Das intellektuelle und affektive ‚Betriebssystem‘ der Linken
In Der Krieg und die Linken wirft Peter Wahl letzteren einen „Überschuss an affektgesteuertem, emotionalem und moralbasiertem Umgang mit dem Ukraine- und Nahostkrieg“ vor. Seine Kritik ist akzentuiert, aber eigentlich nur gutgemeint.
Peter Wahl bezeichnet sein jüngst erschienenes Buch Der Krieg und die Linken als Flugschrift. Zum Verteilen vor der Mensa ist diese allerdings zu lang, für ein Buch dafür ziemlich kurz. Das ist in diesem Fall insofern ein Vorteil, als Wahl komplexe Sachverhalte und Argumentationslinien kurz und knapp auf den Punkt bringt. Doch nicht allein das macht sein Buch lesenswert.
Zweck einer Flugschrift ist es, möglichst viele Menschen von einem politischen Anliegen zu überzeugen, zumindest aber ihr Interesse zu wecken, sich genauer damit auseinanderzusetzen. Dieses Anliegen wird abgeleitet aus der Darstellung eines Problems, der komprimierten Analyse seiner Ursachen und letztlich möglicher Lösungswege. Was also ist das Anliegen des Autors? Der letzte Satz des Buches könnte klarer nicht sein: „Auch wenn uns, um noch einmal Brecht zu zitieren, ‚die Worte bereits wie Asche in unserem Mund sind‘: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“
Peter Wahl ist schon durch die eigene Biografie prädestiniert für die Materie. Als Politologe, der Attac mitbegründet hatte und in jungen Jahren selbst in linken Bewegungen sozialisiert worden ist, bedauert er, dass die gesellschaftliche Linke (verstanden als diejenigen, die die soziale Frage in den Mittelpunkt stellen und tendenziell kapitalismuskritisch sind) in der Bewertung des Ukraine-Krieges zersplittert ist. Ein Teil von ihr – die „bellizistische“ Linke – unterstützt offen den Konfrontationskurs der Regierung.
Als wäre die Lage nicht auch so schon schwierig genug – sowohl für die schwächelnde Partei als auch ihre Vorfeldorganisationen. Die AfD befindet sich im Aufschwung und „geriert“ sich mit ihrer Forderungen nach einem Stopp der Waffenlieferungen und Friedensverhandlungen mit Russland als „Friedenskraft“. Auch das erneute Aufflammen des Nahostkonflikts hat neue Gräben gerissen. Die wichtigsten inner-linken Streitpunkte – zum Ukraine-Krieg zu Waffenlieferungen, zu Nahost und der Hamas – listet Wahl im ersten Kapitel kurz auf.
In der Kriegsfrage unterteilt der Autor die Linke grob in vier Hauptströmungen:
- die „bellizistische“ Linke, prominent vertreten durch den thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow und den Berliner Kultursenator Lederer;
- die traditionelle Friedensbewegung der „Ostermärsche“ und des „Bundesausschusses Friedensratschlag“ sowie zuletzt Alice Schwarzers und Sarah Wagenknechts „Manifest für den Frieden“;
- das stärker anti-russisch geprägte „Netzwerk Friedenskooperative“, dessen Zusammenarbeit mit neuen Anti-Kriegsprotesten aus nicht-linken Netzwerken zu heftigen Auseinandersetzungen geführt habe;
- und die antikapitalistische radikale Linke, die sich imperialismuskritisch gleichzeitig von der NATO und von Russland distanziert.
Spätestens an dieser Stelle, könnte man meinen, werden diejenigen, die Wahls friedenspolitische Vorstellungen nicht teilen, oder gar friedensbewegte Menschen, die sich nicht als links definieren, das Büchlein zur Seite legen. Doch Weiterlesen lohnt sich.
Denn so schwierig es in diesen Zeiten sein mag: Eine mächtige und breite Friedensbewegung, vergleichbar mit den Protesten gegen den Nato-Doppelbeschluss in den 1980 Jahren, kann nur dann entstehen, wenn sich die Linke in grundlegenden Fragen einig ist. Notwendig dafür wäre ein Dialog, in dem die Beteiligten sich zuhören und sich darum bemühen, die unterschiedlichen Positionen nachzuvollziehen. Dazu leistet das Buch einen wichtigen Beitrag.
Herausfordernd ist es allemal. Denn was gibt es seit Monty Pythons „Leben des Brian“ Neues zu einer zerstrittenen Linken zu sagen? Und Linke, die mit der Regierung einen Burgfrieden schließen? Alles schon dagewesen, man erinnere nur an das Abstimmungsverhalten der SPD am Vorabend des Ersten Weltkriegs.
Doch von Fatalismus rät Wahl ab. Was die widersprüchliche Positionierung der Linken zum Krieg betrifft, ließe sich einiges aus der Geschichte lernen. Und so nimmt er die Leser mit auf einen historischen Streifzug durch historische Problemkonstellationen, denen Linke immer wieder begegneten: dass „Nationalismus / Patriotismus und ähnlich identitäre Gemeinschaftskonstruktionen, heute z.B. die EU, oder der Wertewesten – […] in kriegerischen Konflikten schnell überwältigend stark werden [können]“. Ein Phänomen, das Linke immer wieder unterschätzen würden, so Wahl, und gegen das sie selbst keineswegs immun sei. „Nüchterne Analyse und pragmatische Abwägung“ gerieten im geistigen Burgfrieden „regelmäßig unter die Räder.“
Indes ist Wahl kein Träumer. Er macht sich keine Illusionen, dass auch unsere Zukunft durch Kriege geprägt werden wird. Umso mehr müsse die Linke, so schreibt Wahl ihr ins Stammbuch, weitaus mehr Sachverstand entwickeln als sie bisher an den Tag lege. Diese Defizite als auch die wenig fruchtbare Auseinandersetzung innerhalb der Linken habe mit dem „intellektuellen und affektiven ‚Betriebssystem‘“ zu tun, das sie „angesichts des Ukraine-Krieges, des Kalten Kriegs 2.0 und des neuen Nahostkriegs antreibt“. Es zeichne sich aus durch
- „Fremdeln“ gegenüber den Machtmechanismen und Dynamiken der Geopolitik.
- das weitgehende Fehlen einer eigenständigen Analyse der Genese des Ukraine-Konflikts, der in den Augen vieler erst mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24.2.2022 begann,
- den „Überschuss an affektgesteuertem, emotionalem und moralbasiertem Umgang mit dem Ukraine- und Nahostkrieg“ sowie
- Unkenntnis des ukrainisch-russischen Verhältnisses und Ansichten, die auf Basis der „interessengeleiteten Expertise aus dem Mainstream“ und Informationen der „staatstragenden Medien“ geformt sind.
Wahl will zum Verständnis dieses „Betriebssystems“ beitragen. Es sei an der Zeit, „wieder intellektuelle Gegenmacht gegen Bellizismus und Krieg aufzubauen“. Dazu liefert er in zwei kurzen aber umso intensiveren Kapiteln Exkurse zur Geopolitik und zum Ukraine-Konflikt. Dass die Linke geopolitische Zusammenhänge aus der Diskussion um den Ukraine-Krieg ausblende, sei eine „intellektuelle Bankrotterklärung“. Und so streift Wahl die Dynamik der Geopolitik, umreißt die (unipolare oder multipolare) Weltordnung und analysiert die Machtressourcen der jeweiligen Player: USA, China, Russland, EU und Globaler Süden. Dass die Hintergründe des Ukraine-Konflikts verschwiegen würden, sei ein „bellizistisches Leitmotiv“, folgert der Autor. Er beschreibt den Doppelcharakter dieses Konflikts als inner-ukrainisches und geopolitisches Phänomen.
Aus all dem schließt Wahl, dass Friedenspolitik nicht auf Wut und Empörung gründen darf. Deswegen käme es darauf an, immer wieder selbst-kritisch zu hinterfragen, ob eigene Argumente auf Vernunft oder Gefühlen gründeten. Politik auf Basis moralischer Bewertungen führe zum „Kohlhaas-Syndrom“ – die „anfangs legitime Verfolgung eines moralisch und juristisch legitimen Anspruchs kann in Unmoral und Unrecht abkippen“ und führt am Ende zur Selbstzerstörung.
Der Elefant im Raum der Linken, so Wahl, sei ihr Verhältnis zu Russland, was zugleich schwierige Fragen aufwerfe: es gäbe eine lange anti-russische Tradition im linken Spektrum, die nicht zwingend aus der dortigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung folge. Ungelöste Fragen seien, ob Russland ein imperialistisches Land sei und wie man den im Land herrschenden „Autoritarismus“ bewerte. Wie wirkt sich die innere Verfasstheit eines Systems auf dessen eigene internationale Politik und die der anderen Player aus? Wahl sieht hierin ein Dilemma emanzipatorischer Politik: der Konflikt zwischen dem Souveränitätsprinzip und dem Prinzip der Nichteinmischung.
Trotz aller bedrohlichen Entwicklungen der Gegenwart, die Friedensbewegung stehe keineswegs auf verlorenem Posten, glaubt der Autor. Wie aber könnte eine zukunftsfähige, linke außenpolitische Strategie aussehen, die auf Prinzipien der „Diplomatie, Dialog, Entspannung, Verständigung, Kooperation, friedliche Koexistenz, politischer Konfliktlösung und Völkerrecht“ gründet?
Seine Skizze einer autonomen Position der Linken zur Außenpolitik möge jeder selbst lesen. Nur so viel: Um eine kritische Auseinandersetzung mit der US-Außenpolitik kommt man mit Wahl nicht herum. Nicht, dass die Linke auf die Kritik der Politik der anderen geopolitischen Mächte verzichten, einseitig Partei ergreifen oder sich mit Machblöcken gemein machen sollte. Eine punktuelle Zusammenarbeit mit „Parteien“, die man in anderen Fragen als Gegner betrachte, sei in bestimmten Fällen angebracht.
Der Krieg und die Linken ist Kritik, Debattenanstoß und Handlungsempfehlung zugleich. Wahls Ratschlag: In einer Welt der Widersprüche muss die Linke lernen, angemessene Wege zu finden. Das gelte beim Spannungsfeld der Souveränität und Menschenrechte genauso wie in der Frage von strategischer Autonomie und „klassischer Großmachtpolitik“.