu errichten. Die NATO-Osterweiterung war deswegen zum Schutz der osteuropäischen Staaten unabdingbar. Der Sieg im Ukrainekrieg ist für Europa eine Überlebensfrage, denn Putins imperialistische Armee wird immer weiter nach Westen marschieren, wenn sie nicht in der Ukraine aufgehalten wird.

Der Sieg ist möglich, den Putins Macht steht wirtschaftlich auf tönernen Füßen und die NATO-Staaten sind Russland militärisch weit überlegen. Jede Verhandlungsbereitschaft von westlicher Seite würde von Putin als Schwäche angesehen und ausgenutzt werden. Es war ein schwerer Fehler, sich vom russischen Erdgas abhängig zu machen und auf den Traum eines von Lissabon bis Wladiwostok reichenden Europas zu setzen, den Putin in seiner gefeierten Bundestagsrede von 2001 heraufbeschwor.

Axiom Nr. 3 ist der notwendige Kampf zur Verteidigung der Demokratie gegen die Autokraten dieser Welt. Die Europäer haben die Verpflichtung, die freiheitlich-demokratischen Werte weltweit durchzusetzen. Es ist unsere moralische Pflicht, nach Putins Völkerrechtsbruch die Ukraine zu unterstützen und Putin zu bestrafen. Im Inneren bedrohen rechtspopulistische Parteien mit ihren nationalistischen, rassistischen und faschistischen Programmen die Demokratie. Dabei liegen sie sowohl mit den trumpschen MAGA-Unterstützern als auch mit dem konservativen putinschen Russland auf einer Linie. Demokraten müssen mit allen Mitteln gegen diese Bedrohungen vorgehen; so zum Beispiel die Korridore der Meinungsäußerung kontrollieren und einschränken, damit russische Propaganda und faschistisches Gedankengut nicht frei in den sozialen Medien kursieren können. Schon undemokratische Gedanken und Worte sind als fake news und hate speech zu ahnden, denn aus Beidem könnte leicht eine böse Tat werden.

Das, was nicht sein darf, materialisiert sich

Und nun der Schock: US-Außenminister Marco Rubio spricht im Interview von der Realität einer multipolaren Welt, in der verschiedene konkurrierende souveräne Staaten für ihre gemeinsamen Interessen zusammenarbeiten und ihre Konflikte friedlich managen müssen. Vizepräsident J.D. Vance redet in München von seiner Sorge über die fehlende Meinungsfreiheit in Europa, die den radikalen Politikwechsel verhindert, den sich viele Europäer wünschen. Und kritisiert die europäische Einmischung in die rumänischen Wahlen.

Verteidigungsminister Pete Hegseth erklärt den Europäern, dass sie ihre Verteidigung künftig selbst finanzieren müssen, weil die USA nun andere Prioritäten hätten. Die Außenminister Russlands und der USA sprechen ohne europäische Beteiligung über die Normalisierung ihrer Beziehungen einschließlich „der Aufhebung einseitiger Hindernisse, die von der vorherigen US-Regierung geerbt wurden und eine für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit in den Bereichen Handel, Wirtschaft und Investitionen behindern.“ Trumps Sonderbeauftragter Steve Witkoff spricht davon, dass der russische Überfall auf die Ukraine provoziert worden sei. Zum dritten Jahrestag des Einmarschs verabschiedet der UN-Sicherheitsrat bei fünf europäischen Enthaltungen eine Resolution, in der Russland erstmals nicht verurteilt wird. Ein russischer Sieg im „ukrainischen Fegefeuer“ ist inzwischen mehr als wahrscheinlich. Und Selenskyj wird nach einer vehementen Auseinandersetzung mit Trump und Vance aus dem Weißen Haus geworfen. Trumps Ankündigung, jegliche Unterstützung zu stoppen, wurde teilweise bereits umgesetzt, inzwischen aber ein Treffen zwischen Selenskyj und Vertretern der US-Regierung in Saudi-Arabien angekündigt.

Was gerade passiert, ist die plötzliche Konfrontation mit dem Undenkbaren. Das, was nicht sein kann, weil es nicht sein darf, hat sich materialisiert. Gnadenlos und radikal stellt der neue Sheriff alle europäischen Axiome in Frage. Die Reaktionen in Europa erinnern an einen hysterischen Hühnerhaufen: die allgemeine Empörung über Vance’ Einmischung in die europäische Politik; die EU-Außenpolitikbeauftragte Kallas, die befindet, „Trump redet Putin nach dem Maul“; das weitere EU-Sanktionspaket gegen Russland; die vorerst vergeblichen Versuche Macrons, Stamers und Selenskjys, die USA über Sicherheitsgarantien für in der Ukraine stationierte europäische Friedenstruppen weiterhin zu involvieren.

Vertreter 18 europäischer Staaten und Kanadas treffen sich mit Selenskyj in London und versprechen ihm die für die Fortführung des Krieges erforderliche militärische und finanzielle Unterstützung, trotz ihrer – gelinde gesagt – angespannten eigenen Finanzlage. „You are never alone, dear President“, tweetet Ursula von der Leyen, und „Enough of Trump’s scaremongering nonsense about a third world war“ ist im britischen Guardian zu lesen. Alle sind sich einig: Europa braucht mehr Geld für die Rüstung. Die bisher so heilige Schuldenbremse muss gelockert werden. Sogar Eurobonds sind für diesen Zweck im Gespräch. Nur eines kommt nicht vor: Verhandlungen mit Russland.

Natürlich ist es für Europa bitter, wenn es von einem amerikanischen Präsidenten für die willentliche Befolgung der langjährigen Politik seiner Vorgänger getadelt wird und die neue Realität vor Augen geführt bekommt: Die EU hat aufs falsche Pferd gesetzt. Das desaströse Ergebnis: In Saudi-Arabien wurden die entscheidenden Weichen für die künftige europäische Sicherheitsordnung gestellt – und kein Europäer saß mit am Verhandlungstisch. Das hat es in der langen Geschichte des Kontinents noch nie gegeben. Wir scheinen gerade in unser eigenes “Jahrhundert der Demütigung“ einzutreten.

Dennoch ist Zurückhaltung gegenüber der trumpschen Agenda angebracht, die angesichts seines eruptiv-erratischen Verhaltens ohnehin niemand wirklich versteht. Mit Vorsicht sind Trumps Äußerungen und die seines Personals zu genießen. Ob Vances Appell für die Meinungsfreiheit auch für Kritiker Israels und Elon Musks gilt? Ob sich hinter Rubios Anerkennung einer multipolaren Welt nicht lediglich die realistische Einsicht verbirgt, dass Russland nicht besiegt werden kann, und die Großmächte einfach bestimmte Einflusssphären unter sich aufteilen? Keineswegs muss das bedeuten, dass die USA ihren Anspruch aufgegeben haben, Weltmacht zu sein. Was auch immer Trump und seine MAGA-Mitstreiter tun, es wirkt stets widersprüchlich.

Dass die europäische Welt durch more of the same wieder in Ordnung gebracht werden kann, ist hingegen kaum realistisch. Amerikas militärischen Part zu ersetzen, wird – wenn überhaupt möglich – Jahre dauern. Mehr Geld reicht da nicht, wenn laut Draghi-Bericht über 70 Prozent der europäischen Rüstungsgüter importiert werden, vorwiegend aus den USA. Kann die EU geplante Industriepolitik? Die akute Lücke der Ukraine-Unterstützung wird durch die aktuellen Aufrüstungspläne nicht geschlossen.

Das Undenkbare denken – Souveränität als Chance

Warum also nicht dem Rat des singapurischen Diplomaten Kishore Mahbubani folgen und das Undenkbare denken? Vieles an den oben genannten Axiomen hält einer genaueren Überprüfung nicht stand. Welche Richterin, welcher Lehrer würde einen Schläger hart bestrafen und aus der Gemeinschaft ausschließen, ohne vorher den Kontext zu überprüfen, in dem die Schlägerei stattfand? Wie verträgt sich die Vorstellung eines schwachen Russlands mit der Angst vor einer russischen Armee, die ganz Europa erobert? Ein ernsthafter Blick auf die Geschichte würde zudem ergeben, dass die Axiome komplexe Entwicklungen viel zu stark vereinfachen, dass bei Berücksichtigung aller Faktoren andere Schlussfolgerungen möglich sind und Handlungsalternativen sichtbar werden.

Angela Merkel stimmte 2008 wider besseres Wissen der NATO-Einladung zum Beitritt der Ukraine zu. Nach 2015 sanktionierten Deutschland und Frankreich Russland wegen der Nichteinhaltung der Minsk-Vereinbarungen, über die eine friedliche Lösung des Ukraine-Konflikts möglich gewesen wäre. Auf Kiew hingegen wurde kaum Druck ausgeübt. Noch am Vorabend des Krieges, im Dezember 2021, hätten sich die europäischen NATO-Mitglieder ernsthaft mit den russischen Vertragsentwürfen zur europäischen Friedensordnung auseinandersetzen können. Und 2022 hätte Europa die Ukraine zur Fortsetzung der Istanbul-Verhandlungen drängen können.

Auch die Zukunft ist nicht deterministisch: Es ist möglich, das Undenkbare nicht nur zu denken, sondern auch zu tun. Wer aus dem Elternhaus auszieht, oder – wie wir Europäer – vom verhassten Stiefvater unsanft auf die Straße gesetzt wird, bekommt eine einmalige Chance: Niemand muss das Leben seiner Eltern nachahmen. Ein eigenes Leben – Souveränität – ist möglich.

Das Undenkbare tun

Spätestens, wenn die USA mehr und mehr Sanktionen aufheben und die Fluggesellschaften beider Staaten wieder Direktflüge zwischen New York und Moskau anbieten, während die europäischen vom Boden aus traurig auf die Kondensstreifen schauen; spätestens, wenn sich der Niedergang der europäischen Industrie aufgrund hoher Energiekosten fortsetzt, werden wir Europäer uns fragen: setzen wir freiwillig den Gang ins Jahrhundert der Demütigung fort oder nehmen auch wir den Dialog mit Russland auf, um den Krieg zu beenden und zu einem tragfähigen europäischen Frieden zu kommen?

Dazu bedarf es der realistischen Einschätzung des gegenwärtigen Kräfteverhältnisses. Und der Anerkennung, dass nur ein Deeskalationsprozess, mit dem beide Seiten leben können, Aussicht auf Erfolg hat. Jeder Staat wird aggressiv, wenn er sich bedroht fühlt. Deswegen können Sicherheitsgarantien in der von Selenskyj, Großbritannien und der EU-Führung angestrebten Form, die nur auf Drohungen der Eskalation setzen, nicht funktionieren. Notwendig ist der schrittweise Abbau der Angst durch beide Parteien und der geduldige Aufbau von gegenseitigem Vertrauen. Sehr wahrscheinlich funktioniert das nur über die Einschaltung neutraler Staaten und/oder der UN.

Der Weg zu einem dauerhaften Frieden in Europa führt nur über eine europäische Sicherheitsordnung, in die auch die Staaten Eurasiens und Afrikas mit einbezogen sind. In diesem Zusammenhang könnte sich Europa an die Zeiten der Entspannungspolitik erinnern. Es war einst Mainstream, dass Frieden nicht mit immer mehr Waffen geschaffen werden kann. Viele derjenigen, die an solchen Prozessen der Entspannungspolitik und Annäherung beteiligt waren, leben noch und brennen darauf, ihre Erfahrungen weiterzugeben. Es gab Zeiten, da wurden ganze Waffensysteme verschrottet, weil es gelungen war über gegenseitige Kontrollen Vertrauen aufzubauen.

Ob im Sicherheitskonzept der Zukunft eine gemeinsame europäische Armee sinnvoll und machbar wäre, ist eine offene Frage. Für was für ein Szenario eine solche Armee sich rüsten müsste, ebenso. Die entscheidende Rolle in einem Sicherheitskonzept muss jedoch die Diplomatie spielen. Ohne sie ist militärische Stärke wenig wert. Nur dann ist es möglich, die Gelder und vor allem Ressourcen, die heute und morgen in die Aufrüstung fließen (sollen), für all die notwendigen Projekte zu verwenden, die den Europäern ein gutes Leben heute und in der Zukunft sichern.

Undenkbar? Was ist mit dem Vorschlag des chinesischen Außenministers Wang Yi, der in seiner Rede in München vorschlug, die chinesische Belt-and-Road-Initiative mit der der Global-Gateway-Strategie der Europäischen Union zu verknüpfen. Oder der Idee Mahbubanis, sich gemeinsam mit den Chinesen massiv an der Industrialisierung Afrikas zu beteiligen? Das wären wirklich Investitionen für Europas langfristige Sicherheit.

Denn was ist, wenn die Bevölkerung in Afrika weiter so stark wächst, dass die Folgen des Klimawandels in einigen Jahrzehnten tatsächlich wahre Völkerwanderungen auslösen? Je schneller in Afrika die Infrastruktur entwickelt wird, umso eher verlangsamt sich das Bevölkerungswachstum und verbessert sich die Nahrungsmittelversorgung. Schon heute werden dort mehr als genügend Lebensmittel produziert, der innerafrikanische Handel aber durch die mangelnde Verkehrsinfrastruktur beschränkt.

Vielleicht könnte Europa von der Zusammenarbeit mit China ebenso lernen, wie die Chinesen in der Vergangenheit von den industriellen Gemeinschaftsunternehmen mit westlichen Firmen. Ganz nach dem Unternehmer und Kommentator für Wirtschaft und Geopolitik, Arnaud Bertrand:

„Am Ende könnte ein Europa stehen, das zum ersten Mal seit 1945 von der amerikanischen Vormundschaft befreit ist und ein neues multipolares Gleichgewicht mit China und Russland herstellt – und Trumps Versuch, Europa auszugrenzen, zum Katalysator macht, der Europa endlich strategische Autonomie ermöglicht.“